Café Deutschland

Im Gespräch mit der ersten Kunstszene der BRD

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Timm Rautert

Timm Rautert

Timm  Rautert

Timm Rautert

Essen, 25. November 2016

Franziska Leuthäußer: Wie haben Sie zur Kunst gefunden? Was waren Ihre ersten Kontakte mit der Kunst?

Timm Rautert: Vor dem Studium der Fotografie habe ich erst eine Lehre gemacht. Ich habe Schaufenstergestaltung, Dekorationsmaler und Schriftmaler gelernt. Über den Kinos hingen früher diese riesigen Malereien – die haben wir gemacht und das war auch ganz interessant, aber irgendwann fand ich es nicht mehr zeitgemäß. Und damals hörte ich dann von der Sommerakademie in Salzburg, die von Oskar Kokoschka Oskar Kokoschka (1886 Pöchlarn, Österreich – 1980 Montreux, Schweiz) war ein Künstler, der insbesondere für sein malerisches, grafisches und schriftstellerisches Werk bekannt ist. Er besuchte die Kunstgewerbeschule in Wien und hatte Kontakt zu den Künstlern der Neuen Secession in Berlin, wo er 1911 mit Wassily Kandinsky und Franz Marc ausstellte. 1914 meldete Kokoschka sich freiwillig zum Kriegsdienst. Von 1919 bis 1924 war er Professor an der Kunstakademie Dresden. Bis 1931 unternahm er mehrere Reisen nach Frankreich, Italien, Holland, Spanien, England, Afrika und Vorderasien und kehrte anschließend zurück nach Wien. 1937 wurde Kokoschka von den Nationalsozialisten als „entarteter“ Künstler diffamiert und 417 seiner Werke in deutschen Museen wurden beschlagnahmt. Er floh 1938 nach Großbritannien, wo er 1947 die britische Staatsbürgerschaft annahm. Auf der Festung Hohensalzburg gründete er 1953 die Internationale Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg, an der er bis 1963 tätig war. Das Erlernen des künstlerischen Handwerks sollte dort mit einer umfassenden intellektuellen und humanistischen Ausbildung verbunden werden. Kokoschka war auf der documenta 1 (1955), 2 (1959) und 3 (1964) vertreten. gegründet worden war. Er selbst war auch noch da. Außerdem waren noch Emilio Vedova Emilio Vedova (1919 Venedig – 2006 Venedig) war ein italienischer Künstler, dessen Werke dem Informel zugeordnet werden. Zwischen 1963 und 1965 lebte er als DAAD-Stipendiat in Berlin und arbeitete in den ehemaligen Atelierräumen von Arno Breker. 1964 stellte Vedova das „Absurde Berliner Tagebuch 64“ fertig. Er war auf der documenta 1 (1955), 2 (1959), 3 (1964) und 7 (1982) vertreten und erhielt 1997 auf der Biennale von Venedig den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk. Von 1965 bis 1969 unterrichtete er an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst Salzburg. und ein paar andere Leute dort. Ich wollte eine Vervielfältigungstechnik lernen und bin dadurch auf die Lithografie gekommen. Vielleicht zwei Monate lang habe ich dort einen Lithografiekurs gemacht, fand es aber absurd, mit diesen schweren Steinen zu hantieren. Dann kam ich schließlich zur Fotografie und habe gesagt: „Das ist es.“

Sie hätten sich, wie so oft im Leben, auch für viele andere Dinge entscheiden können. Gab es in Ihrer Familie Beziehungen zur Kunst?

