Café Deutschland

Im Gespräch mit der ersten Kunstszene der BRD

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Heinz Mack

Heinz Mack

Heinz  Mack

Heinz Mack

Mönchengladbach, 27. April 2016

Franziska Leuthäußer: Sie haben nach dem Krieg Ihre Kindheit auf dem Land verbracht. Wie kamen Sie nach dem Abitur zu der Entscheidung: „Ich will Künstler werden.“ Wieso war die Priorität nicht: „Ich will Geld verdienen“?

Heinz Mack: Ich bin nicht nur auf dem Land groß geworden. Ich bin auf dem Land geboren, in einem kleinen Ort, Lollar, in der Nähe von Gießen. Früher war das wirklich ein verschlafenes kleines Bauerndorf. Heute haben sie sogar den Titel einer Stadt. Es war eine sehr bescheidene Umgebung, in der ich aufgewachsen bin. Der Aufenthalt war bedingt durch die Bombenangriffe. Ich habe in Krefeld noch eine sehr große Bombardierung erlebt. Es gab fast 2.000 Tote und viele Schwerverletzte. Nachdem die Bomber abgezogen waren – das Geräusch war so mächtig, dass man wusste, jetzt fliegen sie wieder nach Hause –, stand ich auf der Straße vor unserem kleinen Wohnhaus und habe diesen ganzen Lichterzirkus am Himmel beobachtet. Ich fand das faszinierend. Das war mein erstes großes Erlebnis mit Licht und Bewegung.

Weil die Situation sehr dramatisch wurde, haben meine Eltern entschieden, uns zu evakuieren. Meine Schwester und ich sind dann zu unseren Verwandten nach Lollar gekommen und dort auch zur Schule gegangen. Mein Vater ist bereits 1939, sehr früh also, eingezogen worden und war dann entsprechend lange in Frankreich unterwegs. Meine Mutter blieb in Krefeld, um das kleine Haus zu unterhalten. Dort wurden auch Leute einquartiert, die ausgebombt waren. Man kümmerte sich so gut es ging um Hab und Gut und die Familienmitglieder. Meine Schwester und ich waren in dieser dörflichen Umgebung eigentlich sehr gut untergebracht. Zeitweise waren wir, glaube ich, die einzigen Bewohner von Lollar, die Hochdeutsch sprachen.

Als ich zehn Jahre alt war, sind zwei meiner Schulfreunde nach Gießen auf die höhere Schule, aufs Gymnasium, gewechselt. Fast 14 Tage später bin ich mit einem kleinen Taschengeld, ohne Auftrag meiner Eltern und auch ohne den Beistand von Onkel, Tante oder Oma, nach Gießen in die Schule gefahren und habe gesagt: „Ich möchte hier auch angemeldet werden!“ Zum Kriegsende sind wir in einem ganz ordinären Güterwagen mit offener Schiebetür wieder zurückgewandert. Nach der Evakuierung fand die zweite Migration von Lollar nach Krefeld statt. Sogar unser Klavier ist mitumgezogen. Es war das einzige Klavier im ganzen Dorf. Mein Vater hatte es eigens für mich bestellt, damit ich in Gießen Klavierunterricht bekommen konnte. Der Unterricht wurde in Krefeld fortgesetzt und hat mich – im Nachhinein sage ich das natürlich ein bisschen selbstkritisch – nicht unbedingt beglückt. Ich hatte einen hervorragenden Lehrer, Prof. Dr. von Brandis, schon zu seiner Zeit ein anerkannter Musikpädagoge von Rang. Er hatte wenige Schüler und die nahm er sehr hart ins Gericht. Ich hatte den Eindruck, dass die anderen Schüler weniger Schwierigkeiten hatten, das Klavierspiel zu erlernen als ich. Ich habe immer wieder Fehler gemacht. Immer wieder und wieder. Obwohl ich mich bemüht habe, sie zu vermeiden. Eines Tages, als ich darauf wartete, wieder ans Klavier gesetzt zu werden, sah ich durch die offene Tür, wie dieser von mir hochbewunderte Lehrer mit einem anderen Schüler, der noch größer und bedeutend schöner war als ich, posierte. Der Begriff Homosexualität war mir damals unbekannt, aber der Anblick hat mich außerordentlich irritiert und schockiert.

Ich musste immer mit dem Zug fahren. Der Klavierunterricht wurde am frühen Abend gegeben, da kam ich oft sehr spät abends nach Hause. Lollar war damals noch unter Sperrstunde. Es war alles dunkel. Und eines Abends kam ein sehr großer mächtiger amerikanischer Schwarzer in Uniform – er erschien mir damals dreimal größer als ich – auf mich zu und schleuderte mit irgendetwas herum. Das war, wie sich später herausstellte, eine halb zerbrochene Bierflasche. „I’ll kill you! I’ll kill you!“ rief er und wollte mir sie auf den Kopf schlagen. Ich habe im rechten Moment mit der linken Hand – weil ich in der rechten die Mappe mit den Klaviernoten hatte – abgewehrt, habe das also instinktiv richtig erfasst, aber es hatte zur Folge, dass der linke Finger anschließend lose herunterhing. Der Viehdoktor hat ihn nach Mitternacht erst einmal notdürftig behandelt und mich am frühen Morgen, da war es noch fast dunkel, in die Veterinärklinik gebracht. Genau die richtige Klinik für eine Pianistenhand!

Die Tatsache, dass ich vor meinem Abitur mindestens ein oder zwei Stunden am Tag habe üben müssen, hatte zur Folge, dass ich kaum Zeit fand, um meine Prüfungen vorzubereiten. Und da habe ich gedacht: „Das soll nicht mein Leben sein!“ Ich hatte auf einmal dieses selbstkritische Bewusstsein: „Es reicht nicht, um Pianist zu werden.“ Und Musiklehrer wollte ich nicht werden. Denn die Musiklehrer, die ich an der Schule erlebt habe, waren mir nicht gerade Vorbilder. Ich verabschiedete mich also von dieser Vorstellung einer Pianistenkarriere. Und dann habe ich überlegt: „Was ist jetzt die Alternative?“ Hinzu kam, dass mein Vater noch nicht aus dem Krieg zurückgekehrt war und auch nie zurückkehren sollte, weil er im Gefangenenlager an Typhus starb. Meine Mutter war also ohne Geld und sagte: „Wenn du keinen Beruf ergreifst oder ein Studium hinter dich bringst, womit du etwas verdienen kannst, brichst du mir das Herz!“ Das waren keine leichten Zeiten. Einmal saßen wir zu dritt am Esstisch, meine Schwester, meine Mutter und ich, als ihr plötzlich die Tränen in den Augen standen. Ich oder meine Schwester Liselotte fragten: „Mami, warum weinst du?“ Da sagte sie ganz leise vor sich hin: „Weil ich euch nicht satt bekomme.“ Also habe ich gesagt: „Dann werde ich eben studieren.“ Düsseldorf war die nächste Stadt. Von Krefeld sind es gerade mal 20 Kilometer. Da fuhr eine sogenannte „K-Bahn“. K steht wohl für Krefeld. Eine richtige Straßenbahn. Ich bin also mit dem Taschengeld zur Akademie gefahren und habe gesagt: „Ich hoffe, dass ich bald mein Abitur mache, und ich möchte mich gerne bewerben.“ Ich habe mich also noch vor dem Abitur an der Akademie beworben und bin sofort angenommen worden. Das war wirklich erstaunlich. Da waren viele Studenten, zum Teil zehn Jahre älter als ich, die waren vorher im Krieg und wollten möglichst bald ein Studium beginnen. Die Hälfte der Kunstakademie lag damals noch in Trümmern.

Wie kamen Sie zu der Entscheidung: „Ich gehe an eine Kunstakademie und studiere Kunst“? Was war das Bild des Künstlers, das Sie vor Augen hatten? Welche Vorstellung hatten Sie, was Sie werden würden, wenn Sie diese Kunstakademie hinter sich hätten?

Das weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, ich hatte unbewusst die Vorstellung, etwas Kreatives machen zu wollen und damals stellte sich die Frage: „Was kann ich machen, um etwas zu gestalten?“ Da ist die Auswahl natürlich nicht sehr groß.

Wie Sie wiederholt sagten, war die wirtschaftliche Situation Ihrer Familie schlecht, Ihre Mutter bat Sie, etwas „Vernünftiges“ zu machen, Geld zu verdienen. Nun hat aber die Kunst nicht gerade den Ruf des garantierten beruflichen Erfolgs, im Gegenteil eher den des brotlosen Erwerbs. Was also zog Sie damals an, was bewegte Sie dazu, in dieser Zeit eine Mappe für die Bewerbung an der Kunstakademie anzufertigen?

Ich muss ein künstlerisches Empfinden gehabt haben. Sonst hätte auch mein Klavierlehrer – der, wie gesagt, ein außerordentlich anspruchsvoller Mann war und einen guten Ruf genoss – mich nicht leidenschaftlich gedrängt, Pianist zu werden. Ich muss wohl ein gewisses Talent gehabt haben. Ich habe mich von der Vorstellung verabschiedet, Pianist zu werden, weil ich möglicherweise intuitiv in Zweifel gezogen habe, diesem hohen Anspruch gerecht werden zu können. Und natürlich habe ich gesehen und gehört, was meine Mitschüler studieren wollten: Medizin, Jura und so weiter. Da war für mich klar: Das kommt nicht in Frage. Obwohl ich als junger Mensch mit 15, 16, 17, 18 Jahren kaum gezeichnet oder gemalt habe, aber wenn, hatte ich sehr viel Freude daran, und ich hatte auch das Gefühl, dass es mir etwas bedeutet. Also war es einen Versuch wert. Irgendwie musste ich ja einen Anfang machen. Ich würde nicht sagen, dass ich mich so unglaublich genial und begabt fühlte, dass ich unbedingt an die Akademie musste. Und es stellte sich natürlich die Frage: „Kann man daraus einen bürgerlichen Beruf machen?“ An der staatlichen Akademie konnte man zum Kunsterzieher ausgebildet werden. Eine Zeit lang war ich der jüngste Studienrat von Nordrhein-Westfalen. Ich wollte natürlich möglichst bald Geld in die Hand bekommen. Wollte und musste. Nicht nur meiner Mutter zuliebe. Ich habe auch sehr früh geheiratet.

Als höherer Beamter bin ich dann zum Kultusminister gegangen und habe sagt: „Ich kündige!“ – „Haben Sie reich geerbt?“ – „Nein, ich habe keine Lust mehr zu unterrichten.“ Alle meine Schüler, die mich heute noch kontaktieren, sagen: „Sie waren der beste Lehrer, den wir je hatten!“ Sie bewundern mich und lieben mich. Ich wurde oft gefragt, warum ich mich von der Schule trennte und sagte dann: „Ganz einfach: Ich möchte gerne nach New York fliegen. Ich möchte dort arbeiten und meine künstlerische Arbeit tun.“ Acht Tage nach der Kündigung war ich in New York. In den frühen 1960er-Jahren unterrichtete Heinz Mack als Kunsterzieher am Leibniz-Gymnasium und am Lessing-Gymnasium in Düsseldorf. Im Frühjahr 1964 reiste er nach New York und arbeitete dort zwei Jahre lang in einem Atelier im East Village. 1966 kehrte Mack nach Deutschland zurück. Erst zwei Jahre später bin ich wieder zurückgekommen, damals hat meine Familie sich für die Trennung von mir entschieden.

