Concots, 18. November 2016
Franziska Leuthäußer: Fragen, die Sie sich wahrscheinlich gar nicht mehr stellen würden, sind für die jüngere Generation alles andere als selbstverständlich. Vieles ist in Vergessenheit geraten …
Bettina von Arnim: Durch meine beiden Töchter und durch meine Enkel weiß ich, dass die historischen Gegebenheiten durcheinandergeraten können. Und auch, dass vieles heute nicht mehr vorstellbar ist. Ich fange mit einer Geschichte aus dem Kuhr-Atelier an: Fritz Kuhr Fritz Kuhr (1899 Lüttich, Belgien – 1975 West-Berlin) studierte von 1923 bis 1927 bei Wassily Kandinsky und Paul Klee an der Bauhausschule in Weimar und Dessau. In den Jahren 1929/30 war er dort Lehrer für gegenständliches Zeichnen, Akt und Porträt. Aufgrund des zunehmenden politischen Drucks verließ Kuhr 1930 das Bauhaus und ging nach Berlin. 1934 wurde er wegen seines Namens von der NSDAP als Jude diffamiert und mied von da an die Öffentlichkeit. 1948 wurde Kuhr als Hochschullehrer für Kunstpädagogik an die Hochschule für Bildende Künste in Berlin berufen. war Professor für Malerei an der kunstpädagogischen Abteilung in Berlin-Schöneberg. Sein Atelier lag oben unter dem Dach, über dem Kleistpark. Vor den Fenstern flogen immer die Tauben herum. Wir hatten Hunger und wollten die Tauben fangen, um sie zu braten. Wir lockten sie ins Atelier und schlossen die Fenster. Die Tauben hüpften von Staffelei zu Staffelei, während wir Studentinnen und Studenten damit begannen, auf dem Fußboden ein Feuerchen zu machen. Im Atelier standen viele Terpentinflaschen herum und wir bekamen es mit der Angst zu tun, löschten das Feuer, öffneten die Fenster und scheuchten die Tauben wieder hinaus. Jahrzehnte später, als ich meinen Kindern – nun selbst Studentinnen – diese Begebenheit erzählte, konnten sie sich nicht vorstellen, dass wir damals ständig zu wenig – oder zu schlecht – zu essen hatten.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Begegnung mit der Kunst?
Da müsste ich auf Wiepersdorf zurückkommen, auf diesen wunderschönen Park mit seinen hohen Bäumen und exotischen Pflanzen. 1870 erwarb der preußische Diplomat Joachim Erdmann von Arnim das in Brandenburg gelegene Schloss Wiepersdorf und die dazugehörigen Ländereien. Während des 19. Jahrhunderts war das Gut unter anderem Wohnsitz für die Dichter Achim und Bettina (geb. Brentano) von Arnim. 1945 wurden die Nachkommen der Familie von ihren Wohnorten Zernikow und Wiepersdorf in der Mark Brandenburg vertrieben. Heute dient das Anwesen unter dem Namen „Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf“ Künstlern als Atelier und Wohnort. Der Park ist von dem Maler Achim von Arnim Achim von Arnim-Bärwalde (1848 – 1891) war ein Historienmaler. Während der 1880er-Jahre veranlasste er wesentliche Umbauten am Schloss Wiepersdorf sowie die Gestaltung der anliegenden Parkanlage. , einem Enkel der Dichter, angelegt worden. Von Zernikow aus sind wir oft dorthin gefahren. Besonders schön war es im Mai, am Geburtstag meiner Großmutter. Meine Mutter erzählte später, ich hätte da als Dreijährige unter dem Flügel gesessen und Affen gezeichnet, Affen, die in Palmen schaukeln, und sicher sei der Park und die künstlerische Atmosphäre anregend gewesen. Meine Tante und älteste Schwester meines Vaters, die Malerin Bettina Encke, Bettina Encke von Arnim (1895 Zernikow – 1971 Waldbröl) studierte von 1917 bis 1920 unter anderen bei Leo von König an der Malschule des Vereins für Künstlerinnen und Kunstfreundinnen zu Berlin. Sie widmete sich in ihrem künstlerischen Werk der Porträt- und Landschaftsmalerei. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs trug sie mit der Gründung der Arbeitsstätte für Schriftsteller wesentlich zum Erhalt des Schlosses Wiepersdorf bei. war durch die Berliner Ateliers mit Fritz Kuhr befreundet. Dieser hatte als „entarteter Künstler“ Kunst, die mit der faschistischen Ideologie und Propaganda nicht vereinbar war, wurde von den Nationalsozialisten verboten und vernichtet, Künstler wurden als „entartet“ eingestuft. Ab 1933 wurden Werke in Ausstellungen öffentlich denunziert. Viele Künstler erhielten ein generelles Ausstellungs- und Malverbot. 1937 wurde Adolf Ziegler, Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, von Joseph Goebbels ermächtigt, Kunstwerke aus den Museen einzuziehen. Im gleichen Jahr eröffnete in den Münchener Hofgarten-Gebäuden die Ausstellung „Entartete Kunst“. Dort wurde die gesamte moderne Kunst verhöhnt. Insgesamt wurden etwa 16.000 Werke der Malerei, Skulptur und Grafik beschlagnahmt, viele davon zerstört oder verkauft. während des Nationalsozialismus Malverbot. Großmutter Agnes Agnes von Arnim (geb. Agnes von Baumbach; 1874 Lichtenstern – 1959 Nentershausen) war die Mutter von Bettina Encke und Friedmund von Arnim. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Erwin von Arnim (1862–1928) leitete sie ab 1891 die Güter in Zernikow. hat ihn dann in Wiepersdorf aufgenommen. Dort konnte er sich endlich satt essen. Schon am Bauhaus Das Staatliche Bauhaus, 1919 von Walter Gropius in Weimar gegründet, zog wegen politisch motivierter Etatkürzungen des Lands Thüringen 1925 nach Dessau um. 1932 veranlassten die Nationalsozialisten die Schließung der Kunstschule. Als private Einrichtung bestand das Bauhaus in Berlin-Lankwitz noch bis 1933 und wurde dann nach anhaltendem Druck der Nationalsozialisten endgültig aufgelöst. Siehe auch: Magdalena Droste, „Bauhaus: 1919–1933. Reform und Avantgarde“, Köln 2015. , als es nach Dessau umgezogen war und schließlich ganz verboten wurde, hatte er wegen mangelnder Ernährung Muskelschwund. Fritz Kuhr erzählte, offiziell habe er im Wald gearbeitet, die echten Waldarbeiter hätten den Intellektuellen aus Berlin geholfen, sie hätten ihnen schwere Holzstücke gereicht und gezeigt, wie man Axt und Säge hält. Denn wäre ihre Ungeschicklichkeit aufgefallen, wären sie abgeführt worden.