Mein Vater war nicht gerade ein Künstler – er war Zahnarzt. Er ist im Krieg gefallen, aber es gab eine Hinterlassenschaft von Fotos und Texten, denn er hat selber geschrieben. Und ich habe sehr früh von meinen Verwandten, die im Osten lebten, eine Kamera geschenkt bekommen. Der Bruder und die Schwester meiner Mutter lebten in Leipzig, und von ihnen habe ich eine Exakta bekommen. Später bin ich zu einer zweiäugigen Spiegelreflex gekommen. Ich habe fotografiert, aber amateurmäßig. In Fulda war ich an einem Internat – und in Fulda lebte ja bekanntlich auch Franz Erhard Walther Franz Erhard Walther (* 1939 Fulda) ist ein Künstler, der insbesondere für seine aus Stoff angefertigten und zum Gebrauch konzipierten Objekte bekannt wurde. Ab 1957 studierte er zunächst an der Werkkunstschule Offenbach sowie an der Städelschule in Frankfurt am Main, bevor er 1962 für zwei Jahre in die Klasse von K.O. Götz an die Kunstakademie Düsseldorf wechselte. Neben seinem Studium gehörte Walther 1958 zu den Mitbegründern des Jungen Kunstkreises Fulda, einem Kunstverein, in dem zahlreiche Ausstellungen deutscher Nachwuchskünstler organisiert wurden. Von 1967 bis 1973 lebte Walther in New York, wo er 1969 seinen „1. Werksatz“ im Museum of Modern Art zeigte. 1971 übernahm er eine Professur an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, die er bis 2005 innehatte. Mit seinem Werk war Walther an der documenta 5 (1972), 6 (1977), 7 (1982) und 8 (1987) beteiligt und wurde 2017 mit dem Goldenen Löwen auf der Biennale von Venedig ausgezeichnet. . Er hatte den Jungen Kunstkreis mitgegründet, in den ich ab und zu gegangen bin. Dort habe ich Franz Erhard Walther auch kennengelernt – ein etwas schräger Überflieger. Er machte eine Malerei wie Bernard Buffet Bernard Buffet (1928 Paris – 1999 Tourtour, Frankreich) war ein Künstler, Illustrator und Bühnenbildner. Seine Werke zeichnen sich häufig durch expressiv dargestellte Figuren und düstere Motive aus. Buffet war 1956 auf der Biennale von Venedig vertreten. Er zählt zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der jungen Nachkriegskunst in Frankreich. . Später, während meines Studiums, habe ich in New York bei Franz Erhard Walther gewohnt.

In Fulda gab es keine größeren Kunstmuseen … 

 … aber es war eine historisch interessante Stadt. Ich erinnere mich an meinen Schulweg zum Internat. Ich ging am Hexenturm entlang, musste dann an der ältesten deutschen Kirche, der Michaelskirche, vorbei und schließlich durch das Paulustor, ein barockes historisches Tor. Fulda war eine rückwärtsgewandte Stadt, die keine modernen Bezugspunkte hatte. Meine Beziehung zur Kunst kam über den Jungen Kunstkreis und meinen Kunstlehrer Karlfried Staubach Karlfried Staubach (1925 Fulda – 1964 Fulda) war ein Kunsterzieher, der durch sein pädagogisches und künstlerisches Engagement wesentlich zur Gründung des Jungen Kunstkreises in Fulda beitrug. .

Und über den Kunstkreis hatten Sie erste Berührungen mit der Gegenwartskunst?

Ja, das war in den 50er- und 60er-Jahren.

Waren Sie in Bibliotheken, in denen Sie andere Sachen gesehen haben?

Ja, dort konnte man sich Bücher ansehen und sich auch ein bisschen in Richtung Frankfurt am Main orientieren. Ich war eher an der Musik interessiert – und der Jazz in Frankfurt war gut. Auch in meiner Lehrzeit bin ich mindestens einmal in der Woche – meist am Wochenende – nach Frankfurt gefahren.

Wo sind Sie da hingegangen?

Es gab einen Jazzklub und dann ging man noch in Cafés.

Da ging es dann eher um Literatur, oder?

Um Literatur und Musik. Ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, damals in Frankfurt in einem Museum gewesen zu sein. Dafür brachte ich einmal eine Platte von Miles Davis mit nach Fulda, und da haben die alle gedacht: „Der ist verrückt!“ Für die war das absolut grauselig. Für mich war es wunderbar.

Was waren Ihre Beweggründe, nach Frankfurt zu fahren?

Um aus der Provinz herauszukommen. Fulda war sehr betulich, katholisch. Ich bin ja nicht katholisch, meine Mutter war Jüdin, ich bin aber protestantisch erzogen worden und besuchte in Fulda ein katholisches Internat . Die katholische Bildwelt war in Fulda wirklich beeindruckend. Diese barocke Bildwelt. In Frankfurt war es das Urbane: Man konnte ein bisschen angeben, auf den Putz hauen und in einem schönen Café sitzen. Alkohol war eigentlich gar nicht interessant. Man hat Kaffee getrunken und über Musik oder Literatur geredet. Damals bin ich auch in den modernen Buchklub eingetreten. Meine Mutter hat mich bekniet und immer gefragt: „Warum liest du diese Bücher?“ Ich habe sehr früh Marcel Proust Marcel Proust (1871 Paris – 1922 Paris) war ein französischer Autor, der zu den einflussreichsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts zählt. Internationale Bekanntheit erlangte er vor allem durch sein zwischen 1913 und 1927 veröffentlichtes Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. gelesen, die gab es als Quartalsbände.