Wie lief der Bewerbungsprozess an der Akademie ab? Sie sind wirklich einfach mit Ihrer Mappe dahingefahren? Hatten Sie einen Termin?

Das sind die üblichen Dinge, dass man eine Mappe vorlegen muss. In meinem Fall war es eine Sondersituation. Man muss natürlich nachweisen können, dass man in der Lage ist, einen Dackel zu zeichnen. Wir hatten einen Dackel. Also habe ich den Dackel gezeichnet. Der ist gar nicht so schlecht gelungen. Dann habe ich eine Kaffeetasse gezeichnet. Die Kaffeetasse habe ich so gut gezeichnet, dass man notfalls daraus auch hätte eine Tasse Kaffee machen können. Kurz und gut: Ich habe mein Bestes gegeben, um überhaupt ein paar naturalistische Gegenstände zu zeichnen und auch zu aquarellieren. Einen Blumenstrauß und dergleichen mehr. Ich konnte also gewisse konventionelle Erwartungen seitens der Akademie erfüllen. Dabei haben mich eigentlich ganz andere Dinge interessiert. Weil ich immer wieder die Klaviernoten vor der Nase hatte – fast nur Mozart, Beethoven und vor allem Bach – habe ich irgendwann gesehen: „Das sind ja Strukturen.“ Diese grafischen Diagramme, die für den Musiker als musikalische Notation dienen, sah ich auf einmal als abstrakte Zeichnung. Ich hatte das unglaubliche Glück – daran können Sie auch erkennen, wie sehr ich damals als Schüler anerkannt wurde –, eine Originalausgabe von Mozart-Sonaten zu besitzen. Eine Originalausgabe! Die ist heute ein unglaubliches Vermögen wert. Ich konnte also die Originalschrift von Mozart studieren. Und diese Graphismen, dieser Duktus der Hand, der Schrift, das hat mich sehr interessiert. Ich habe also an der Akademie in der Mappe Blätter mit abgegeben, die vollkommen abstrakt waren. Strukturen, Diagramme, Raster, die ich durch ein paar sehr spontane rhythmische manuelle Bewegungen ergänzt hatte. Ich hatte irgendetwas gesehen, ich vermute von Hans Hartung Hans Hartung (1904 Leipzig – 1989 Antibes, Frankreich) war ein Künstler, der zu den Vertretern der informellen Malerei gehört. 1939 meldete er sich zur französischen Fremdenlegion, für die er unter anderem in Nordafrika und Südeuropa kämpfte. Mit seinen Arbeiten war er auf der documenta 1 (1955), 2 (1959) und 3 (1964) vertreten. 1960 erhielt er den Großen Internationalen Preis der Biennale von Venedig. , was mich damals sehr beeindruckt hat: ein deutscher Künstler, Widerstandskämpfer in Frankreich, ihm wurde ein Arm abgeschossen, und so arbeitete er mit einer Hand. Das hat mir sehr imponiert. Diese einfachen, großzügigen Gesten, der Pinselduktus, der fast japanische Qualität hatte.

Diese abstrakten Zeichnungen, die ich abgegeben habe und die sofort mit größtem Interesse aufgenommen wurden, dürften weitestgehend der Grund gewesen sein, dass ich angenommen worden bin. Das andere war die Herausforderung: „Du musst den Lehrern gegenüber beweisen, dass du in der Lage bist, naturalistisch zu zeichnen.“ Meine ersten Akte sahen aus wie vertrocknete Kartoffeln. Ich habe die Akademie später mit dem Ruf verlassen, der beste Aktzeichner zu sein. Man kann also vieles lernen. Ich habe Köpfe gezeichnet, zuletzt noch sehr von Pablo Picasso beeindruckt. Aber es hatte natürlich letztlich keinen tieferen Sinn. Es gehört einfach zu einem Akademiestudium dazu.

Sie haben damals sofort eingesehen, dass es wichtig ist, dass man das gegenständliche Zeichnen beherrscht?

Ja.

Sie sind trotzdem mit Ihrer abstrakten Kunst an der Schule etwas angeeckt?

Natürlich! Wie war denn die Kunstsituation in Deutschland damals? Die Lehrer haben vorher Panzer gezeichnet. Das waren Berichterstatter, ohne Kamera. Die liefen mit einem Stück Papier und einem Kohlestift hinter den Panzern her und haben dramatische Zeichnungen gemacht. Solche Leute waren unsere Lehrer. Ich hatte Glück, weil ich mit Ewald Mataré Ewald Mataré (1887 Aachen-Burtscheid – 1965 Büderich) war Bildhauer und Grafiker. Er wurde in den 1920er-Jahren vor allem für seine Tierplastiken bekannt. Auf Empfehlung von Paul Klee wurde Mataré 1932 Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Bereits ein Jahr später wurde er, auf Forderung der Nationalsozialisten hin, seines Amtes enthoben und seine öffentlich ausgestellten Plastiken vernichtet. Nach Kriegsende rief man ihn zurück an die Akademie. Besonderen Einfluss übte Mataré auf seinen Schüler und Assistenten Joseph Beuys aus, der ihn auch bei der Fertigstellung seines bekanntesten Werks, der Gestaltung der Kölner Domtüren, unterstützte. zusammengekommen bin, der mich eigentlich nicht akzeptieren wollte, weil ich Schullehrer werden sollte. Und das hat er abgelehnt. Einmal habe ich ihm geantwortet: „Sie sind doch auch Lehrer!“ Da war er schon beleidigt. Er hat mich dann aber trotzdem akzeptiert. Neben Erwin Heerich Erwin Heerich (1922 Kassel – 2004 Meerbusch) ist insbesondere für sein bildhauerisches Werk bekannt. Von 1945 bis 1950 studierte er bei Ewald Mataré an der Kunstakademie Düsseldorf, wo er von 1969 bis 1988 als Professor lehrte. Heerich nahm unter anderem an der documenta 4 (1968) und 6 (1977) teil. und Joseph Beuys Joseph Beuys (1921 Krefeld – 1986 Düsseldorf) wurde 1947 an der Kunstakademie Düsseldorf aufgenommen, wo er zunächst bei Joseph Enseling und anschließend bis zu seinem Abschluss als Meisterschüler 1954 in der Klasse von Ewald Mataré studierte. 1961 kehrte Beuys als Professor an die Düsseldorfer Kunstakademie zurück und betreute dort die Klasse für monumentale Bildhauerei. war ich doch eindeutig der bessere Schüler bei Mataré. Das muss man auch noch mal sagen.

Mit Heerich und Beuys waren Sie bei Mataré in einer Klasse?

Ja, ich war quasi Gast in der Klasse. Aber wir haben uns nur mit dem Rücken angeschaut. Das reichte.

Woher kam diese Abneigung?

Weil sie Dinge machten, die mich überhaupt nicht interessierten. Wenn Beuys beispielsweise an einem Christuskreuz arbeitete, das in Düsseldorf immer noch in einem kleinen Kirchturm zu sehen ist, Der romanische Kirchturm der 1891 abgebrannten Kirche St. Mauritius in Meerbusch bei Düsseldorf ist seit 1959 Mahnmal für die Toten des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Das Eingangstor sowie das Kreuz im Innenraum stammen von Joseph Beuys. oder wenn er seine kleinen Pietà-Skulpturen Joseph Beuys, „Pietà“, 1951/52. formte, da konnte ich überhaupt nichts mit anfangen. Ich hatte keine religiöse Erziehung. Im Gegenteil, ich bin von meinem Vater gebeten worden, nicht am Religionsunterricht teilzunehmen. Wenn der Religionsunterricht am Gymnasium stattfand, wurde ich auf den Schulhof geschickt. Es gab außer mir noch einen zweiten Jungen: Er hatte schwarze Haare und war sehr scheu. Sein Name war Samuelis, und er wurde in den Pausen oft gehänselt. Einmal hat man ihn sehr scharf angegriffen und wollte ihm seinen Brotbeutel aus Blech, den er an einer Schnur vor sich hertrug, abreißen, da habe ich mich sehr mutig dazwischen gezwängt und habe um mich geschlagen, um diesen Jungen zu beschützen. Dafür war er mir sehr dankbar. Mir gegenüber war er immer außerordentlich freundlich. Eines Tages kam er nicht mehr. Samuelis war Jude. Das sind alles Dinge, die ich als Kind erlebt habe. Als ich konfirmiert werden sollte – wirklich zehn Minuten vor der Konfirmation –, schlugen links und rechts die Bomben ein, und dann kam es nicht mehr dazu.

Sie haben es eben angesprochen: Die Bombenangriffe haben Sie als ein leuchtendes Feuerwerk erlebt?

Ja. Das war nicht nur lebensgefährlich, sondern es war auch ein unglaubliches Lichtspektakel. Damals habe ich zum ersten Mal gedacht: „Mein Gott, was man mit Licht alles machen kann.“ Ich gehöre zu den Leuten, die nach dem Krieg anfingen, mit Licht zu arbeiten. Heute finden überall auf der Welt Ausstellungen mit Licht statt. Das sind alles Folgeerscheinungen, die gar nicht so zufällig sind. Aus dem Weltall kann man die erleuchteten Städte sehen. Allein wenn man mit dem Flugzeug bei Nacht einen Flughafen anfliegt und aus dem Fenster schaut, diese Kostbarkeit, diese abstrakten Lichtstrukturen, die da in die Nacht fallen und sich ausbreiten. Das ist unglaublich spektakulär. Von einer unglaublichen Schönheit und Faszination. Das gehört zu meinem Leben: Mein Interesse an Licht in der Kunst und an der Bewegung, die noch dazukommt – die vierte Dimension, die Zeit spielt da auch eine große Rolle. Das hat mit dem Wunsch zu tun, die Materie zu entmaterialisieren. Das ist das eigentliche Thema meines Lebens.

Also das Lichtspektakel damals war einfach unglaublich. Heute müsste man Zehntausende ausgeben, um das zu inszenieren. Die riesengroßen Scheinwerfer! Zum Jubiläum des deutschen Künstlerklubs, in dem ich damals Mitglied war, wurde ich beauftragt, den gesamten Schlosspark in Stuttgart zu illuminieren. „Lichtfest“, Schlosspark, Stuttgart, 1979. Die Arbeit entstand als Auftrag des Deutschen Künstlerbunds. Was wir da gemacht haben, war sensationell. Das war die Gelegenheit, Scheinwerfer aufstellen zu lassen und das, was ich während des Krieges beobachtet hatte, nachzuempfinden. Der Lichtstrahl der Scheinwerfer wurde Richtung Mond geschickt. Damals kam ein Mann mit einem Fahrrad, einem selbstgebauten Anhänger und einer riesengroßen Tonne: Das war ein Scheinwerfer. Schon im Krieg hatte er damit gearbeitet. Mir hat er dann dort einen Lichtstrahl in den Himmel gestellt. Den konnte man noch 35 Kilometer weiter irgendwo auf der Autobahn sehen. Das sind die Dinge, die mich faszinierten.

Wir haben hier glücklicherweise noch keinen Bombenangriff erlebt. Wenn Sie von Lichtspektakel am Himmel sprechen, wie kann man sich die Situation vorstellen? Standen Sie draußen und haben zugeschaut, wie das passiert?