Unter den Waldarbeitern gab es Dr. Iwan Katz, der kommunistischer Abgeordneter im Reichstag in der Weimarer Republik gewesen war. 1945 erhielt er einen Verwaltungsposten in Potsdam. Durch seinen Einfluss wurde die wertvolle Wiepersdorfer Bibliothek gerettet. Die ganze Gutsanlage wurde, dank meiner Maler-Tante, vor dem Abriss bewahrt. Am 23. April 1945 kamen die Sowjets, die Russen, und wohnten im Schloss. Die Bewohner wurden vertrieben, dennoch versuchte meine Tante, in dem Chaos noch einiges zu retten. In einem Biwakfeuer im Park hat sie am Morgen in der Asche gestochert und einen halb verbrannten Brief von Beethoven gefunden. Ich fürchte, inzwischen ist die ganze Bibliothek verloren. Seit 1946 war sie in der Anna Amalia Bibliothek in Weimar und die ist ja vor einigen Jahren abgebrannt. Am 02. September 2004 kam es in der historischen Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar aufgrund einer defekten Elektroleitung zu einem Brand. Dabei wurden große Teile des Gebäudes sowie mehr als 50.000 Bücher zerstört.
Sie haben als Kind schon Bilder Ihrer Tante gesehen?
Ich habe alles Mögliche gesehen. Ich habe auch ein Gemälde von Carl Blechen Carl Blechen (1798 Cottbus – 1840 Berlin) war ein Landschaftsmaler. Kennzeichnend für seine Arbeiten ist vor allem die realistische Darstellung des Lichts. Von 1831 bis 1836 unterrichtete er als Professor an der Akademie der Künste in Berlin. gesehen, das ich Jahrzehnte später in der Berliner Nationalgalerie wiederentdeckt habe.
Der Blechen hing bei Ihnen zu Hause?
Das Bild hing in Zernikow. Jetzt muss ich weiter ausholen, Jahrhunderte zurück zu meiner Ururgroßmutter Bettina von Arnim, geborene Brentano, Bettina von Arnim (geb. Elisabeth Catharina Ludovica Magdalena Brentano; 1785 Frankfurt am Main – 1859 Berlin) war eine Schriftstellerin und Dichterin, die zu den einflussreichsten Vertreterinnen der deutschen Romantik zählt. Die Tochter des Frankfurter Großkaufmanns Peter Anton Brentano heiratete 1811 den jungen Schriftsteller Achim von Arnim (1781 Berlin – 1831 Wiepersdorf). Bekannt wurde Bettina von Arnim insbesondere mit ihren als Briefwechsel angelegten Romanen, darunter „Goethes Briefwechsel mit einem Kinde“ (1835) und „Die Günderode“ (1840). die Carl Blechen unterstützt hat. Sie wollte, dass er noch einmal nach Italien reisen könne, aber dessen Frau war dagegen, weil er krank war. Auf einer Auktion hat meine Ururgroßmutter dieses Bild gekauft, ein wunderschönes Bild: „Blick auf den Golf von Neapel“. Carl Blechen, „Blick auf den Golf von Neapel“, um 1832. Später hat es mein Großvater Erwin meiner Großmutter Agnes zur Hochzeit geschenkt. Als Kind hatte ich es zuletzt gesehen und ich war völlig verzaubert, als ich es 1990 in der Nationalgalerie wiedersah.
Kunst hatten Sie also von klein auf um sich?