Sie sind mit Ihrer Mutter nach Kriegsende nach Fulda gekommen?

Etwa 1945. Wir sind mit dem letzten Zug, der aus Westpreußen ging, nach Westdeutschland gekommen.

Damals waren Sie vier Jahre alt, und Fulda war kaum zerstört. Bedeutet das, Sie kannten keine zerbombten Städte? Sie müssen in Frankfurt – auch noch in den 50er-Jahren – auf eine ziemlich raue Stadt getroffen sein?

Das ist das richtige Wort! Woran ich mich nicht wirklich erinnere, aber im Traum manchmal sehe, ist der Zug von Tuchel in den Westen. Er wurde beschossen. Wir mussten raus dem Zug und meine Mutter warf sich über mich. Irgendetwas Furchtbares hat sich da ereignet, meine Mutter hat aber nie darüber gesprochen.

Wie sind Sie eigentlich in Fulda gelandet?

Durch einen Verteilungsmodus. Der Zug ging weiter nach Bayern … Und in Fulda war eine Freundin meiner Mutter oder so … Ich habe auch nicht viel gefragt.

Wann kam bei Ihnen das Bewusstsein darüber, was in der Zeit unmittelbar vorher passiert war?

Ich glaube, das ist in Frankfurt Mitte der 50er-Jahre gekommen. Das war wirklich die Stadt, in die keiner wollte. Da war alles etwas halbseiden. Die zerbombten, kaputten Geschichten.

War der Krieg in den Cafés und Klubs, in denen Sie waren, ein Thema?

Man hat versucht, das wegzudrücken. Wie gesagt, meine Mutter hat nie darüber gesprochen. Ich war Einzelkind, mein Vater war tot, und ich hatte das Gefühl: „Rühr lieber nicht daran. Frag nicht!“ Als ich es doch mal tat, sagte sie: „Darüber redet man mit Kindern nicht.“ Wahrscheinlich hatte sie auch eine Scham, dass sie überlebt hatte.. Im Nachhinein bereue ich sehr, dass ich nicht stärker nachgehakt habe, mit ihr darüber geredet habe.

Soweit ich das verfolgen kann, spielen in Ihrem Werk gesellschaftspolitische und soziale Themen durchaus eine Rolle. Aber die Zeit der Nationalsozialisten haben Sie, glaube ich, nie zum Thema Ihrer Arbeit gemacht, oder?

Das wird nicht explizit thematisiert, spielt aber vielleicht im Unterbewusstsein mit.

War Ihnen das Schulderbe, das Sie vielleicht nicht persönlich betroffen hat, aber in der Gesellschaft durchaus vorhanden war, präsent?

Die Scham, die ich später bei meiner Mutter nur vermutet habe, spürte auch ich. Die Flüchtlinge wurden ja zur untersten Schicht der Gesellschaft. Als wir nach Fulda kamen, wurden wir einquartiert – nicht in irgendeine Behausung, sondern in eine urkatholische Familie mit zwei Kindern. Die waren natürlich nicht gerade begeistert, als da aus dem Osten eine – und dann auch noch eine dunkelhaarige – Frau mit einem kleinen Kind kam. Meine Erinnerungen daran sind furchtbar. Später, als wir schon eine eigene Wohnung hatten, wurde ich sonntagmittags öfter bei einem Schulfreund zum Essen eingeladen, und dort fingen dann die Eltern mit diesem Nazikram an.

Was heißt das?

„Das war doch alles gar nicht so schlecht …“ und „Jeder hatte Arbeit …“ – auf diese Art. Plötzlich saß ich also sonntagmittags in einer Nazifamilie. Daran erinnere ich mich sehr genau: Ich war völlig entsetzt, bin aufgestanden und ohne ein Wort gegangen. Das hat mir natürlich nicht viele Freunde gebracht.