Es hat mich einfach fasziniert, wie alle anderen auch. Selbst die Leute, die vorher im Keller noch gezittert hatten, kamen auf allen Vieren nach oben und wollten sehen, was da noch an Leuchtraketen in die Luft ging. Die Flakscheinwerfer, das war ja alles noch bunter. Und die Bewegungen. Die ganze Stadt war hell, weil sie brannte. Das muss man dazu sagen. Da konnte man nachts Zeitung lesen. Es war auch eine kleine Brandbombe in unser Haus gefallen, die dann rausgeholt werden musste. Also Licht hat für mich eine unglaubliche Bedeutung.

Wir sprechen von einer Zeit, in der Deutschland ein zerstörtes Land war. Und zwar in vielfacher Hinsicht. Viele Soldaten kamen nicht aus dem Krieg zurück. Wir mussten drei Jahre lang warten, bis die Nachricht kam, dass mein Vater nicht überlebt hatte. Man war ganz auf sich alleine gestellt. Und man lebte in einer Welt, in der die materiellen Bedingungen denkbar bescheiden waren. Es gab nicht nur Probleme mit Lebensmittelkarten oder die Frage: „Wo bekomme ich ein paar Kohlen her? Wo bekomme ich ein Stück Holz her, damit ich meinen Ofen heizen kann?“ Sondern es gab auch – und das habe ich als junger Mensch natürlich sehr deutlich empfunden – ein spirituelles, ein geistiges Vakuum. Ein kulturelles Vakuum. Deutschland war ein Friedhof. Wir hatten das Glück, dass einer unserer Lehrer, der aus dem Krieg zurückgekommen war, mit uns aufs Heftigste diskutierte. Auf sehr hohem Niveau. Wir waren 17 Schüler und die Hälfte davon hat später Philosophie studiert.

Worüber haben Sie diskutiert?

Über existenzielle Fragen. Da war es mit Religion allein nicht mehr getan. Da kamen Dinge ins Spiel, die uns auch nach dem Abitur weiterhin sehr beschäftigten. Mit „uns“ meine ich vor allem Otto Piene, Günther Uecker und mich. Das war Literatur von Jean-Paul Sartre oder auch die Lehren des deutschen Philosophen Karl Jaspers. Jaspers hatte in Basel seine Professur. Nach Kriegsende hat er die Schweiz verlassen und lehrte in Köln und Berlin. Dann natürlich Albert Camus, der Nobelpreisträger. Also Existenzialisten, die klipp und klar gesagt haben: „Religiöse Antworten sind hier jetzt nicht mehr allein gefragt. Frage dich selbst, wie Du mit diesem Leben hier zurechtkommen willst.“ Dieser Existentialismus in seiner Direktheit und in seiner Radikalität, das war wirklich eine säkulare Welt, in der einzig die Condition humaine postuliert wurde. Das war das Entscheidende. Umso mehr hat mich später André Malraux fasziniert. Ein Schriftsteller von Weltrang, der sich zunächst auf den Kommunismus eingelassen hatte, dann Kulturdezernent von Frankreich wurde und dieses umfassende Werk, „Le musée imaginaire“, schrieb. André Malraux (1901 Paris – 1976 Créteil, Frankreich) war ein Schriftsteller und Politiker. 1930 veröffentlichte er den Roman „La voile royale“, der als frühes Beispiel der existenzialistischen Literatur gilt. 1947 erschien sein wegweisender kunsttheoretischer Essay „Le musée imaginaire“. Zwischen 1959 und 1969 war Malraux unter der Regierung von Charles de Gaulle Minister für kulturelle Angelegenheiten. Auf einmal stand die ganze Welt zur Verfügung, und das kunstgeschichtliche Schubladendenken war ein für alle Mal passé. Plötzlich hatte man als Künstler die Chance und das Recht, alles miteinander zu vergleichen oder zu betrachten oder in Frage zu stellen. Alles das kam dazu. Das waren offene Verhältnisse. Und man darf nicht vergessen: Wir hatten keinerlei Informationen. An der staatlichen Kunstakademie von Düsseldorf gab es zwei, drei zerfetzte Bücher. Das eine war irgendetwas über Gotik, das andere über Expressionismus. Man wusste nicht, was in anderen Ländern geschieht. Man war auf sich selbst gestellt. Und die geistigen Interessen waren höchst vehement. Nicht umsonst haben wir nächtelang nicht nur ein Glas Bier getrunken oder Jazz gehört – was nicht nur unglaublich wichtig war, weil es für uns eine Befreiung darstellte –, sondern es ging um eine geistige Auseinandersetzung. Das wurde natürlich auch in der Akademie gemacht, wobei es nur ganz wenige Lehrer gab, die in der Lage waren, sich an diesen Gesprächen zu beteiligen oder diese Gespräche überhaupt zu ermöglichen und zu fördern. Dazu gehörte ein Mann, der als Grafiker dort im Hause bestellt war: Professor Otto Coester. Otto Coester (1902 Rödinghausen – 1990 Wilhelmsdorf) war von 1938 bis 1967 Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. 1959 war er auf der „documenta 2“ vertreten. Der nahm mich eines Tages zur Seite und sagte mir, ich solle mich mit japanischer Kultur auseinandersetzen. Aus seiner Privatbibliothek schenkte er mir ein kleines Buch: „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ Eugen Herrigel, „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, Konstanz 1948. von Eugen Herrigel. Das waren Sensationen. So etwas kannte niemand.

Ich habe stundenlang vor der Buchhandlung im Regen gestanden und gefroren: Es war eines der ersten Bücher, das überhaupt gedruckt worden ist. Alles andere waren nur Rohblätter wie in der Zeitung. Dieses Büchlein war von Heinrich Heine: „Buch der Lieder“. Heinrich Heine, „Buch der Lieder“, Hamburg 1827. Dafür hat man sich angestellt. Ich war einer der Letzten, die noch ein Exemplar bekommen haben. Die Bücher waren sofort ausverkauft. Heute geht man in eine Bahnhofsbuchhaltung und dann liegen da 5.000 Bücher. Die anderen haben das alles auf dem Handy. Also das Vakuum damals war sehr groß.

Gab es an der Akademie noch andere Leute, mit denen Sie zu tun hatten? Sie sagten schon, Beuys und Heerich haben Sie gar nicht interessiert. Kannten Sie Konrad Klapheck Konrad Klapheck (* 1935 Düsseldorf) studierte von 1954 bis 1958 bei Bruno Goller an der Kunstakademie Düsseldorf. Bekannt ist er vor allem für seine Werkgruppe der Schreib- und Registriermaschinen. 1959 hatte Klapheck seine erste Einzelausstellung in der Düsseldorfer Galerie Schmela. Ab den 1960er-Jahren war er in Kontakt mit André Breton und dem Umfeld der Pariser Surrealisten. Klapheck war auf der documenta 3 (1964), 4 (1968) und 6 (1977) vertreten. Von 1979 bis 2002 war er an der Kunstakademie Düsseldorf Professor für Malerei. damals schon?

Das war etwas später. Ein intelligenter Mann. Er hat sich natürlich sehr früh für französische Literatur interessiert. Heureusement sprach er Französisch, ich nicht. Und er war ein Spezialist im Betrachten von Boxkämpfen. Wenn man zu ihm kam, berichtete er immer davon. Auch Jazz spielte für ihn eine große Rolle, obwohl er selbst nie einen Schritt getanzt hat.

Ihr wichtigster Gesprächspartner war Piene?

Piene hatte bis zuletzt einen hohen intellektuellen Anspruch. Die Disziplin des Denkens ist natürlich auch eine echte Conditio sine qua non. Und da war Piene für mich wirklich ein sehr adäquater und anspruchsvoller Partner. Er hat in einem Ausmaß, das mir nicht immer ganz gefallen hat, darauf bestanden, dass jeder Satz stellvertretend ist für ein klares Bewusstsein. Nur wer klar denken kann, kann auch klar sprechen. So einfach ist das. Die meisten Leute können das gar nicht, weil sie nicht klar denken. Diesen geistigen Anspruch von Piene habe ich immer auf meine Weise geteilt. Nicht umsonst haben wir beide auch unsere Staatsexamen in Philosophie bestanden. Er besser als ich. Wir hatten das Glück, unser Examen bei dem anspruchsvollsten Professor überhaupt zu machen. Das war eine Fehlentscheidung – wir hätten uns bei einem anderen immatrikulieren lassen sollen, dann wären wir leichter an unser Examen gekommen.

Der Professor hieß Bruno Liebrucks, heute ein international anerkannter Philosoph von Rang. Er lebt natürlich nicht mehr. Liebrucks war ein großartiger Mann. Piene war so gut, dass Liebrucks ihn fragte, ob er nicht sein Assistent werden wolle. Mich hat er das nicht gefragt. Später kam Uecker dazu, das war schon nach der Akademiezeit. Mit ihm wurde ebenfalls die Diskussion gepflegt. Aber wiederum in einem ganz anderen Sinne: Uecker hatte keine Studien an einer Universität absolviert. Ich glaube, er hat auch kein Abitur. Das spielt alles keine Rolle, ich will damit nur sagen, er konnte keinen akademischen Diskurs zelebrieren. Aber er hatte eindeutig hochwissenschaftliche und hochphilosophische Fragen, und er hat versucht, diese auf seine Weise zu beantworten. Ich sage jetzt mal etwas provokant, aber es ist positiv gemeint: Er hat sich eine eigene Philosophie ausgedacht und diese vertieft und erweitert. Er kommt auf Erkenntnisse, die sehr relevant sind und größte Bedeutung haben. Man muss bereit sein, sich auf dieses informelle Denken – das ist kein formalistisches Denken gewesen, sondern ein sehr intuitives, meditatives Denken – einzugehen. Ein naives Denken fast. Aber höchst interessant und natürlich von größtem spirituellem Interesse. Das hat er bis heute nicht aufgegeben. Da ist er sowohl mir als auch Piene sehr nah. Wohingegen andere Künstler überhaupt keine wissenschaftlichen oder philosophischen Interessen hatten.

Als Sie Günther Uecker kennengelernt haben und er zu dem engeren Kreis dazustieß, kam da eine neue Dynamik in die Gruppe? Spielte seine Vergangenheit – dass er in der DDR war und auch diesen Widerstand geführt hat – eine Rolle? Haben Sie darüber gesprochen?

Nein. Das hatte zu keinem Zeitpunkt eine Bedeutung. Das war uns auch weitgehend unbekannt. Darüber wurde gar nicht gesprochen. Das sind auch Alterserscheinungen. Je älter man wird, desto mehr denkt man darüber nach, was man als junger Mensch alles erlebt hat. Und bei Uecker war das eine ganz besondere Erlebnissphäre – mit Mord und Totschlag. Das wird im Nachhinein bedeutungsvoller oder weniger bedeutungsvoll gesehen, als es de facto war. Wir haben uns über diese politischen Dinge nie unterhalten. Ich habe während der ganzen ZERO-Zeit – um es mal pauschal zu sagen – nicht einmal daran gedacht, dass er aus der DDR gekommen war. Oder dass er da irgendetwas erlebt hat. Davon war nie die Rede. Wir haben immer nur vorwärts gedacht.

Das ist interessant. Als ich mit Günther Uecker gesprochen habe, sind wir über diese DDR-Zeit kaum hinausgekommen.

Ich habe ihn dazu bewegt – das sagt er auch immer wieder mit einem gewissen Stolz oder leichter Ironie –, sich der ZERO-Gesellschaft anzuschließen. Das gehört zur Biografie, denn so war es.

Das ist interessant, dass Sie „ZERO-Gesellschaft“ sagen.

Es ist keine Gesellschaft! Das war jetzt Small Talk.