Das war eine Selbstverständlichkeit. Als Vierjährige konnte ich zeichnen, aber noch nicht schreiben. Wenn ich während der Flucht Nachdem der Vater Bettina von Arnims 1945 von sowjetischen Soldaten verhaftet worden war, floh ihre Mutter Anfang 1946 mit sechs Kindern zunächst nach Berlin und im Sommer des gleichen Jahrs nach Tommelhardt in Baden-Württemberg. einen Zettel oder ein Bilderbuch hatte, war alles nicht so schlimm. Wenn ich mit meinem kleinen Bruder zusammen auf dem Stroh lag, sah ich in den bräunlichen Flecken der Zimmerdecke, wie mein Vater als Reiter durch die Wolken daherkam. In ihrem Buch „Der grüne Baum des Lebens“ Clara von Arnim, „Der grüne Baum des Lebens. Erinnerungen einer märkischen Gutsfrau“, Bern 1989. schreibt meine Mutter etwas abschätzig: „Bettina driftete in die Fantasie ab.“ Kunst gehörte einfach dazu, vor allem durch meine Tante. Sie hat mich nach dem Krieg zum Aquarellieren mitgenommen und mir am Beispiel von Holunderblüten gezeigt, wie man Weiß ausspart.
Nach Ihrem Abitur war der Weg zur Kunst dennoch nicht selbstverständlich. Sie schreiben in Ihrem Buch: „Die Kunst konnte ja nichts.“ Bettina von Arnim, „Taubentürme. Wie ich in Frankreich mein Zuhause fand“, Frankfurt am Main 2003, S. 11.
Kunst kann nicht helfen. Gegen das Leiden in der Welt kommt Kunst nicht an. Nach dem Abitur arbeitete ich in der Diakonissenanstalt von Schwäbisch Hall als Krankenschwester. Das habe ich gerne gemacht, weil ich den Eindruck hatte, wirklich helfen zu können. Gut, die Bibelstunde abends …, aber man war für die Menschen da, denen es nicht gut ging. Eines Tages kam ein Brief und die Oberschwester rief: „Schweschter Bedina! Sie habet Boscht! Aus Berlin!“ Der Brief war von Professor Kuhr. Er schrieb, ich sei bei ihm in die Malklasse in Berlin aufgenommen.
Heißt das, die Entscheidung war schnell getroffen, als die Kunst rief?
Ich hätte es so oder so gemacht, aber das war ein Zeichen. Später habe ich noch einmal einen „sozialen Rappel“ bekommen, als ich die Ruine im Weiler Roquecave hier unten im Südwesten Europas hatte. Die war sehr schön, mit zwei Taubentürmen und zwei Scheunen. Da dachte ich an das Albert-Schweitzer-Kinderdorf in Waldenburg, für das ich als Schülerin das Label gezeichnet hatte. Ich wollte in Roquecave ein französisches Kinderdorf gründen. Damals hat mir dann eine Bekannte aus Berlin, die Leiterin der kunsttherapeutischen Abteilung der Nervenheilanstalt, ein großes Bild abgekauft – „Naturschutz“ Bettina von Arnim, „Naturschutz“, 1974. ist der Titel – und gesagt: „Das lässt du jetzt sein. Deine Aufgabe ist die Malerei.“
Wenn aber die Kunst nicht helfen kann und man Hunger hat, warum haben Sie sich dann in den frühen 60er-Jahren doch dafür entschieden? Warum war Kunst in der Zeit wichtig?
Man ist so geboren. Ich komme noch mal auf die Zeit um 1945 zurück. Meine Maler-Tante kam nach dem Einmarsch der Russen ins Gefängnis, weil sie in Wiepersdorf ein Künstlerheim für Schriftsteller gegründet hat. Die Siedler dachten, sie wollte ihnen Land wegnehmen. Sie wurde denunziert. Und auch ihre Tochter, meine Cousine, saß im Gefängnis. Als einmal das Thema aufkam: „Kann Kunst helfen? Wenn man Hunger hat, ist Kultur doch völlig unnütz“, erzählte sie über ihre Zeit im Gefängnis: Morgens bekam sie ein kleines Stück matschiges Graubrot durch die Klappe gesteckt. Daraus hat sie Figürchen geformt. Daran hat sie sich den ganzen Tag lang erfreut und abends hat sie sie gegessen. In ihrer Not hat sie das seelisch über Wasser gehalten. Von Nutzen, Rentabilität und so weiter kann man ja gar nicht sprechen, wenn es um Kunst geht.
Also konnte die Kunst vielleicht doch helfen?
Ja? Gegen was?
Sie haben es eben beschrieben: Sie lagen mit Ihrem kleinen Bruder im Stroh und das Zeichnen hat Sie überleben lassen.
Ja, vielleicht hilft es gegen das Böse? Ich kann es jetzt nicht beantworten.