Während meines Studiums habe ich mich im AStA engagiert, 68 bin ich bei der Vietnamkonferenz Die Internationale Vietnamkonferenz wurde am 17. Februar 1968 durch Karl Dietrich Wolff, den Vorsitzenden des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) eröffnet. Der Einladung des SDS und anderer linkssozialistischer Organisationen in die Technische Universität Berlin folgten mehrere tausend Personen, um gegen den Vietnamkrieg sowie grundsätzlich gegen den westlichen Imperialismus zu protestieren. Der Kongress endete am 18. Februar mit einer Abschlusskundgebung vor der Deutschen Oper, zu der 10.000 Menschen kamen. in Berlin gewesen und habe dort auch fotografiert. Wir wollten zum Beispiel die Noten abschaffen. Kunst und Noten? Das geht doch nicht! Aber ich habe eine sehr üble Abfuhr von Otto Steinert Otto Steinert (1915 Saarbrücken – 1978 Essen) war ein Künstler und Vertreter der Subjektiven Fotografie. Im Zweiten Weltkrieg war er Stabsarzt, ab 1943 Referent im Generalstab des Heeres in Berlin und Mitarbeiter an pharmakologischen Forschungsprojekten. Er war NSDAP-Mitglied, wurde jedoch von der britischen Militärregierung politisch entlastet. Nach dem Krieg ging Steinert zurück ins Saarland, wo er 1947 ein Atelier für künstlerische Fotografie aufbaute. Ein Jahr später übernahm er an der Staatlichen Saarländischen Schule für Kunst und Handwerk die Klasse für Fotografie. 1949 schloss Steinert sich mit den Fotografen Peter Keetman, Ludwig Windstoßer, Siegfried Lauterwasser, Toni Schneiders und Wolfgang Reisewitz zu der Gruppe fotoform zusammen. Nachdem er ab 1952 Direktor der Schule in Saarbrücken war, wechselte er 1959 an die Folkwangschule in Essen. Dort legte er ab Anfang der 1960er-Jahre eine fotografische Sammlung an, die den Grundstock der berühmten Essener Fotosammlung bildete. erhalten. Das muss man sich mal vorstellen: Bei Steinert musste man noch klingeln. Es leuchtete ein rotes Licht, dann klingelte man, und wenn das Licht grün wurde, durfte man eintreten. „Was willst du?“ – „Herr Professor, wir wollten die Noten abschaffen.“ Da sah er mich an, als wäre ich das siebte Weltwunder, und sagte: „Dafür bist du noch viel zu jung. Raus!“ Das war alles. Das war eine Zeit, in der man sich eigentlich ständig gegen etwas stemmen musste – eine Zeit, in der man nirgendwo richtig aufgenommen wurde.

Steinert soll sehr autoritär und auch streng gewesen sein. Hat man das automatisch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Verbindung gebracht oder wehrte man sich grundsätzlich gegen diese autoritäre Haltung?

Ich habe das oft mit der Nazivergangenheit in Verbindung gebracht. Offen ausgesprochen wurde es natürlich nicht. Aber dieser Rechtskonservatismus war spürbar. Steinert empfahl uns zum Beispiel „Die Welt“ zu lesen, weil er auch „Die Welt“ las. Das wäre für mich gar nicht infrage gekommen.

Haben Sie schnell Kollegen und Freunde gefunden, mit denen Sie sich austauschen konnten?

Das war schwierig, weil die Kommilitonen in den Prüfungskommissionen manchmal sogar härter drauf waren als Steinert.

Was haben die vertreten oder wofür sind sie eingetreten?

Die ganz harte Nummer. „Der ist nicht gut, der muss raus.“ Da wurden einfach Leute exmatrikuliert – das war damals möglich. Heute wäre so etwas undenkbar! Was ich zum Beispiel gar nicht mochte, war das Fotografieren einer Ein-D-Mark-Münze mit einer großen Kamera. Oder eines schwarzen Telefons auf Schwarz, damals gab es noch diese Bakelit-Telefone mit Hörer. Oder einer Fotoschale. Alles mit der großen Kamera auf optischer Bank – es musste ja verzeichnungsfrei sein. Und da ist es dann zum Eklat gekommen. Steinert sagte: „Rautert, du bist begabt, aber du bist faul. Ich schmeiß dich jetzt raus! Nur wenn du in den Semesterferien diese Themen machst, kannst du weitermachen!“ Das hieß Münzen, ein Glas Wasser und so weiter fotografieren. Ich habe mich damit angefreundet. Ein Glas Wasser zu fotografieren, ist etwas Wunderbares. Das musste ich aber erst lernen. Ich habe geackert, bin dann mit den Bildern zu ihm, und da sagte er: „Ist okay, du kannst weitermachen.“

Sie haben gerade schon kurz Vedova und die Malerei erwähnt … 

Man musste damals abstrakt malen. Wenn Vedova eine Figur gemalt hätte, wären alle vom Glauben abgefallen. Die Räume auf der Festung in Salzburg waren großartig und auf zwei Matratzen lagen zwei wunderschöne nackte Frauen. Irgendwann habe ich Vedova gefragt: „Wieso?“ Und ich werde nicht vergessen, wie er sagte: „Atmosphäre, Atmosphäre.“ Sonst sagte er nichts. Es war sehr eindrücklich.