Ich glaube, die meisten haben mittlerweile begriffen, dass ZERO keine Gruppe war. Sie haben es an anderer Stelle als „Solidargemeinschaft“ bezeichnet.

Das Bewusstsein von Gemeinschaft gab es schon. Sie können auch das Fremdwort Solidarität dazunehmen. Ein kurzer phänomenologischer Hinweis: Jeder Künstler in seiner Existenz ist ein Alleingänger, ein Solist. Ich habe das auch immer bildhaft oder metaphorisch umschrieben: „Geh durch die Wüste. Am Anfang hast du vielleicht einen Partner, der eine Zeit lang mit dir geht. Nirgendwo steht ein Wegweiser, auf dem steht, welche Richtung du nehmen sollst. Es liegt bei dir, zu entscheiden, welche Richtung du gehst. Wenn du zu zweit gehst, kommt schon nach kurzer Zeit der Konflikt. Da sagt der eine: ‚Ich möchte nach links gehen.‘ Der andere sagt: ‚Ich möchte nach rechts gehen.‘ Und schon geht man auseinander.“ Nehmen Sie das wörtlich, was ich gerade gesagt habe. Das gehört zu einer Phänomenologie einer künstlerischen Existenz dazu.

Dieses Gemeinschaftsbewusstsein, das wir zeitweise hatten, resultierte aus ganz anderen Gründen. Wir wollten jetzt nicht gemeinsam die Wüste durchschreiten oder gemeinsam die Welt erobern. Jeder war zunächst Alleingänger und fühlte sich vollkommen isoliert. Diese Isolation bedeutete, dass man nicht besonders glücklich war. Man fühlte sich verloren und einsam in dieser Gesellschaft und fragte sich: „Gehöre ich noch dazu? Wo bin ich?“ Dieses Bewusstsein, dass man alleine in der Welt steht und seinen Weg suchen muss, ist von Anfang an mitgegeben. Zur gleichen Zeit, das gehört zur Dialektik, möchte man die Umwelt und damit die Mitmenschen wissen lassen, was man macht. Man möchte das nicht alles nur für sich alleine machen. Wenn man etwas entdeckt oder gemacht hat, möchte man wissen, ob das ein anderer möglicherweise teilen kann. Oder ob es ihn interessiert. Das ist wie bei einem Erfinder, der etwas entdeckt, was es vorher nicht gab. Der will dann wissen: „Ist das vielleicht nicht nur für mich interessant, sondern auch für meine Umwelt? Für die Gesellschaft?“ So kommt es dazu, dass man auch wissen möchte: „Was denkt ein anderer Künstler über das, was ich mache?“ Von dieser allgemeinen Erkenntnis einmal abgesehen, war es so, dass ich zeitweilig – fast ein ganzes Jahr lang – verzweifelt war, weil ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Ich hatte einige Talente, die habe ich einigermaßen souverän spielen können, und dann habe ich erkannt: „Das musst du alles vergessen.“ Das war ungefähr 1957. Vergiss alles, was du bis jetzt gelernt hast. Vergiss, dass du in der Lage warst, einen Akt gut zu zeichnen. Vergiss, dass du dich von der École de Paris zu einem tachistischen Bild hast hinreißen lassen. Ich hatte das Gefühl, das Bild tot malen zu müssen und habe es ganz schwarz gefärbt. Das war, wenn Sie so wollen, auch eine existenzielle Tat. Erst später stellte ich fest, dass ein Mann wie Arnulf Rainer und andere Künstler das auch gemacht haben. In meinem Fall war es ein Akt der Verzweiflung. Für mich schien es so, als sei es mit der Malerei vorbei. Ich hatte mir ein kunsthistorisches Bewusstsein erarbeitet: Ich wusste genau, was bis zur Renaissance entstanden war, was während der Renaissance gemacht wurde, und ich kannte die Entwicklung der europäischen Malerei von der Renaissance bis zu Picassos Kubismus. Das wollte ich alles loswerden. Weg von dieser abendländischen Kunstauffassung, in der die Komposition eine sehr große Rolle spielt. In der das Drama eine große Rolle spielt. Weg von der Religion. Ein Muslim kann nicht verstehen, dass man die Götter mit Nägeln an ein Holzkreuz nagelt. Das ist alles europäisch. Abendländisch. Wahnsinnig. Diese ganzen abendländischen Abenteuer hat Picasso – und das finde ich phänomenal – mit einer einzigen Tat, mit seinen analytisch-kubistischen Bildern, zerstört. In diesem Moment hat er sich wirklich von der abendländischen Malerei getrennt.

Ein noch so abstraktes Bild von Kasimir Malewitsch lebt von dramatischen kompositorischen Spannungsverhältnissen im Bild. Von dieser ganzen Dramatik wollten wir uns entfernen. Und dann wurde einem bewusst: Das, was du machst und worüber du nachdenkst, das macht ja auch Piene. Und das macht ja auch Uecker. Und dann haben wir – es war fast magisch – erfahren, da ist jemand in Paris, der macht auch so etwas Ähnliches. Oder in London. Oder in Amsterdam … 57 fuhr ich nach Paris – traf Jean Tinguely, Yves Klein und so weiter und so fort. Ich habe mich sehr für diese Leute interessiert, denn die haben sich auch für mich interessiert. Es kam zum ersten Mal das Bewusstsein auf, dass an verschiedenen Orten der Welt Dinge geschehen, die eine phänomenale Verwandtschaft haben, eine phänomenale künstlerische Spannung aufweisen, die jeweils sehr deutlich korrespondiert, in einem interaktiven Sinn.

Norbert Kricke, Norbert Kricke (1922 Düsseldorf – 1984 Düsseldorf) wurde in den 1950er-Jahren mit abstrakten Stahlplastiken bekannt, die häufig für öffentliche Plätze oder als Kunst am Bau konzipiert wurden. Er lehrte von 1964 bis 1984 an der Kunstakademie Düsseldorf und war zwischen 1972 und 1981 Rektor der Akademie. Kricke gehörte zu den Wortführern der Beuys-Opposition im sogenannten „Akademiestreit“ von 1968/69. der dann später Direktor der Kunstakademie wurde, war der Erste, der zu Alfred Schmela Alfred Schmela (1918 Dinslaken – 1980 Düsseldorf) eröffnete 1957 in der Hunsrückenstraße 16–18 in Düsseldorf eine Galerie. Sein Programm umfasste wesentliche Positionen der deutschen Nachkriegskunst, darunter Joseph Beuys, Gerhard Richter sowie Künstler aus dem Umfeld der ZERO-Bewegung. in Düsseldorf sagte: „Du musst diesen Yves Klein ausstellen!“ Schmela konnte sich darunter nichts vorstellen. Er war zunächst fasziniert von dem Gedanken, den Beuys ihm angetan hatte: „Du hast eine kleine Galerie von 3,2 x 4,1 Metern. Auf diese zwölf Quadratmeter stelle ein Pferd.“ Das war die Idee von Beuys. Da habe ich zu Schmela gesagt: „Du hast doch nicht alle Tassen im Schrank. Du bist doch kein Bauer. Was soll denn das Pferd?“ – „Ja, das ist doch toll. Das fällt doch auf.“ – „Ja, dann stell doch lieber eine nackte Frau hinein.“ Das wurde sehr heftig diskutiert damals. Dann sagte Kricke: „Da ist einer, der malt monochrome Bilder.“ Ich habe Schmela dann in meinem verbeulten Volkswagen diese Bilder von Paris nach Düsseldorf gebracht, damit sie ausgestellt werden konnten. Diese kleinen Bildchen kosten heute mehr als eine Million Dollar. Damals wollte sie keiner haben.

Das sind Dinge, die wir geleistet haben. Das ist ZERO. Und an verschiedenen Orten passierten mit Piero Manzoni, Enrico Castellani und Lucio Fontana – das war der Grand Senior, der hätte unser Vater sein können – zur gleichen Zeit ganz ähnliche Dinge. Ich hatte 59 eine kleine Ausstellung „Reliefs lumineux et peintures de Mack“, Galerie Iris Clert, Paris, 17. April – 05. Mai 1959. bei Iris Clert. Da wurde ein einziges, winzig kleines Bild, DIN A4 groß, ein Relief verkauft. Iris Clert war sehr großzügig: „Ich habe von dir nichts verkaufen können, aber wenn du kein Geld mehr für’s Bett hast, kannst du in meinem schlafen.“

Kurz darauf war ich in Mailand und hatte die Ehre, Fontana in seinem Atelier zu besuchen. Der zeigte größtes Interesse an mir, und siehe da, da war mein kleines Relief. Ein Künstler hatte ein Bild von einem anderen Künstler gekauft.

Sehr häufig wird die ZERO-Bewegung als Gegenpart zu den Schreckensbildern des Krieges beschrieben. So wie Sie es schildern, ging es aber weniger darum, dass Sie diese Bilder loswerden wollten, als dass in der Kunst und vornehmlich in der Malerei bereits alles gemacht worden ist.

Das war das Entscheidende. Dieses Bewusstsein, die europäische Kunst oder die abendländische Kunst, wenn Sie das noch hochgestochener formuliert sehen wollen, ist irgendwie verbraucht. Kann das Tafelbild, sprich die Leinwand auf einem Keilrahmen, noch Bedeutung haben? Da gibt es ja so flotte Sprüche von Beuys: „Wer einen Keilrahmen kauft, der kann gleich nach Hause gehen.“

Bezog sich das Bestreben, Tabula rasa machen zu wollen, mehr auf den kunstimmanenten Kontext als auf das politisch-gesellschaftliche Erbe?

Es war rein im kunstimmanenten Sinne gemeint. Es ging um die Auseinandersetzung mit der Kunst.

ZERO war eine Bewegung, die nach dem Krieg entstand. Die „Ruhe in der Unruhe“, wie Sie die ZERO-Kunst in dieser Zeit beschreiben, wird von den Kunsthistorikern häufig als eine Art Vergangenheitsbewältigung gedeutet. Dabei scheint mir ein ganz zentraler Punkt zu sein, dass Sie sich sehr schnell in der Akademie wie auch durch Ihre Kontakte nach Italien, in die Niederlande, nach Paris – „die erste Stadt, die nicht in Trümmern lag“, wie Sie es beschreiben – etwas Anderem, Neuem zugewandt haben. Nicht wie Beuys und nicht wie Baselitz die Bilder der Vergangenheit heraufbeschworen, sondern antagonistisch nach vorne gedacht haben, weit über historische, nationale und gewissermaßen auch kulturelle Grenzen hinaus.