Das haben Sie auch früher schon über den „Kyborg“ Bettina von Arnim, „Kyborg“, 1970. gesagt: Indem Sie das Böse artikulieren, formulieren, malen …
Stimmt. In dem Film von Riki Kalbe Riki Kalbe (1941 Wuppertal – 2002 Berlin) war eine Filmemacherin und Fotografin. 1987 drehte sie unter dem Titel „Ohne Nachtigallen“ einen Kurzfilm über Bettina von Arnim. habe ich das, glaube ich, so formuliert: „Angst haben wir vor dem Unbekannten. Bezeichnen wir die Angst, schwindet sie.“ In dem Film wird der Vergleich mit den Wasserspeiern von der Kathedrale in Cahors gezogen, mit diesen teuflischen Fratzen. Die Wasserspeier an den Kirchen des Mittelalters sollten die Altarseite schützen. Wenn die Dämonen angeflogen kommen und ihre Fratzen wie im Spiegel sehen, kriegen sie Angst vor sich selbst und machen kehrt. Ein Bann. Und als Bann habe ich auch unbewusst diese Maschinenkerle, diese Cyborgs, gemalt. Solche technischen Geräte sind keine netten kleinen Dinger, sondern Panzer, Flugzeuge, Atombomben und so weiter. Maina, Maina-Miriam Munsky (1943 Wolfenbüttel – 1999 Berlin) war eine Künstlerin, die dem Umfeld des Kritischen Realismus zugerechnet wird. Zwischen 1962 und 1970 studierte sie unter anderen bei Peter Voigt und Hermann Bachmann in Braunschweig und Berlin. 1968 zeigte sie als erste Frau eine Einzelausstellung in der Selbsthilfegalerie Großgörschen 35. In den 1970er-Jahren gehörte sie zu den Mitbegründerinnen der Gruppe Aspekt. Munsky und Bettina von Arnim waren die einzigen Frauen unter den elf Mitgliedern. eine Freundin der Gruppe Aspekt beziehungsweise Kritischer Realismus, Die Gruppe Aspekt wurde 1972 von elf Berliner Künstlern und Künstlerinnen – darunter Bettina von Arnim, Ulrich Baehr, Maina-Miriam Munsky und Peter Sorge – gegründet. Sie propagierten einen künstlerischen Realismus, der gesellschaftspolitische Themen aufgreifen und reflektieren sollte. Unter dem Titel „Prinzip Realismus“ zeigte die Gruppe zwischen 1972 und 1974 eine Wanderausstellung in mehreren europäischen Ländern. Direkte Vorläufer der Gruppe Aspekt waren die Kritischen Realisten, die sich ab Mitte der 1960er-Jahre im Umfeld von Großgörschen 35 gruppierten. Siehe auch: Michael Nungesser, „Politischer Realismus. Konsumgesellschaft am Pranger“, in: „Aufbruch Realismus. Die neue Wirklichkeit im Bild nach ’68“, hg. von Dieter Brunner, Ausst.-Kat. Städtische Museen Heilbronn, Bielefeld 2012, S. 123–141. sagte einmal: „Ich male gegen die Angst an.“ Sie malte klinische Geburten und ich malte Cyborgs. Wir waren uns einig: Im Grunde haben wir das Gleiche vor.
Sie sind für das Studium nach Berlin gegangen und haben in der Klasse von Fritz Kuhr begonnen. Was wurde dort gelehrt? Waren das klassische anatomische Studien vor Modellen? Oder hat er auch versucht, eine Geisteshaltung zu vermitteln?
Alles. Er war ein guter Pädagoge. Wie gesagt, es sind mehrere Künstler aus seinem Atelier hervorgegangen. Aktzeichnen und Studien vor der Natur waren Pflicht. Für die Malerei lernten wir von der Pike auf: Leinwände grundieren, nur die Grundfarben verwenden, alles. Fritz Kuhr philosophierte gerne. An der Abteilung Kunstpädagogik in der Grunewaldstraße belegten wir auch die Fächer Architektur, Schrift und Kunstgeschichte.
Wie würden Sie die Stimmung damals in Berlin beschreiben?
Ich kam 1960 zum Sommersemester. Viele Studenten zogen nach Berlin, weil es dort keinen Wehrdienst gab. Schon dadurch war das Klima unter uns jungen Leuten ein anderes als – sagen wir mal – in Heidelberg mit den schlagenden Verbindungen. Oft bin ich zu Fuß nach Ost-Berlin gegangen, nach Berlin-Mitte. Dort habe ich skizziert. Die Ruinenstadt faszinierte. Zum Beispiel habe ich eine skripturale Federzeichnung vom Berliner Dom gemacht. Bettina von Arnim, „Der Berliner Dom“, 1961. Unheimlich, diese verbrannten Engel, diese verbogenen Stahlgerüste ohne Steinbekleidung, die schwarzen Figuren auf den Dächern …
Vor dem Neuen Museum saß ich einmal auf der großen Treppe, das Tintenfässchen neben mir, und zeichnete den leeren Platz. Auf dem hatte das Stadtschloss gestanden, das 1951 gesprengt worden war. Nun diente er als Paradeplatz für die Volksarmee. Ich begann, den leeren Raum, nur durch Laternenpfosten markiert, darzustellen. Und auf einmal kam eine ganze Armee von der entfernten Tribüne her näher und näher. Sie machte vor der Treppe halt. Mir wurde Angst und Bange. Ein Offizier schritt zu mir hoch, guckte in das Tintenfässchen, auf das Zeichenpapier, dann entwarnte er mit einem abfälligen „Pft“. Er machte kehrt und mit ihm die ganze Armee.
Das war noch vor dem Mauerbau Entlang der Grenze zwischen den Sektoren der Westmächte und der Ostzone begann die DDR am 13. August 1961 den Großraum Berlin mit einer 46 Kilometer langen Mauer abzugrenzen. Gesichert wurde die Betonmauer durch Sperrgebiete, Gräben und Wachtürme. Bis zu ihrer Öffnung am 09. November 1989 ließen mehr als 130 Personen bei Fluchtversuchen an der Mauer ihr Leben. Die Mauer gilt als wichtiges Symbol des Kalten Kriegs sowie des geteilten Deutschlands. ?