Wenn es um die Atmosphäre ging, warum haben Sie sich dann für die Fotografie entschieden? Warum wollten Sie das professionell machen?

Ich wollte wirken, ich wollte professionell arbeiten und die bestmögliche Ausbildung haben. Ich wollte nicht als Amateur herumstolpern – obwohl Steinert selbst ja Amateur war. Ich habe mich auch vollkommen von dem Gedanken des Abstrakten abgewandt. Für mich war es in der Zeit undenkbar, mich hinter der Abstraktion zu verstecken und L’art pour l’art zu machen.

Obwohl Steinert nicht gerade ein Vertreter des Figurativen war.

Er hat abstrakte Experimente gemacht und das hat er auch uns abverlangt. Aber das ging damals nicht mehr. Es gibt keine abstrakte Fotografie, und ich glaube, Steinert wusste, dass so etwas nach dem Krieg nicht mehr denkbar war. Er hat ein bisschen an die Experimente des Bauhauses angeschlossen. Vor allen Dingen dann in Saarbrücken und mit seiner Gruppe fotoform. Aber was hat er gelehrt? Er hat uns regelrecht zum Journalismus getrieben, weil er gesehen hat, dass man von der Fotografie als Kunst nicht leben kann. Wenn Sie damals jemandem sagten „Das Bild kostet 300 D-Mark“, haben die Leute Sie für verrückt erklärt.

Wurde das in der Klasse diskutiert? Fotografie als Kunst, Fotografie als Dokument und so weiter? Steinert hatte das alles schon hinter sich – seine Bilder galten als Kunst.

Das war aber in der Klasse kein Thema. Steinert hat zwar nicht gesagt, dass es keine Kunst ist, aber er ist vom Experiment abgerückt. Und dann habe ich mit meinen Experimenten – mit meiner „Bildanalytischen Photografie“ – begonnen. Das mochte er überhaupt nicht und sagte zu mir: „Lass es sein!“ Eigentlich wollte ich damit mein Diplom machen, das war aber mit ihm nicht möglich. Damals konnte man auch nicht zu einem anderen Lehrer gehen, weil Steinert ja der Einzige war, der Fotografie an der Folkwangschule lehrte.

Und Sie können sich seine Reaktion bis heute nicht erklären?

Ich glaube, am Ende war es für diese politisch aufgeladene Zeit ganz vernünftig. Die Welt hatte ein Bedürfnis nach Bildern. Und ich glaube, Steinert wollte seine Studenten irgendwie in Lohn und Brot bringen. Im stillen Kämmerlein habe ich ihn damals verflucht, aber im Nachhinein habe ich viel gelernt. Ich bin durch Dinge hindurchgegangen, die ich sonst vielleicht nicht gemacht hätte. Der Widerstand war erheblich. Heute sagen die Lehrer ja immer: „Es wird schon, sonst guckst du mal da.“ Alles Friede, Freude, Eierkuchen und alle per Du. Gut, man darf auch nicht vergessen, dass die Abstraktion eine reinigende Wirkung hatte. An das, was in der Nazizeit gemalt wurde, konnte man ja sowieso nicht anknüpfen.

Die figurative Malerei begegnete auch in den 60er-Jahren noch großen Widerständen. War das in der Fotografie anders?

Ich glaube, dass die Fotografie auch am Referenten klebt. Es macht keinen Sinn das aufzugeben, indem man sich in irgendwelche Abstraktionen verliert. Steinert wollte, dass wir das mindestens einmal ausprobierten und ich habe mich damit redlich abgemüht, aber ich war nicht mit dem Herzen dabei. Ich habe wirklich geglaubt, dass ich mit der Fotografie politische Wirkung erzielen kann. Das glaube ich heute nicht mehr. So wie die jungen Leute heute, habe ich sogar gedacht, ich könnte mit der Fotografie die Welt ändern. Als Journalist habe ich die sozialen Themen in der Bundesrepublik aufgegriffen und war vielleicht auch einer ihrer Chronisten.

War das ein Merkmal Ihrer Generation, dass sie dachte, sie könnte die Welt retten? Ob durch die Kunst, die Fotografie, die Literatur oder irgendwelche Aktionen … Oder hatte das mit der Generation gar nichts zu tun?