Das ist ein ganz elementarer und höchst vehementer Kontrast. Die Welt von Beuys – und das gilt für Baselitz genauso – war die Auseinandersetzung mit dem geschundenen Menschen. Mit dem verletzten Menschen, der diese Verletzung verinnerlicht hat. Das gehört auch zum Realitätssinn dazu: Einem meiner Kommilitonen in der Akademie fehlte ein Bein. Warum? Weil es abgeschossen wurde. Ein anderer hatte einen gelähmten Arm, der konnte also nicht als Bildhauer arbeiten. Der Dritte hatte Depressionen, weil er nach Stalingrad miterlebte, wie die Gefangenen auf nackten Füßen über das Eis laufen mussten. Das sind Dinge, die haben die nicht vergessen. Aber die eigentlichen künstlerischen Interessen waren immanenter Natur, bezogen sich auf die Kunst. Verbunden mit einem unglaublich großen Begehren zu erfahren, was es in der Welt an Kunst gab. Noch als ich 1950 von meiner ersten Parisreise zurück in die Akademie kam, an der ich mich gerade immatrikuliert hatte, war der Name Miró unbekannt. Auch kein Professor kannte diesen Namen. Das muss man sich alles vergegenwärtigen. Es war wirklich eine Zeit des Vakuums. Die Leute waren daran interessiert, dass das Dach über ihrem Kopf wieder regendicht war und dass der Wind nicht durchs Haus fegte. Dass die Lebensmittelmarkenzeit bald vorbei war und man wieder alles essen konnte. Bald kaufte man sich den ersten Eisschrank. Dann kam der kleine Fernseher. Und dann das Sofa. Da war auf einmal eine bürgerliche Welt entstanden, die mit großem Interesse wahrnahm, dass man inzwischen auf dem Mond gelandet war. Damals kam die bürgerliche Welt erstmals wieder zur Ruhe, und das hat uns aufgeregt. Das fanden wir unmöglich. Konrad Adenauer, der damalige Bundeskanzler, hat das auf seine Weise natürlich auch nach außen vertreten. Als er dann wiedergewählt wurde, klebten an den Litfaßsäulen Plakate mit der Überschrift: „Keine Experimente“. Da ging Heinz Mack her, nahm einen Topf mit schwarzer Farbe und strich das Wort „Keine“ durch, bis die Polizei kam. Also wir bemerkten schon, was politisch um uns herum geschah. Aber die künstlerischen Interessen waren auf die Kunst konzentriert. Die Politik wurde zwar wahrgenommen, das war Tagesrealität, aber sie nahm keinen Einfluss auf unsere Arbeit. Wohingegen das bei vielen anderen Künstlern natürlich bis zuletzt dominierte. Kein geringerer als Prof. Dr. Fleck Robert Fleck (* 1957 Wien) studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Philosophie in Wien, Innsbruck und Paris. Seit 1982 arbeitet er als Kritiker und Ausstellungsmacher. Er war unter anderem Direktor der Deichtorhallen Hamburg (2004–2008), Kommissar des Österreichischen Pavillons der Biennale von Venedig (2007) und Intendant der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (2009–2012). Seit April 2012 ist er Professor für Kunst und Öffentlichkeit an der Kunstakademie Düsseldorf. schreibt mir, mit Begeisterung hätte er einen neuen Essay über Baselitz geschrieben. Über die Rückkehrer. Darauf habe ich sehr böse geantwortet. Es ist schon sehr erstaunlich, dass ich vielleicht der Einzige bin, der heute in Deutschland den Mut hat, einem Baselitz mal das Bein zu stellen. Aber auf hohem kunstgeschichtlichen und intellektuellen Niveau. Dieser Generation geht es heute glänzend. Die fahren einen Porsche Cayenne und erklären sich zu denjenigen, die den Zeitgeist erfasst haben.

Die parallelen Entwicklungen in Deutschland, Italien, Frankreich und den Niederlanden, die später das ZERO-Netzwerk bildeten, war das zeitgeistig?

Wie ich gesagt habe: Jeder geht seinen eigenen Weg. Jeder macht seine ersten Entdeckungen, möchte dann aber doch wissen, ob das eine gesellschaftliche oder künstlerische Relevanz hat. Daher hat man sich gegenseitig aufgesucht. Die Franzosen kamen nach Düsseldorf, die Düsseldorfer sind nach Mailand gefahren. Wir sind nach Amsterdam gefahren. Das ging hin und her. Es war wirklich das Gefühl, dass wir einer Sache gemeinsam nachgehen. Es gab die berühmte Ausstellung „Motion in Vision. Vision in Motion“, Hessenhuis, Antwerpen, 21. März – 03. Mai 1959. An der Ausstellung beteiligt waren unter anderen Robert Breer, Pol Bury, Yves Klein, Heinz Mack, Enzo Mari, Bruno Munari, Dieter Roth, Daniel Spoerri und Jean Tinguely. im Hessenhuis in Antwerpen. Das war eine super Ausstellung, weil sich dort die Künstler bestens miteinander vertragen haben. Da kam das Bewusstsein auf: Wir sind Vertreter einer neuen Kunstbewegung. Einerseits war es phänomenal, dass wir die Grenzen nicht mehr respektierten. Dieser Gedanke, einfach über die Grenzen hinwegzusehen. Eigentlich waren die ZERO-Künstler die Ersten, die diese Europaidee praktizierten. Wir haben das emanzipiert.

1957 fing das an und 64 haben die Franzosen, weitgehend motiviert und initiiert durch Pierre Restany, der zu keiner Sekunde, auch nicht wenn er schlief, vergaß, dass er Franzose war, dann diesen Klub der „Neuen Realisten“ Nouveau Réalisme war eine Kunstströmung, die Ende der 1950er-Jahre in Frankreich entstand. In Abkehr vom Informel und anderen gestisch-abstrakten Ausdrucksweisen forderten die Künstler zunehmend die Hinwendung zur alltäglichen Lebenswelt. Konkret wurde dieser Anspruch zum Beispiel in der Verwendung von Alltagsgegenständen als Material in der Kunst sichtbar. Am 27. Oktober 1960 wurde in der Pariser Wohnung Yves Kleins das gleichnamige Manifest von Arman, François Dufrêne, Raymond Hains, Yves Klein, Martial Raysse, Pierre Restany, Daniel Spoerri, Jean Tinguely und Jacques de la Villeglé unterzeichnet. gegründet. Piene fing damals mit dem deutschen neuen Idealismus an. Ein Thema von höchst kontroverser Natur, woraufhin ich mich sofort von Piene trennen musste und auch Uecker sich an meine Seite stellte und sagte: „Unter keinen Umständen einen neuen Idealismus.“ Also Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und so weiter – das wollen wir jetzt bitte vergessen.

Die Franzosen meinten damals: „Wir brauchen unseren eigenen Verein.“ Das Manifest habe ich jetzt noch mal faksimiliert in die Hand bekommen. Ein Stück Papier, DIN A4, auf dem sie alle unterschrieben haben: Martial Raysse, Yves Klein, Raymond Hains, Daniel Spoerri, Pierre Restany und Arman. Das war, aus meiner Sicht, ein Rückfall. Kaum hatten wir uns zu Europäern erklärt, zu einer Gruppe von Künstlern, die nicht mehr so sehr auf die Nationalität achteten, fielen sie zurück in ein nationales Denken. Da sind die Franzosen Weltmeister, das sind chauvinistische Neigungen. Auch später hat sich das bei vielen anderen Ausstellungen herausgestellt. Bei der letzten großen Ausstellung „Dynamo. A Century of Light and Motion in Art. 1913–2013“, Grand Palais, Paris, 10. April – 22. Juli 2013. über kinetische Kunst im Grand Palais in Paris ist die deutsche Abteilung bis zur Degradation misshandelt worden. Die Franzosen haben sich dort hemmungslos ausgebreitet. „Wir sind die Größten!“

Sie haben beschrieben, dass parallele Entwicklungen bei unterschiedlichen Künstlern nicht nur bestätigten, sondern auch motivierten. Der ZERO-Bewegung folgte in den Niederlanden die Gruppe Nul. Es wurden nicht nur ähnliche oder gleiche Materialien und Techniken verwendet, sondern auch künstlerische Ideen übernommen. Gab es einen Zeitpunkt, an dem das Gefühl einer solidarischen Gemeinschaft in einen Konkurrenzkampf umschlug?

Solidarität war solange da, wie jeder für sich alleine war und merkte, da ist ein anderer, der sich für mich interessiert. Der das, was ich mache, gut findet und bereit ist, das auch einer dritten Person mitzuteilen. Wir haben uns füreinander eingesetzt – öffentlich. Daraus entstand ein Gemeinschaftsbewusstsein. Ich würde es niemals die „Gruppe ZERO“ nennen. Es war eine Bewegung. Eine künstlerische Bewegung, die von Künstlern aus unterschiedlichen Ländern gleichermaßen getragen wurde. Dann fiel natürlich sehr bald auf, dass die Entwicklung der einzelnen Künstler zum Teil stark divergierte. Ein Beispiel dafür ist Enrico Castellani Enrico Castellani (1930 Castelmassa, Italien – 2017 Viterbo, Italien) ist für seine auf Nägel gespannten Stoffe („Superficie Nere“) bekannt, die er in unterschiedlichen Variationen ausführte. Er stellte unter anderem 1964, 1966 und 2003 auf der Biennale von Venedig sowie 1968 auf der „documenta 4“ aus. : Er hatte eine wunderbare Idee, und die reichte für ein ganzes Leben. Er hat nie mehr etwas geändert. Dasselbe mit Jan Schoonhoven Jan Schoonhoven (1914 Delft – 1994 Delft) war ein Künstler, der zu den Mitbegründern der holländischen Gruppe Nul zählt. Bekannt ist er für seine monochromen, weißen Strukturreliefs, die ab 1955 entstanden. Schoonhoven nahm an der documenta 4 (1968) und 6 (1977) teil. . Er hatte eine wunderbare Idee. Danach hat er ewig dasselbe gemacht. Da kann ich bei allem Respekt nicht ganz folgen. Andere sind ganz neue Wege gegangen und haben sich von einer gewissen Strenge der Konstruktion wieder distanziert.

Natürlich sind das auch Identitätsfragen. In der Kunst gibt es kein Patentamt. Natürlich findet eine wechselseitige Einflussnahme unter Künstlern, ob bewusst oder unbewusst, statt. Der Künstler, der wirklich stark ist, hat damit kein Problem. Der macht das, was er macht.

In dem Magazin der Gruppe Nul haben Sie auch publiziert. Das heißt, Sie haben das nicht von Anfang an abgelehnt?

Im Gegenteil. Wir waren mit allem einverstanden. Allerdings war ich auch der Erste, der die Geschichte eines Tages leid war und gesagt hat: „ZERO ist vorbei! Das soll sich nicht auf Lebenszeit institutionalisieren. Ich bin kein Klubmitglied. Also Schluss aus.“ Das war etwas, das Piene radikal abgelehnt hat. Bis zu seinem Tod hat er erklärt: „Es lebe ZERO!“ Uecker hingegen ist mit seinen Bandagenarbeiten, Holzleisten und Mullbinden ganz andere, neue Wege gegangen. Das hat mit ZERO gar nichts mehr zu tun.

In der Ausstellung in Istanbul „ZERO. Countdown to the Future“, Sakıp Sabancı Müzesi, Istanbul, 02. September 2015 – 10. Januar 2016. waren hauptsächlich Arbeiten von Uecker, Piene und Mack. Im Martin-Gropius-Bau war jetzt die große Retrospektive „ZERO. Die internationale Kunstbewegung der 50er- und 60er-Jahre“, Martin-Gropius-Bau, Berlin, 21. März – 08. Juni 2015. zu ZERO. Stört es Sie, dass die Arbeiten aus der Zeit immer wieder unter dem Begriff ZERO subsummiert werden?

Das ist vollkommen in Ordnung. Das gehört einfach zu der kunstgeschichtlichen Disziplin und Tugend dazu, dass diese Faktizität erhalten bleibt. Dass sie dokumentiert und präsentiert wird. Dass sie nicht verwischt wird.