Kurz davor. Am 13. August 1961 wurde die Mauer gebaut.
Waren Sie sich damals über die politische Situation im Klaren? Als Kind hat man eine Kinderwelt. Und irgendwann zerfällt diese Kinderwelt … durch Erfahrungen, durch Wissen und so weiter. Aber wann werden einem komplexe geschichtliche Bedeutungszusammenhänge klar? Sie sind 1940 geboren. Wann begannen Sie zu begreifen, was damals passiert ist?
Ich begreife jetzt wieder nicht, was in Aleppo passiert. Hunderttausende Menschen verhungern und werden bombardiert. Was ich als Vierjährige erlebt habe, muss traumatisierend gewesen sein, die Vergewaltigung unseres Kindermädchens … Das ist sehr relativ mit der Kindheit.
Das ist unmittelbare Gewalt. Aber waren Sie sich auch der politischen Situation bewusst? Gab es so etwas wie ein Schulderbe? In Ihrem Buch schreiben Sie von der Zeit, in der Sie als Schülerin in den USA waren. Vgl. Bettina von Arnim, „Taubentürme. Wie ich in Frankreich mein Zuhause fand“, Frankfurt am Main 2003. Wie hieß Ihre Freundin dort?
Mimi, meine amerikanische Schwester Marianna.
Sie wurden als ihre amerikanische Schwester vorgestellt, weil das einfacher war als zu erklären, dass sie Deutsche waren?
Nein, ich lebte als „German Girl“ ein Jahr lang in ihrer Familie. Das AFS-Stipendium ist für Schüler. Der American Field Service war eine Organisation für den Frieden, eingerichtet von US-Sanitätern während der Weltkriege. 1957 kam ich in die Familie nach Cambridge, Massachusetts, und ging dort auch zur Schule. Vorher hatte ich am Gymnasium in Schwäbisch Hall guten Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde gehabt, prägend für das politische Bewusstsein. Aber Schulderbe? Demnach war ich doppelt schuldig: deutsch und adelig. Auf dem Schiff, während der Hinfahrt, ließ mich ein Offizier zu sich kommen und fragte, ob ich aus der Familie des berühmten Generals sei. Er meinte den Nachfolger von Rommel. Im März 1943 wurde Hans-Jürgen von Arnim (1889 Ernsdorf, Schlesien, heute Polen – 1962 Bad Wildungen) Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Afrika. Er übernahm die Befehlsgewalt von dem nach Deutschland abberufenen Generalfeldmarschall Erwin Rommel. – „Nein, von keinem Militär! Ich bin von den Dichtern.“ Meine amerikanische Schwester spielte sehr gut Bratsche und wollte mich einmal zu ihrem Lehrer Wulfi Wulfinson mitnehmen. Aber der sagte: „Nein, eine Deutsche kommt mir nicht ins Haus. Wie heißt sie denn?“ Mimi nannte meinen Namen. „Ah, Brentano, eine Italienerin, sie darf kommen.“
„Deutsch sein“ – diese Ablehnung von bestimmten Leuten: „Eine Deutsche kommt mir nichts in Haus“, wie haben Sie sich das erklärt? Spätestens da waren Sie mit dem Schulderbe konfrontiert. Auch wenn das vielleicht nur die Projektion von außen ist und man sich selbst gar nicht damit identifiziert.
Nach dem Krieg hat meine Mutter in das sogenannte Kupferhäuschen eine gebildete, sensible Frau aufgenommen. Und dann gab es Tante Marielies, eine der jüngeren Schwestern meines Vaters, eine ganz Liebe, die uns Kinder gut versorgte. Ich war Indianer, ich konnte gut schleichen und lauschen. Manchmal rief die Tante: „Ihr macht ja einen Krach wie in der Judenschule.“ Abends, hinter der Tür hieß es dann: „Fräulein Marielies, so etwas darf man nicht sagen.“ – „Ach, das sagten wir früher immer.“ – „Ja, wissen Sie denn nicht?“ Oder: „Die ließen sich doch abschlachten wie die Lämmer.“ – „Haben Sie denn nie etwas vom Aufstand im Warschauer Ghetto gehört?“
Diese etwas individuelle Freisprache war mit ein Grund, weshalb ich hier in den Südwesten Frankreichs, in dieses damals noch bäuerliche Land gezogen bin. Mit wenig Geld, für ein Aquarell, hatte ich die Ruine mit den Taubentürmen gekauft. Wir Kunststudenten aus Berlin, drei blonde Hünen, meine Freundin Heidi und ich, sind in abenteuerlichen Autofahrten über mehrere Grenzen bis hierher gefahren, um das Dach zu decken. Sonntags hieß es: Betriebsausflug, kein Dachdecken. Wir erkundeten ein Schlösschen in der Nähe. Es war verlassen, von Efeu überwuchert und die Mauer seiner Einfriedung zerfallen. Innen, in einem Saal, sahen wir auf der großen Kaminwand das Lothringerkreuz Zwischen 1940 und 1944 diente das Lothringer- bzw. Patriarchenkreuz, das ein Kreuz mit zwei unterschiedlich langen Querbalken zeigt, dem französischen Widerstand als Symbol und Erkennungszeichen. , Rot auf Schwarz. Wir verstanden: Hier haben wir Deutschen nichts zu suchen. Durch Brombeerdornen kletterten wir wieder nach draußen in das grelle Tageslicht. Vor uns stand ein Schäfer, neben ihm sein Hund, hinter ihm seine Herde. „Qu’est-ce que vous faites ici?“ Die anderen konnten kein Französisch. Ich gab vor, mein Hund sei entlaufen. Das sei hier keine Geschichte von Tieren, sondern von Menschen, sagte er streng. Er machte ein Zeichen in der Luft, ob wir das gesehen hätten? Wir nickten betreten. Dann fragte er jeden einzeln nach seinem Geburtsjahr. Wir sind alle um 1940 herum geboren. Einem nach dem anderen reichte er die Hand – „Vous étiez trop petit, vous n’êtes pas coupable“ – und sprach jeden von uns von der Schuld frei.