Doch, es hatte schon etwas mit der Generation zu tun. Und mit der damaligen Zeit. Unbedingt! Man kann nichts von seiner Zeit trennen. Es gibt nur ein Problem: Wenn man seiner Zeit ein ganzes Stück voraus ist, was die Kunst ja oft ist, dann haut es nicht mehr hin. Meiner Meinung nach ist gute Kunst immer auch politisch. Ich hatte damals viele Freunde unter den Malern und ich kann auch den Weg in die Abstraktion verstehen. In der Fotografie aber verstehe ich die Abstraktion nicht. Und da gibt es ja auch nicht viel Gescheites. Sie müssen sich die Zeit vorstellen: Bernd Becher Bernd Becher (1931 Siegen – 2007 Rostock) war ein Fotograf. Ab den frühen 1960er-Jahren arbeitete er zusammen mit seiner Frau Hilla Becher (1934 Potsdam – 2015 Düsseldorf). Bekannt wurden sie insbesondere mit ihren Typologien zur Industriearchitektur, die ab den 1970er-Jahren entstanden sind und als wegweisend für die konzeptuelle deutsche Fotografie gelten. 1976 übernahmen sie die Professur der neuen Abteilung der Fotografie an der Kunstakademie Düsseldorf und begründeten in den Folgejahren die international renommierte Düsseldorfer Photoschule. Zu den bekanntesten Schülern Bernd und Hilla Bechers zählen Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Ruff und Thomas Struth. kam 1976, 1978 ist Steinert gestorben, ich habe mein Diplom 1971 gemacht und 1972 hat Joseph Beuys das Sekretariat der Kunstakademie in Düsseldorf besetzt, woraufhin sie ihm fristlos gekündigt haben. Nachdem 1972 ein neues Zulassungsverfahren an der Akademie eingeführt worden war, besetzte Beuys mit einigen seiner Studenten das Hochschulsekretariat. Der im Zuge dessen erteilten Entlassung durch den nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Johannes Rau begegnete Beuys mit einer langjährigen Klage vor dem Bundesarbeitsgericht. In dem ihm gerichtlich auf Lebenszeit zugesprochenen Raum 3 der Düsseldorfer Kunstakademie initiierte Joseph Beuys 1973 gemeinsam mit Willi Bongard, Georg Meistermann und Klaus Staeck die Freie Internationale Universität (FIU), die als freie Hochschule das bestehende Bildungssystem ergänzen sollte. Die FIU bestand bis zwei Jahre nach dem Tod von Joseph Beuys im Jahr 1986. Wir – eine kleine Gruppe von zwei oder drei Leuten – sind natürlich von Essen nach Düsseldorf in die Beuys-Klasse gefahren. Die erste Begegnung mit Beuys werde ich nie vergessen. Da kam mir ein Mann mit Hut und Pelzmantel entgegen. Er schlenkerte mit zwei Becken. Dicht vor mir schlug er sie zusammen, und ich bin fast in Ohnmacht gefallen, weil es so laut und so überraschend war – das war Beuys. Warum er das gemacht hat, weiß ich nicht.

Warum wollten Sie in die Beuys-Klasse?

Weil ich etwas anderes sehen wollte.

Und Sie hatten von Beuys gehört?

Ja. So etwas wie: „Schräger Mann. Sehr interessant. Gegen alles.“ Man hat auch Fotos gesehen. Ein Kommilitone, Heinrich Riebesehl, hatte zum Beispiel die Aktion Joseph Beuys, „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“, Galerie Schmela, Düsseldorf, 26. November 1965. Bei der Aktion konnte das Publikum von der Straße aus durch die Schaufenster der Galerie Schmela beobachten, wie Joseph Beuys im Innenraum mit goldgefärbtem Kopf einem toten Hasen die Kunstwerke erklärte. mit dem toten Hasen fotografiert. Was damals auch Eindruck gemacht hat, politisch und künstlerisch, war die „intermedia 69“ „intermedia 69“, diverse Veranstaltungsorte, Heidelberg, 16. Mai – 22. Juni 1969. Das von Jochen Goetze und Klaus Staeck organisierte Festival verstand sich als progressive Gegenveranstaltung zur 100-jährigen Jubiläumsausstellung des Heidelberger Kunstvereins. in Heidelberg. Ich bin mit einer Kommilitonin dorthin getrampt. Wir hatten einen Super-8-Projektor dabei, weil ich dort einen Film zeigen wollte – und das habe ich dann auch gemacht. Wir haben mit ein paar hundert Leuten in einer Turnhalle geschlafen und denen habe ich den Film dann gezeigt. Sonst hat ihn niemand gesehen, aber das war in Ordnung.

Sie sind dahingefahren, weil Sie gehört haben, da passiert etwas?