Es gibt einige Erben und Galeristen, die jetzt die Werke wieder ausgraben. Ein klassischer Fall ist Herbert Zangs, der tatsächlich ein paar Dinge gemacht hat, die ganz in die Nähe von ZERO kommen. Problematisch ist, dass er viele seiner Arbeiten zehn oder fünfzehn Jahre vordatiert hat. Es kommt hinzu, dass er immer geschaut hat: „Was machen die denn da?“ Er hat aber nie gesagt: „Ich komme zu euch!“ Und da kann man auch im Nachhinein nicht sagen: „Er muss unbedingt bei ZERO miteinbezogen werden.“ Das geht nicht. Das ist kunstgeschichtlich einfach nicht korrekt.

Wie war das mit Hermann Goepfert? Hermann Goepfert (1926 Bad Nauheim – 1983 Antwerpen) war ein deutscher Künstler, der eng mit der ZERO-Bewegung verbunden war. Bekannt ist er insbesondere für seine monochromen „Weißbilder“, die ab 1960 entstanden. Enge Freundschaften verbanden ihn mit Piero Manzoni, Lucio Fontana und Jef Verheyen. Goepfert nahm an wichtigen Präsentationen mit Künstlern des ZERO-Umfelds teil, dazu gehören die Ausstellung „Nul“ (1962) im Amsterdamer Stedelijk Museum sowie die „documenta 3“ (1964) in Kassel.

Goepfert ist sehr von mir beeinflusst worden. Ich habe natürlich auch irgendwo ein träges Naturell und habe das einfach laufen lassen. Ich hätte von Anfang an sagen müssen: „Du, lass mal. Ich habe hier schon hundertmal eine Stange in Torsion gebracht, jetzt fängst du auch damit an. Mach doch lieber etwas anderes. Mach ein paar Knicke stattdessen.“ Das habe ich versäumt. Nun stehen diese Dinge da. Es hatte aber, glaube ich, auch nicht die Potenz, die meine Arbeiten hatten. Nichtsdestotrotz, er ist ein wichtiger Mann. Er hat dieses „Optophonium“ Hermann Goepfert, „Optophonium“, 1960/61. Ab den frühen 1960er-Jahren entwickelte Goepfert unter dem Titel „Optophonium“ Arbeiten, die Tonsignale durch ein elektrisches System in Licht umwandeln. gemacht. Diese Musikinstrumente – das ist eine gute Arbeit. Das gehört in die Kunstgeschichte.

Sie haben eine Zeit lang informell gemalt. Davon haben Sie sich sehr entfernt. Wann würden Sie sagen, haben Sie Ihren Weg gefunden? Ab wann dachten Sie: „Das bin ich jetzt“?

Also ich habe einen Sommer lang tachistisch gemalt. Das ist nicht lange.

Das war in Kiel, oder?

Ja. Ich habe noch einige wenige Bilder. Das war auch abenteuerlich. Mit unglaublichem Aufwand habe ich die oben auf dem Autodach montiert und nach Düsseldorf gebracht. Als ich sie hier ausgepackt habe, kam der Gedanke auf: „Du musst das vergessen!“ Das war wirklich eine Art Katastrophenstimmung. Ich nenne das einfach Verzweiflung. „Wie geht es jetzt weiter?“ Meine ersten Versuche, die sich direkt auf ZERO beziehen, waren 57. Das gilt auch für Otto Piene. Uecker kam ja ein paar Jahre später dazu. Also nicht eine Woche später, sondern, ich glaube, vier Jahre später. Günther Uecker (* 1930 Wendorf) beteiligte sich ab 1961 regelmäßig an Aktionen des ZERO-Umfelds. Dass man dieses Trio – mit Piene, mir und Günther Uecker – separat sieht, ist vollkommen in Ordnung. Denn wir haben in den zehn Jahren, den größeren Teil dieser Zeit gemeinsam verbracht. Viele Ausstellungen fanden unter „Mack, Piene, Uecker“ statt. Und wir haben uns auch darum gekümmert, dass Künstler sich in anderen Städten mit uns beschäftigten. Da kommt viel Privates dazu: Die Schwester von Günther Uecker wurde die Frau Gemahlin von Yves Klein und so weiter.

Es gibt einen Brief Vgl. den Nachdruck des Briefs von Heinz Mack an Yves Klein aus dem Monat März 1958, Abb. 2, in: Dirk Pörschmann/Mattijs Visser (Hg.), „ZERO 4 3 2 1“, Düsseldorf 2012, S. 412. an Yves Klein, in dem Sie ihm sagen, welchen Text Sie für ihn in der nächsten Ausgabe der ZERO-Zeitschrift vorgesehen haben. Sie geben das Thema und sogar den Titel vor und bitten darum, er möge sich damit anstrengen. Post scriptum schreiben Sie: „Was ist eigentlich mit Iris Clert? Ich habe gar nichts mehr gehört.“ Das klingt so wie: „Jetzt haben deutsche Künstler französische Künstler in Deutschland ausgestellt. Jetzt möchten doch bitte die deutschen Künstler auch in Paris ausstellen.“

Das war ein Gedanke, der mitspielte, ja.

In vielen Texten erwähnen Sie, dass Ihnen eine grundsätzliche Offenheit besonders wichtig war.

Wir haben eine unglaubliche Toleranzbreite gezeigt. Andererseits waren wir aber auch bereit, uns Dingen gegenüber zu distanzieren, die uns nicht gefallen haben. Da wurden wir sehr deutlich.

Sie wurden damals in Düsseldorf als Stars gefeiert. Nicht lange nach Ihrem Abschluss an der Akademie waren Ihre Arbeiten sehr beachtet und Ihnen wurde eine gewisse Anerkennung zuteil. Gerade auch von jüngeren Künstlern. Wie fühlte sich das damals an? Hatten Sie das Bild der Avantgardekünstler von sich selbst?

Nein. Also heute kann man das natürlich mit entsprechender kunsthistorischer Distanz betrachten. Das Leben ist doch sehr viel wilder, differenzierter, auch chaotischer und sinnlicher. Das waren keine Spaziergänge. Wir drei – Mack, Piene, Uecker – hatten zum Beispiel Familie. Hatten Kinder. Es gibt natürlich auch Künstler, denen das, auf Deutsch gesagt, „scheißegal“ ist. Wir aber hatten das Gefühl: „Ich muss dafür sorgen, dass meine Kinder gut angezogen sind und zur Schule gehen.“ Das ist bei Künstlern alles nicht so selbstverständlich. Dieses Bewusstsein, dass man auch innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kein bunter Hund ist, der machen kann, was er will, sondern dass wir ein Teil einer offenen, wenn Sie so wollen demokratischen Gesellschaft sind. Wir sind natürlich dadurch auch verantwortlich, dass diese Gesellschaft irgendwie funktioniert. Das Bewusstsein war da. Wenn die Gesellschaft etwas machte, was absolut gegen den eigenen Geist sprach, wurde man natürlich ermuntert. Dann wären wir bereit gewesen, auf die Barrikaden zu gehen. Wir hatten auch eine leichte Art. Wir haben zum Beispiel gesagt: „Die Staatliche Kunstakademie Düsseldorf hat im 19. Jahrhundert zu den Karnevalszügen große Wagen präsentiert. Das war ein künstlerisches Ereignis.“ Und dann haben wir – also Mack, Piene, Uecker – uns am Karnevalszug beteiligt. Das war Freude am Leben und Leichtigkeit des Seins. Alles wunderbar. Es war aber immer ein bisschen Verstand dabei. Es war nicht „just a joke“. Sondern es war uns bewusst, hier sind wir tatsächlich in einem Kontext einer anderen kunstgeschichtlichen Arbeit. Der Karnevalszug gehörte zur Geschichte der Akademie. Das ist nur ein einfaches Beispiel, an dem Sie verifizieren können, dass immer eine sensible Registratur dabei war. Wir haben einerseits sehr leichtsinnig und spontan gelebt. Andererseits haben wir uns immer wieder eingeholt und gefragt: „Are we really on the right way?“ Das war nicht selbstverständlich. Und dann kam der Wunsch: „Wir müssen raus.“ Und da war New York die erste Adresse und nicht Paris.

Sie sind sehr früh, 1964, nach New York gegangen. Das muss doch ein Wahnsinn gewesen sein, zu dieser Zeit aus Düsseldorf nach New York zu kommen?

War es auch.

Howard Wise hat damals zu Ihnen gesagt: „Schade, dass Sie kein Jude sind!“ Sie gehörten damals zu den einzigen und ersten deutschen Künstlern, die in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg einen sehr großen Erfolg gefeiert haben.

Ja, das war nicht selbstverständlich. David Rockefeller David Rockefeller (1915 New York – 2017 New York) war ein Bankier und Kunstsammler aus der New Yorker Rockefeller-Dynastie. Von 1962 bis 1972 und von 1987 bis 1993 war er Vorstandsvorsitzender des Museum of Modern Art in New York. Mit Werken von Paul Cézanne, Paul Gauguin, Henri Matisse, Claude Monet und Pablo Picasso lag der Schwerpunkt seiner Sammlertätigkeit im Bereich der europäischen Moderne. Als Vorstand der Chase Manhattan Bank initiierte er 1959 das Modell einer firmeneigenen Kunstsammlung. hat mich damals privat zu einem persönlichen Abendessen eingeladen, mit Marisol, Marisol Escobar (1930 Paris – 2016 New York) war Malerin und Bildhauerin sowie Vertreterin der amerikanischen Pop-Art. Sie lebte ab 1950 in New York und war 1968 auf der „documenta 4“ und der Biennale von Venedig vertreten. meiner damaligen Freundin, und zwei, drei anderen Künstlern. Also im kleinsten Kreis hat Herr Rockefeller für Künstler ein Abendessen gegeben. In Deutschland passiert so etwas nicht, nebenbei gesagt. Alles war außerordentlich nett, liebenswert, gepflegt, freundlich und easy. Er hat es sich nicht nehmen lassen, mich beim Abschied persönlich zum Tor zu geleiten. Als wir uns für einen Moment allein gegenüberstanden, sagte er: „I am glad, you were born 1931. Good night, Mr. Mack.“ Ein klarer Satz. Das hieß: „Du warst nicht im Krieg.“ So einfach ist das. Wir sind in einem Land groß geworden, das eine unglaubliche Katastrophe hinterlassen hat. Der deutsche Expressionismus hat das ja zum Teil antizipiert. Diese berühmte Szene von Kirchner, wo eine Gruppe von Soldaten in strenger militärischer Ordnung unter der Brause steht, Ernst Ludwig Kirchner, „Das Soldatenbad“, 1915. das sieht ja wirklich aus wie in Dachau. Diese Expressionistenzeit hat viel mehr mit der deutschen Mentalität zu tun als das, was wir machten. ZERO was really not such a big national affair. That was really international. Ich bin wirklich sehr stolz darauf, dass ich akzeptiert werde. Aber ich würde nicht sagen, ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein.

Denken Sie, dass Ihre Kunst damals in New York vielleicht sogar besser verstanden wurde als hier in Deutschland?