Sie sind 1962 nach Paris gegangen. Wiederum mit der Unterstützung Ihres Professors.
Die Maison de France de Berlin vergab das Stipendium für die École nationale supérieure des beaux-arts de Paris.
Kuhr hat sie dort vorgeschlagen. War das für Sie auch ein erster Befreiungsschlag, aus Deutschland rauszukommen?
Sowohl in den USA als auch in Paris war ich erstaunt, wie nett man zu Jugendlichen war, dass man ihnen half und dass sie Spaß haben sollten. Ich ging gerne zur Schule, auch in Deutschland, am liebsten für das Fach Geometrie.
Weil Sie etwas klären wollten?
Weil Mathematik auf Naturgesetzen beruht. Laut Platon sind die Grundformen Kegel, Würfel und Kugel uns Menschen eingeboren. Das gibt es ja in der Natur so nicht, die Erde ist nicht kugelrund. So etwas fasziniert mich.
Sie haben es eben schon angedeutet: Sie haben in Ihren Bildern das Objekt Ihrer eigenen Angst dargestellt. Sie haben sich aber nicht unmittelbar auf gesellschaftlich-politische Ereignisse bezogen. Wo haben Sie die Themen für Ihre Arbeiten hergenommen? Und wo wollten Sie damit hin?
In der Malerei geht es um eigene Bilderfindungen, um die Übersetzung, nicht um die Illustration von Ereignissen. Bildnerische Anregungen kamen von den Ritterrüstungen der Ahnen und gingen über in die Astronautenanzüge der Raumfahrt, alles Hülsen, wie von Käfern, die ihre Knochen außen haben. Da war rein optisch schon alles beisammen.
Auch die Landschaft?
Das kam später. Die Maschinenkerle wurden dann in der von ihnen selbst zerstörten Landschaft beerdigt. Es blieben ihre Spuren.
Wie sind Sie mit Ihren männlichen Kollegen zurechtgekommen?
Ach, die waren doch prima. Bis auf Großgörschen Unter dem Namen „Großgörschen 35“ schlossen sich 1964 in Berlin-Schöneberg 14 Maler, darunter Markus Lüpertz, K.H. Hödicke, Lambert Maria Wintersberger und Arnulf Spengler, zu einer Ausstellungsgemeinschaft zusammen. In einer leer stehenden Fabriketage in der Großgörschenstraße 35 mieteten sie Räumlichkeiten an, um regelmäßig Einzel- und Gruppenausstellungen zu realisieren. Die Künstlergemeinschaft bestand in wechselnden Zusammensetzungen bis 1968. .
Inwiefern war Großgörschen eine Ausnahme?
Wir Freundinnen der Herren Genies waren so blöd und haben sie bedient, ihre Leinwände grundiert und so weiter. Ich saß in einem kalten Vorzimmer von Großgörschen und hütete Ausstellungen, die im Winter kaum jemand besuchte. Einmal kam Professor Mac Zimmermann Mac Zimmermann (eigtl. Heinz Hans Oskar Zimmermann; 1912 Stettin, Pommern, heute Polen – 1995 Wasserburg am Inn) war ein Maler und Grafiker. Von 1958 bis 1964 unterrichtete er als Professor an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Seine Arbeiten waren unter anderem 1948 auf der Biennale von Venedig und 1959 auf der „documenta 2“ ausgestellt. , der Grafiker, und sagte: „Was machst du denn hier? Zeig mal, was ist denn das unter dem Tisch?“ Ich zeigte ihm die Radierung, an der ich gerade arbeitete. „Komm sofort raus hier.“ Er hat mir dann eine Beteiligung an der „Großen Kunstausstellung“ Der Künstlerverbund im Haus der Kunst München e. V. richtete ab 1949 jährlich die „Große Kunstausstellung“ aus. Seit 2013 trat an die Stelle der Ausstellung eine Biennale sowie eine Veranstaltungsreihe. Bettina von Arnim war in der „Großen Kunstausstellung“ zwischen 1966 und 1973 jährlich vertreten. in München vermittelt. Ansonsten hieß es: „For men only.“ Nur Mainas Mann, Peter Sorge, Peter Sorge (1937 Berlin – 2000 Berlin) zählt zu den Vertretern des Kritischen Realismus. Mit Hans-Jürgen Diehl, K.H. Hödicke, Markus Lüpertz und anderen gründete er 1964 die Ausstellungsgemeinschaft Großgörschen 35 in Berlin-Schöneberg. hat immer geguckt, dass sie auch eine Ausstellung bekam oder dass beide gleichzeitig ausstellten. Daher war Maina auch die einzige Frau, die in Großgörschen ausgestellt hat.