Ja, und es hieß, man könne dort auch etwas zeigen. Und dann wollte ich die anderen Sachen auch sehen.

Ging es bei diesen Zusammentreffen wirklich um die Kunst oder war das eher ein Herumhängen, Trinken, Rauchen …?

Ja, Trinken und Rauchen, aber auch um die neueste, mediale Kunst zu sehen.

Außer Düsseldorf und der Akademie gab es auch noch Köln und die Galerien. Sie hatten zur Galerie Heiner Friedrich Heiner Friedrich (* 1938 Stettin, Pommern, heute Polen) gründete 1963 gemeinsam mit Franz Dahlem und seiner damaligen Ehefrau Six Friedrich die Galerie Friedrich & Dahlem in München. 1970 siedelte er mit seiner neuen Lebensgefährtin Thordis Moeller nach Köln über und betrieb dort eine zweite Galerie. Ab 1973 expandierte er in die Vereinigten Staaten und eröffnete im New Yorker Stadtteil SoHo die Heiner Friedrich Gallery Inc. Mit seiner späteren Ehefrau Philippa de Menil und der Kunsthistorikerin Helen Winkler gründete Friedrich 1974 in New York die Dia Art Foundation, die eine dauerhafte Setzung künstlerischer Großprojekte unterstützt. Die erste Baselitz-Ausstellung, an der Heiner Friedrich beteiligt war, fand 1965 in der Galerie Friedrich & Dahlem in München statt. einen besonderen Kontakt?

Ja, das habe ich fast vergessen. Bei Steinert musste man eine Auslandsreportage machen. Das ist interessant: Es hieß nicht Auslandsserie, wie es in der Kunst geheißen hätte, sondern Auslandsreportage. Und ich dachte: „Jetzt wieder irgendwo nach Frankreich zu fahren und ein bisschen Paris zu fotografieren – das ist nicht gut.“

Sie kannten Paris zu dem Zeitpunkt schon?

Ich war kurz vorher in Paris gewesen. Steinert hatte ja viele Studenten aus dem Ausland: aus Schweden, Norwegen, Island. Wir hatten sogar jemanden aus Haiti und ich wohnte in einem Haus mit einem Franzosen. Ich wollte unbedingt nach New York und ich wollte Andy Warhol treffen. Und da haben alle gesagt: „Das geht nicht.“ Ich bin dann mit einer Kommilitonin gefahren und habe Franz Erhard Walther gefragt, ob ich bei ihm wohnen könnte. „Wie lange denn?“ –„Ein paar Tage.“ Am Ende waren es dann fast sechs Wochen. Ich glaube, es hat ihn auch schwer genervt. Tagsüber war ich unterwegs und bin erst spät am Abend wiedergekommen. Außerdem hatte ich Heiner Friedrich angesprochen.

Kannten Sie sich?

Ich kannte ihn durch Franz Erhard Walther. Dessen „Werksatz“ Franz Erhard Walther, „1. Werksatz“, 1963–1969. Der 58-teilige „Werksatz“ besteht unter anderem aus textilen Materialien, Schaum und Holz. In Werkvorführungen werden die Objekte aktiviert, das heißt von der Lagerform in die Handlungsform überführt. Der Künstler selbst oder vom Künstler angeleitete Assistenten agieren dann zusammen mit dem Publikum mit den Objekten. Der prozesshafte Charakter des Werks und das Agieren und Handeln der Beteiligten sind vom Künstler von Anfang an im Werk mit angelegt. hatte ich fotografiert, schon vor 69.

Haben Sie das in Fulda fotografiert?

Nein. Franz Erhard ist nach Essen gekommen. Es gibt eine kleine Insel, eine Halbinsel an der Ruhr. Da hatten wir ein Gerüst aufgebaut, weil er wollte, dass das von oben fotografiert wird. Er rückte dann mit dem LKW und allen Werksatzteilen auf dieser Halbinsel an. Später haben wir dann auch in der Rhön fotografiert.

Friedrich hatte ich jedenfalls gefragt, ob er mir einen Kontakt, Adresse, Telefonnummer und so weiter von Warhol geben könnte. „Klar!“ Und dann habe ich eines Tages bei Warhol geklingelt und gesagt: „Hallo Leute, ich habe um zwei Uhr einen Termin.“ Er war natürlich nicht da. Vier Stunden später oder so kam er dann. Das hat Eindruck hinterlassen. In der Zwischenzeit hatte ich dort fotografiert.

Was hat Sie beeindruckt?