Ich darf daran erinnern – und das bitte ich neutral aufzufassen, vollkommen frei von irgendwelchen Verdächtigungen –, dass gerade unter den Juden außerordentlich gebildete Menschen waren und sind. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst spielen sie eine bedeutende Rolle. Und es gehört zur Geschichte des 20. Jahrhunderts und natürlich zur Gegenwart, dass führende New Yorker Galerien in jüdischer Hand sind. Sie haben es eben schon angesprochen. Howard Wise besaß die Großzügigkeit, mir mit einem strahlenden Lächeln etwas humorvoll zu sagen: „You should be a jew. In this case I could make you world-famous.“ Er wurde sicherlich von anderen Leuten angesprochen: „Wie kommen Sie dazu, einen deutschen Künstler auszustellen?“

Die Juden sind auf ihr Weltbild fixiert. Aufgrund ihrer Geschichte können sie gar nicht anders. Werner Schmalenbach, Werner Schmalenbach (1920 Göttingen – 2010 Düsseldorf) leitete von 1955 bis 1962 die Kestnergesellschaft in Hannover und war von 1962 bis 1990 Direktor der neu gegründeten Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf. Er wirkte außerdem an zahlreichen internationalen Großausstellungen mit, darunter als Kommissar der Biennale von Venedig (1960) und den Biennalen in São Paulo (1961, 1963, 1965). 1959 und 1964 war er im Arbeitsausschuss der documenta tätig. ein Halbjude, sagte in einem Gespräch „der blonde Mack.“ Blond ist natürlich ein Synonym für Nazi. Das sind Realitäten.

Obwohl Schmalenbach Sie doch damals unterstützt hat?

Nein, gar nicht. Ich war für ihn ein hochinteressanter Gesprächspartner, weil ich vielleicht einfach ein bisschen mehr wusste als ein normaler Zeitgenosse. Er hat sich gerne mit mir, wie sagt man im Rheinland, „gekibbelt“. Streitgespräche, dafür war er zu haben. Allerdings hat er mich vorgeschlagen, für die UNO in New York das Gastgeschenk der Bundesrepublik zu gestalten. Das Ergebnis ist eine Geschichte für sich. Heinz Mack, „Das Zeichen des Friedens“, 1974–1979, nicht ausgeführtes Projekt einer 70 Meter hohen Lichtstele im Park der UNO in New York. Dazu Heinz Mack in einer schriftlichen Äußerung: „Anlässlich der Aufnahme der Bundesrepublik in die UNO ergab sich für sie die Verpflichtung, den Vereinten Nationen in New York ein Gastgeschenk zu überreichen, so wie Israel zum Beispiel eine historisch bedeutsame Kanaan-Rolle aus der Frühzeit oder Frankreich ein Chagall-Fenster schenkte. […] Schmalenbach wurde beauftragt, den Künstler zu benennen und wählte mich. Mein Entwurf konzentrierte sich auf eine monumentale Friedensskulptur, welche im zur UNO gehörenden Rosengarten aufgestellt werden sollte. […] Das als Lichtstele gedachte Werk war eine Art Abstraktion einer Ähre, deren Konnotation als Friedenssymbol erkennbar sein sollte. Alle zuständigen Juroren und Richter sowie der UNO-Präsident als auch der Architekt des UNO-Gebäudes sowie die internationalen Komitees schenkten mir ihre Zustimmung. Und auch der amtierende Bundeskanzler Helmut Schmidt zeigte Sympathie, übergab aber den Vorgang an den Außenminister Genscher, der seine Zustimmung ablehnte, nachdem der Thyssen Konzern überraschend seine partielle Sponsorschaft in letzter Minute annullierte. Schließlich verzichtete die Bundesrepublik auf ihr Gastgeschenk! Tief enttäuscht habe ich den gesamten Vorgang mein „Sforza-Trauma“ genannt, in Analogie zum Scheitern des Reiterstandbildes, das Leonardo da Vinci in Mailand nicht vollenden konnte. Als dieses Urteil in Gegenwart von circa dreißig Personen von Genscher ausgesprochen wurde, hat ein Einziger geweint.“

1957 fand die „1. Abendausstellung“ statt. Die „1. Abendausstellung“ fand am 11. April 1957 im Atelier von Otto Piene (1928–2014) in der Gladbacher Straße 69 in Düsseldorf statt. Neben Arbeiten von Heinz Mack und Otto Piene waren auch Werke von Peter Brüning, Horst Egon Kalinowski und Hans Salentin ausgestellt. Bis Oktober 1960 fanden, organisiert von Mack und Piene, acht weitere „Abendausstellungen“ statt. Die Beweggründe für selbst organisierte Ausstellungen junger Künstler liegen auf der Hand: Es gibt keine anderen Ausstellungsmöglichkeiten. Bereits 1959 haben Sie dann auf der „documenta 2“ in Kassel ausgestellt. Heute wird die documenta als ein Höhepunkt in der Karriere eines Künstlers gefeiert. Waren Sie durch die „Abendausstellung“ innerhalb kürzester Zeit so im Gespräch, dass Sie auf die documenta eingeladen worden sind?

Das weiß ich auch nicht so genau. Jedenfalls sind wir zur „documenta 3“ unter Bedingungen eingeladen worden, die alles andere als ehrenwert waren: Man hatte bereits die Sektgläser in der Hand, hat sich gefeiert und diese Ausstellung in Kassel höchst zeremoniell und mit viel Pracht der Öffentlichkeit übergeben. Und dann durften Günther Uecker, Otto Piene und Heinz Mack im Schweiße ihres Angesichts bis zur totalen körperlichen Erschöpfung einen vollkommen verdreckten Speicher säubern, damit wir dort unsere Arbeiten aufhängen konnten.

Sie wurden nachgeladen?

Wir wurden wirklich nachgeladen! Es wurde offiziell nicht so bezeichnet, aber wir wurden viel zu spät eingeladen. Nicht ein Jahr, sondern wirklich wenige Tage vorher wurde uns signalisiert: „Sie können diesen Speicher haben.“ So ungefähr: „Macht damit, was ihr wollt.“ Das haben wir dann auch getan. Die bekannte Zeremonie, genannt „Hommage à Fontana“. Im Dachgeschoss des Fridericianums in Kassel installierten Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker zur „documenta 3“ (1964) eine „Hommage à Fontana“, einen Lichtraum aus sieben Objekten. Die Idee kam übrigens von mir, denn ich hatte bei der ersten documenta ein Bild von Fontana entdeckt. Das hing neben einem Toilettenraum. Das hat mich sehr beeindruckt.

Jedenfalls wurden wir sehr spät eingeladen. Und das verdanken wir nicht der erlauchten Jury, die da getagt hat, sondern Herrn Bode, Arnold Bode (1900 Kassel – 1977 Kassel) war ein deutscher Künstler und Ausstellungsmacher, der als Gründer der documenta in Kassel gilt. 1936 belegte ihn das nationalsozialistische Regime mit Berufsverbot und stufte seine künstlerische Arbeit als „entartet“ ein. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligte sich Bode maßgeblich am Wiederaufbau der Kunstakademie in Kassel und gründete die Gesellschaft Abendländische Kunst des XX. Jahrhunderts e. V., aus der 1955 die erste documenta hervorging. Bei der documenta 2 (1959) und 3 (1964) war Bode als künstlerischer Leiter tätig. Mit der Gründung der documenta, einer internationalen Großausstellung moderner Kunst, trug Bode wesentlich zum Anschluss Deutschlands an die Kunstwelt nach dem Zweiten Weltkrieg bei. der irgendwie mitbekommen hatte, dass wir etwas mit Bewegung und Licht machten. Wir haben wirklich bis zur Erschöpfung gearbeitet und siehe da: Der Erfolg war riesengroß! Dieser Raum wurde jetzt nicht gleich von allen bejubelt, aber er hat allerhöchste Aufmerksamkeit evoziert. Jeder sagte: „Hast du das schon gesehen?“ Das war wirklich ein Highlight. Und dann kamen auch ein paar Leute, die bereit waren, darüber öffentlich zu reden. Ein Mann wie Max Bill, Max Bill (1908 Winterthur, Schweiz – 1994 Berlin) war ein Künstler und Grafiker. Er gilt als Vertreter der Zürcher Schule der Konkreten. Ab 1951 war er mitverantwortlich für die Gründung der Hochschule für Gestaltung Ulm, die er von 1953 bis 1956 als Rektor leitete. Seine Werke waren unter anderem auf der documenta 1 (1955), 2 (1959) und 3 (1964) ausgestellt. mit dem wir gar nichts gemeinsam hatten, hat allen Leuten drei Wochen lang erzählt: „Ihr müsst euch das anschauen!“

Wer das Ganze in Bewegung gebracht hat, weiß ich nicht mehr. In Düsseldorf gab es damals drei Galerien: Die eine zeigte Kunst aus dem 19. Jahrhundert, Galerie Achenbach hieß die, glaube ich. Dann gab es Alexander Vömel. Da gab es den alten Herrn, der schon Mitte der 30er-Jahre eine Galerie auf der Königsallee in Düsseldorf unterhielt. Das war die einzige moderne Galerie. Und dann die Galerie Hella Nebelung, Im Dezember 1945 eröffnete die Balletttänzerin Hella Nebelung (1912 Beuthen, Oberschlesien, heute Polen – 1985 Düsseldorf) Galerieräume in der Hofgartenstraße in Düsseldorf. Neben der abstrakten und informellen Malerei zeigte die Galerie mit Arbeiten von Robert Filliou, Lucio Fontana, Julio Le Parc, Jesús Rafael Soto und Andy Warhol auch Werke der kinetischen Kunst, des Nouveau Réalisme und der Pop-Art. die in einem Trümmerbau das erste Mal die kleine Suite von Kandinsky, diese Holzschnitte, gezeigt hat. Das war auch in dem Stil: „Wer hier raufkommt, muss selbst darauf achten, dass er die Treppe nicht herunterfällt.“ Das war damals alles höchst provisorisch. Sonst gab es nichts.

Bei diesen sogenannten „Abendausstellungen“, die wir sehr ernst nahmen, haben wir die billigsten Postkarten gekauft, die es gab, haben selbst einen Stempel geschnitzt und darauf gedruckt: „Höchst geheimnisvoll!“ Oder sonst irgendetwas Flottes: „Bitte kommen Sie!“ Anfangs waren vielleicht 20 Leute da. Die Hälfte davon waren Familienmitglieder. Heute gibt es drei Ausstellungen über ZERO. 700.000 Menschen haben diese Ausstellungen in Berlin, New York, und in den Niederlanden gesehen. Das ist Weltrekord.

Wann sehen Sie den Durchbruch mit Ihrer Kunst? Ab wann konnten Sie davon leben?

Ich habe immer hart gearbeitet. Ich hatte damals zwei Jahre lang einen bürgerlichen Beruf. Ich musste morgens um acht Uhr in der Schule sein. Meine Ausstellungen habe ich am Wochenende gemacht, und Montag war ich wieder in der Schule. Und Herr Otto Piene rollte sich eine Wellpappe auf dem harten Betonboden aus, auch im Winter – eine Heizung gab es dort nicht –, legte sich dort hin und ging um sieben Uhr rasiert zu seiner Modeschule, wo er Lehrer war. Zwischen 1951 und 1964 unterrichtete Otto Piene als Lehrer an der Modeschule in Düsseldorf. Nebenbei wurde auch noch künstlerisch gearbeitet.

Und Uecker hat sich mit Festen finanziert?

Ach was, der hat gerne gefeiert und getanzt. Das haben wir auch alle gerne getan, wenn die Zeit dafür da war.

Aber er hatte ja nebenbei keinen Beruf?

Man kann auch noch anders Geld verdienen. Das müssen Sie ihn fragen, das weiß ich nicht.

Die vielen Ausstellungen, die Sie dann bestritten, mussten auch logistisch organisiert werden.