Worin lag die Motivation dieser Männer, sich so zu verhalten?
Vielleicht wollten sie dominieren. Markus Lüpertz sagte einmal in einer Kneipe zu mir: „Eine Frau, die malt, kommt mir nicht ins Haus!“ – „Da will ich auch gar nicht hin.“ Ein andermal, im Eingang zur Akademie der Künste, sagte er lachend: „Aber ins Museum willst du doch! Da wollen wir alle rein.“ Es ist Heinz Ohff Heinz Ohff (1922 Eutin – 2006 Berlin) war ein deutscher Kunstkritiker und Journalist, der von 1961 bis 1987 das Feuilleton des „Tagesspiegels“ in Berlin leitete. zu verdanken, dass Großgörschen so stark bemerkt wurde. Er hat sehr gute Artikel im „Tagesspiegel“ geschrieben.
Was waren die Themen in den Gesprächen mit Ihren Künstlerkollegen? Haben Sie sich hauptsächlich über Kunst unterhalten?
Eher selten.
Worüber hat man gesprochen?
Über Ausstellungsplanung oder Kataloglayout. So gab es für die Ausstellung in den Messehallen am Funkturm mit der Gruppe Aspekt, mit Wolfgang Petrick und Arwed D. Gorella, die Verabredung, jeder solle drei großformatige Bilder einreichen, um in der juryfreien „Freien Berliner Kunstausstellung“ positiv als Einheit aufzufallen. Mit meinen drei Bildern wurde ich dann in den Deutschen Künstlerbund aufgenommen.
Inwiefern waren Figuration und Abstraktion gerade in Berlin an der Hochschule ein Thema? An der Berliner Akademie waren ja die informellen Maler – Fred Thieler, Hann Trier …
Nach Johnny Friedlaender in Paris und Mac Zimmermann in Berlin habe ich bei Fred Thieler Druckgrafik gemacht, bis ich eine eigene Radierpresse hatte. Hann Trier war ein sehr guter Maler, sprach fließend Französisch, lehrte aber am Steinplatz. Der Streit zwischen Will Grohmann und Karl Hofer Im Februar 1955 veröffentlichte der Maler und Direktor der Berliner Hochschule für Bildende Künste Karl Hofer (1878 Karlsruhe – 1955 Berlin) die Artikel „In eigener Sache“ („Der Tagesspiegel“, 25.02.1955) und „Zur Situation der Bildenden Kunst“ („Der Monat“, Heft 77). Auf polemische Weise äußerte er darin grundlegende Kritik an der dominanten Rolle der Abstraktion. Den Einwänden begegnete der Kunstkritiker Will Grohmann (1887 Bautzen – 1968 Berlin) nur einige Wochen später mit seinem Beitrag „Der Kritiker ist für die Kunst. Ein neuer Diskussionsbeitrag“ („Der Monat“, Heft 78). Darin unterstrich er die Unzeitmäßigkeit einer gegenständlichen Kunst. Der Streit führte zu einer anhaltenden Debatte über den allgemeinen Stellenwert von Abstraktion und Realismus. Siehe auch: Myriam Maiser, „Der Streit um die Moderne im Deutschen Künstlerbund unter dem ersten Vorsitzenden Karl Hofer“, Berlin 2007, digitale Dissertation, abrufbar unter: http://d-nb.info/988162512/34 (eingesehen am 05.05.2017), sowie o. A., „Hofer“, in: „Der Spiegel“, Nr. 16, 1955, S. 50. entbrannte damals erneut: Westkunst – Ostkunst, Abstraktion – (Sozialistischer) Realismus.
Inwiefern spielte dieser Streit für Ihre Ausbildung eine Rolle?
Gerade weil die perspektivische Darstellung verpönt war, nutzte ich sie, jetzt extra! Anstelle von diesem Entweder-oder suchte ich nach einer Mischung, sozusagen nach einer abstrakten Figur, und in den späteren Arbeiten nach der Verbindung von Geometrie und Atmosphäre.
Sie sagten, es gab mehrere Kunstszenen in Berlin und es gab zwei Berlins. In welcher Kunstszene bewegten Sie sich?