Ja, das lief über Briefe. Das war alles nicht so erfreulich. Es gibt Briefe zwischen Yves Klein und Heinz Mack, oder zwischen mir, Castellani und Manzoni, wo es nur darum ging: „Hast du endlich diese zehn D-Mark abgegeben?“ Es musste ja alles bezahlt werden. Es gab keine Sponsoren. Die materiellen Bedingungen waren unheimlich beschämend und kläglich. Das war die reine Armseligkeit. Uns ist nichts geschenkt worden. Es musste sehr hart gearbeitet werden, und alle anderen Interessen – spazieren fahren, Urlaub machen oder einen neuen Anzug kaufen –, das konnte man alles vergessen. Wir haben uns ausschließlich mit Leidenschaft für unsere Kunst eingesetzt. Ich habe den billigsten Nessel gekauft, den man damals bekommen konnte und habe die Verkäuferin angehimmelt: „Haben Sie nicht noch ein Reststück für mich? Bitte, ich habe kein Geld bei mir.“ Die Folge ist, dass heute wirklich stolze Summen ausgegeben werden, um Restaurationsarbeit zu leisten, weil Risse und Sprünge in den Arbeiten sind. Es ist eben einfach schlechtes Material.

Wann ändert sich das? Ab wann gibt es einen Markt für Ihre Kunst? 1967 findet der erste Kölner Kunstmarkt statt.

Also, das kann ich so präzise nicht beantworten. Natürlich sind im Laufe der Zeit Arbeiten von uns gekauft worden, und es gab ein paar Sammler, die unsere Leidenschaft, unsere Interessen direkt oder indirekt geteilt haben. Dennoch haben sie unendlich lange gebraucht, bis sie dazu bereit waren, das Bild zu erwerben. Da wurde ewig verhandelt: „Kann es nicht noch ein bisschen billiger sein?“ Und die großen Stars wie Herr Ludwig, Peter Ludwig (1925 Koblenz – 1996 Aachen) war ein deutscher Industrieller und international agierender Kunstmäzen, der ab 1969 eine der bedeutendsten Sammlungen moderner und zeitgenössischer Kunst aufbaute. Durch Schenkungen und Leihgaben etablierte Ludwig zahlreiche Kooperationen zwischen öffentlichen Trägern und seiner Privatsammlung. Die Stadt Köln erhielt 1976 eine umfangreiche Auswahl seiner Sammlung – unter der Voraussetzung, für diese einen eigenen Präsentationsort, das heutige Museum Ludwig, zu errichten. 1982 gründeten Peter und Irene Ludwig die Ludwig Stiftung für Kunst und internationale Verständigung, die nach dem Tod Peter Ludwigs 1996 in die Peter und Irene Ludwig Stiftung überging. Vgl. Heinz Bude, „Peter Ludwig. Im Glanz der Bilder“, Bergisch Gladbach 1993. der hat mir noch nicht einmal die Hand gegeben, geschweige denn eine Arbeit von mir gekauft.

Dennoch habe ich immer nur von meiner Arbeit gelebt. Ich hatte damals nie das Glück, von einem Sponsor unterstützt zu werden. Meines Wissens hatte auch Piene dieses Glück nicht, und das gilt, soweit ich weiß, auch für Uecker. Ich hatte in Japan eine Professur auf Lebenszeit. Das habe ich alles nach einem Jahr aufgegeben. Die Mentalität der Menschen dort ist so weit von meiner Welt entfernt. Ich habe diese astronomische Distanz nicht überbrücken können. Uecker war 20 Jahre lang Professor. Günther Uecker war von 1974 bis 1995 Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Piene noch länger. Otto Piene übernahm 1972 die Professur für Visual Design of Environmental Art am Massachusetts Institute of Technology und war von 1974 bis 1994 dort Rektor des Center for Advanced Visual Studies (CAVS). Ich habe immer das Bewusstsein gehabt: „Ich, Heinz Mack, muss meine Zeit für meine Arbeit nutzen. Ich habe so viele Ideen. Ich mache weitgehend alles selbst mit meinen Händen. Zumindest, wenn man es noch selbst tragen und bewegen kann. Ich brauche alle Zeit für meine Arbeit.“ Das ist einer der Hauptgründe, warum ich es abgelehnt habe, irgendeiner anderen Professur länger nachzugehen. Wenn einer über 30 Jahre lang Lehrer ist und ein guter Lehrer sein will – und das wollte Uecker –, dann wird damit ein großer Teil der Lebensenergie für die Pädagogik geopfert. Und für die eigene Arbeit ist das ein Verlust. Ich habe mir ein Beispiel an Picasso genommen: Der war auch nie Professor.

In den Texten und Gesprächen, die ich von und mit Ihnen gelesen habe, erwähnen Sie eine Frau: Yayoi Kusama. Yaoyi Kusama (* 1929 Matsumoto, Japan) ist eine Künstlerin, die während der 1960er-Jahre im erweiterten Umfeld der New Yorker Pop-Art arbeitete. Bekannt ist sie vor allem für ihre malerische Ausgestaltung unterschiedlichster Objekte mit Pünktchenmustern sowie für ihre Spiegelräume („Infinity Mirror Room“), die seit 1965 entstehen. 1993 stellte Kusama im Japanischen Pavillon der Biennale von Venedig aus. Können Sie etwas zu den Frauen in der Kunstszene der damaligen Zeit sagen? Gab es die einfach nicht?

Es waren Ausnahmen. Neben Kusama gab es keine weitere Künstlerin, die zu dem ZERO-Spirit ein Verhältnis hatte. Ich hatte zeitweilig eine Freundschaft mit einer Künstlerin – es war sogar etwas mehr als eine Freundschaft –, mit Marisol. Das ist aber eine ganz andere Welt. Kusama hat von sich aus die Nähe zu ZERO gesucht. Wir haben sie nicht explizit eingeladen, sondern sie hat uns aus eigenem Interesse aufgesucht, weil sie wahrscheinlich zeitweilig relativ alleine gearbeitet hat. Sie ist eine ganz großartige Künstlerin. Ihre Leinwandbilder gehören zu dem Besten, was man sich vorstellen kann. Sie hat einfach die Zeit gehabt oder sich die Zeit genommen, mit größter Intensität solch eine Arbeit auszuführen. Die Konsequenz, die dazugehört, ist phänomenal. Sie hat natürlich auch durch ihre Spiegelkabinette großartige, fantastische Raumkonstruktionen geschaffen, die in der Kunst eine ganz neue Bedeutung bekommen haben. In jeder Weise eine außerordentlich lebendige Person, die aber auch im höheren Sinne eine agitatorische Neigung hatte. Es gibt ja Frauen, die ihre Energie wohltemperiert, gleichmäßig ausstrahlen. Aber sie wollte immer „avant“ sein, nach vorne drängen und die Aufmerksamkeit der Welt auf sich ziehen. Und das in einer provokativen Weise. Natürlich sehr schöpferisch. Immer sehr kreativ gemeint. Als ich bei der Biennale von Venedig war, zerrte sie mich weg – und ich hatte dort wirklich alle Hände voll zu tun: „Come, I would like to show you something.“ Da hat sie mich hinter diesen Deutschen Pavillon gezerrt und zog da – das ist dann schon ein bisschen ein Schock – ihre Kleidung aus. Das ging zack, zack. Viel hatte sie nicht an. Mühsam hatte sie sich Punkte auf den ganzen Körper gemalt. Und da stand sie nackt mit ihren Punkten und fragte, ob sie so bei der Vernissage des Deutschen Pavillons auftreten könne. Ich sagte: „Um Gottes willen!“ Ich konnte ja nicht sagen „You are crazy. Forget about it!“ Sie hat sich nicht beirren lassen. Zur offiziellen Eröffnung kam sie splitternackt und hat da ihre Geschichten gemacht.

Und Sie wurden dafür zur Verantwortung gezogen?

Wir sind da keineswegs auf Distanz gegangen. Das war ein künstlerischer Beitrag zum Deutschen Pavillon. Ob das manchen Leuten gefallen hat oder nicht. Von einigen wurde es natürlich nicht ganz ernst genommen. Aber Uecker zum Beispiel hat sich sofort neben sie gestellt und sich für sie eingesetzt.

Neben Kusama gab es keine andere Frau? Wo waren die? Hatten die keine Ideen? Oder mussten die die Kinder hüten?

Das weiß ich nicht. Auch an der Akademie waren kaum Frauen.

Haben Sie sich das nie gefragt? Sie waren viel früher an der Akademie, aber spätestens ab 67, 68 war das ja auch ein Thema in der Gesellschaft.

Es gab keine Frauen, die sich in irgendeiner Form gemeldet haben: „Wir sind auch da.“ Die waren einfach nicht da. Auch in den Ausstellungen, die sonst in den Galerien stattfanden, waren keine Frauen. Das kam alles später. Da ist Kusama wirklich eine Ausnahme. Und es gab zwei, wenn nicht sogar drei Frauen in Mailand. Darunter zum Beispiel Nanda Vigo, Nanda Vigo (* 1936 Mailand) ist eine Künstlerin und Designerin, die sich mit der Wirkung von Licht und Raum beschäftigt. Ab den späten 1950er-Jahren pflegte sie regelmäßigen Kontakt zu Lucio Fontana und den Künstlern der ZERO-Bewegung. 1982 war sie auf der Biennale von Venedig vertreten. wobei sie sich auch sehr bei mir bedient hat. Was ich nicht so gut finde. Also in Mailand waren die Frauen eher da als in Deutschland.

Ich könnte Ihnen zehn Frauen aufzählen, die in den 60er-Jahren gearbeitet haben.

Nennen Sie mal welche.

In Düsseldorf natürlich Katharina Sieverding Katharina Sieverding (* 1944 Prag) wurde in den 1970er-Jahren mit ihren großformatigen Foto- und Videoarbeiten bekannt. Sie studierte ab 1964 an der Kunstakademie Düsseldorf, zunächst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto und ab 1967 in der Klasse von Joseph Beuys. und Ulrike Rosenbach Ulrike Rosenbach (* 1943 Bad Salzdetfurth) ist eine Künstlerin, die insbesondere für Werke mit feministisch-kritischem Inhalt bekannt ist, die sie als Video, Performance oder multimediale Installation ausstellt. Ab 1964 studierte Rosenbach Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf bei Karl Bobek, Norbert Kricke und Joseph Beuys. .

Das ist alles weit von mir entfernt. Das hat mit ZERO gar nichts zu tun. Das ist ja schon fast eine andere Generation.

In den USA zum Beispiel gab es natürlich einige Frauen, die damals schon bekannt waren.

Zu meiner Zeit nicht. Mailand war Weltstadt damals.

Agnes Martin, Agnes Martin (1912 Macklin, Kanada – 2004 Taos, New Mexico) war eine US-amerikanische Künstlerin kanadischer Abstammung, die sich in ihrer minimalistischen Malerei mit dem Verhältnis von Linie und Fläche beschäftigte. Lee Krasner? Lee Krasner (1908 New York – 1984 New York) war eine Künstlerin, deren malerische Arbeiten dem Abstrakten Expressionismus zugeordnet werden. Von 1945 bis 1956 lebte sie einer Ehe mit Jackson Pollock.

Der zweite Name ist mir unbekannt.

Die Frau von Jackson Pollock?

Unbekannt. Mich hat das auch nicht interessiert, welche Frau Jackson Pollock hatte. Das meine ich einerseits im Spaß. Andererseits ist das ernst gemeint. Kusama hat mir nicht umsonst den pinken Pott mit den Penissen drin geschenkt. Das ist nicht selbstverständlich. Da steht irgendwo „For Mack“.

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Heinz Mack