Die Ausstellungen im Haus am Waldsee interessierten mich und selbstverständlich die Museen. Als Referendarin für Kunsterziehung fuhr ich öfters mit meinen Schülern nach Dahlem hinaus. Abgesehen von den Gruppenmitgliedern von Aspekt war ich mit der Filmerin Riki Kalbe und dem Karikaturisten Rainer Hachfeld Rainer Hachfeld (* 1939 Ludwigshafen am Rhein) ist ein Karikaturist, Bühnenbildner und Autor. Als Redakteur und freier Mitarbeiter war er unter anderem für die Zeitschriften „konkret“ und „Stern“ tätig. Bekannt wurde er vor allem durch seine Karikaturen des CSU-Politikers Franz Josef Strauß, für die er sich vor Gericht verantworten musste. Im Rahmen der Auseinandersetzungen wurde auch sein Plakat „Sammlungsbewegung zur Rettung des Vaterlands“ (1970) zensiert. 2001 erhielt Hachfeld den Deutschen Preis für die politische Karikatur. Siehe auch: Otto Köhler, „Unkarikierbarer Strauß, in: „Der Spiegel“, Nr. 44, 26.10.1970, S. 127. befreundet. Er hatte Franz Josef Strauß in Form eines Hakenkreuzes auf einem Plakat dargestellt. Daraufhin führte Strauß einen Zivilprozess gegen Hachfeld. Niemals hätten meine Freunde den Prozess bezahlen können. Der Kuckuck klebte schon auf den Möbeln, sogar auf dem Kinderwagen ihres kleinen Sohns. Riki gründete daraufhin die „Freiheitsbewegung zur Rettung der Karikatur“ und Rainer zeichnete ein weiteres Plakat. Das Plakat mit den Raben in den Ringen der Münchener Olympischen Spiele verkaufte sich gut. Wir feierten den Erfolg mit einer Riesenpizza. Diese hatten vier Frauen in vier Öfen gebacken und dann bei Hachfelds zu einem Hakenkreuz zusammengesetzt.
Wann haben Sie die erste documenta gesehen?
Das ist lange her. Das Fridericianum stand noch halb verbrannt da. Auf den dunklen Mauern ohne Verputz wirkten die Farben der Bilder von Picasso besonders stark.
Sie haben immer Jobs gehabt und später richtig an der Schule unterrichtet. Hatten Sie je die Idee, dass Sie von Ihrer Kunst einmal werden leben können?
Das wurde zur Notwendigkeit, als ich von 1975 an in Frankreich lebte und meine Staatsexamen nichts mehr galten. Wirklich eine freischaffende Künstlerin zu sein war wunderbar, wenn auch manchmal zu aufregend, zu unsicher. Zuvor in Berlin hieß es: Schuldienst, Hausfrau und in der Nacht Radierungen herstellen. Ich musste ja die Miete bezahlen.
Weil Ihr Mann nicht gearbeitet hat?
Wir hatten ausgemacht, wir wechseln uns ab. Als ich mit dem Schuldienst an der Reihe war, hatte ich fünf Sachen auf einmal zu tun. Als er dann in Braunschweig eine halbe Professorenstelle bekam, hatte ich Zeit. Da habe ich gemalt, gemalt, gemalt. Zum Mittagessen ging ich schnell in die Kaufhaus-Kantine zu Hertie. Kein Kochen, kein Abwasch. In dieser Zeit, 1969 und 1970, entstand die Reihe der gleichformatigen Ölbilder, Variationen zum Thema „Optiman“.
Für wen haben Sie gemalt?
Wofür? Für Ausstellungen. Bilder wollen gesehen werden.
Sie malen einige Ihrer frühen Bilder jetzt noch einmal.
Während der letzten 30 Jahre habe ich vielerlei anderes gemacht, das „Spiegel-Labyrinth“, Bildkästen, die „Drehköpfe“ aus Magnetoskopen und die E-Schriften aus Elektroschrott. Ich habe Lust, wieder zu malen, und variiere alte Motive. Daraus entsteht etwas Neues.
Sie formulieren mit Ihren Bildern durchaus auch eine Gesellschaftskritik. Es geht häufig um Masse und Macht.
„Masse und Macht“ ist der Titel eines Buchs von Elias Canetti, das ich immer wieder gerne lese.
Wollten Sie mit ihren Bildern wachrütteln?
Es geht nicht so sehr um das Soziale, wie ich es für das Krankenhaus oder das Albert-Schweitzer-Kinderdorf beschrieben habe. Es geht um die Tatsache, dass in den letzten 40 Jahren fast die Hälfte aller Tiere auf der Erde gestorben sind. Heute erschien in „Le Monde“ ein Artikel zu den Trump-Wahlen. Mit ihrem Zurück-zur-Nation sehen sie die Realität nicht. Die Zerstörung der Natur, unserer Lebensgrundlage, das sehen sie alles nicht. Sie stecken in ihren Astronautenkapseln.
Hatten Sie das Gefühl, dass Sie mit Ihrer Kunst damals verstanden worden sind?
Von Heinz Ohff zum Beispiel durchaus.
Mit wem haben Sie über die Maschinenkerle oder den Cyborg sprechen können?
Mit vielen verschiedenen Menschen in jeweils anderer Weise. Es gab einen Austausch, aber bewirkt hat es nichts. Meinen schönen alten Eschen, die letztes Jahr beim Sturm umgefallen sind, hat es auch nicht geholfen.
Woher wissen Sie, dass es nichts bewirkt hat?
Selbst der Versicherer sagte, es würde immer schlimmer, das Klima sei kaputt.
Wenn Sie sagen: „Bewirkt hat es nichts“, heißt das, Sie hatten wirklich den Anspruch, dass die Kunst auf dieser Ebene etwas bewirken könnte?
So naiv bin ich nicht, schon lange nicht mehr. Es ist wie mit einem Kranken. Als Krankenschwester kann man doch nicht sagen: „Ich will jetzt bewirken, dass er sofort gesund ist.“ Man hilft einfach. Man macht, was man kann. Und jetzt muss ich meinem Hund helfen, den ich während des Gesprächs eingesperrt habe.