Dass er gar nicht meinen Vorstellungen entsprochen hat.

Was für Vorstellungen hatten Sie?

Ich dachte, das ist so ein Macher, der da sagt, wo es lang geht. Stattdessen machte er gar nichts. Er hat kaum geredet und sagte nur: „Hi Timm!“ Das war alles. Er hat sonst nichts gesagt. Gar nichts! Auch nicht „Ja!“ oder „Nein!“ oder „Das hier kannst du jetzt fotografieren.“ Ich habe dann einfach fotografiert. Er hatte einen Wahn, den ich ganz gut fand: Wenn das Telefon klingelte, nahm er ab, sagte „Hi“ und nahm dann alles mit dem Audiorecorder auf. Er hatte so ein schönes, professionelles Uher-Tonband. Warhol hat mich damals sehr beeindruckt, obwohl er sehr zurückhaltend war: Es war deutlich, dass er das Zentrum war. Er war der Chef. Er hatte ein unglaubliches Charisma, auch wenn er nichts sagte. Ganz rätselhaft, obwohl er nichts machte.

Warum wollten Sie ihn treffen?

Ich wollte ihn fotografieren.

Was war an Ihm so interessant?

Das, was er auf der Basis von Fotografie und Siebdruck machte, interessierte mich sehr.

Woher kannten Sie seine Arbeiten?

Ich hatte sie bei Friedrich gesehen und ich hatte Bücher. Ich glaube, er bereitete damals gerade „Trash“ „Trash“, Regie: Paul Morrissey, Produktion: Andy Warhol, 110 Min., 1970. vor. Derjenige, der die Filme machte, war Paul Morrissey. An den Filmen hat Warhol eigentlich nicht viel gemacht. Damals entstand gerade die Zeitschrift „Interview“ Die Zeitschrift „Interview“ wurde Ende des Jahres 1969 von Andy Warhol und John Wilcock in New York gegründet. Im Fokus standen umfassende Gespräche zwischen bekannten Künstlern, Musikern, Schauspielern und Intellektuellen. Ab 1972 gestaltete der Künstler Richard Bernstein regelmäßig das Cover der Zeitschrift. In den 1970er- und 80er-Jahren gehörte „Interview“ zu den stilprägendsten Zeitschriften in den USA. Seit 2017 wird „Interview“ durch den Artdirector Fabien Baron geleitet. , mit Colacello Bob Colacello (* 1947 New York) ist ein Filmkritiker und Publizist. Ab 1969 schrieb er regelmäßig für die Zeitschrift „Village Voice“. Ab 1970 war er der Herausgeber des „Interview“, das sich in den USA zu einem der bekanntesten Magazine für Populärkultur und Lifestyle entwickelte. Anschließend war Colacello für die Zeitschrift „Vanity Fair“ tätig. Seiner Zusammenarbeit mit Andy Warhol widmete er 2014 das Buch „Holy Terror: Andy Warhol Close Up“. , und da habe ich ihn gefragt: „Wie läuft es denn?“ Da waren erst eine oder zwei Nummern erschienen. Er machte eine Tür auf und sagte: „So!“ Da lagen die Zeitschriften bis unter die Decke gestapelt. Das heißt, es lief überhaupt nicht. Aber ich interessierte mich damals dafür, wie man so etwas mit medialen Mitteln macht.

Obwohl das jetzt kein klassischer Studiobesuch sein sollte, oder? Sie waren vor allen Dingen dort, um Warhol zu fotografieren?

Das hat aber nicht geklappt. Er hatte keine Zeit: „Nein, heute nicht. Du kommst wieder …“

Das heißt, das Foto von Warhol, auf dem er aus dem Fahrstuhl kommt, ist nicht am ersten Tag entstanden?

Nein. Viel später. Auch das Foto mit den geschlossenen Augen – das ist ja mittlerweile ein berühmtes Bild. Damit verweigert er eigentlich das Porträt. Beim ersten Treffen ist fotografisch überhaupt nichts gelaufen, wie man so schön sagt. Ich war 69 das erste Mal da, und das Foto entstand erst 1970.

Sie haben den Kontakt gehalten, weil Sie dieses Foto noch machen wollten?

Ich wollte ihn auf jeden Fall porträtieren. Unbedingt! Ich hatte ihn schon mit seinem Regisseur Paul Morrissey, der sehr zupackend war, fotografiert. Aber beiläufig. Das waren eher journalistische Bilder.

Sie sagten vorhin, Sie wollten mit der Fotografie die Welt nicht nur verändern, sondern sogar retten. Sie sind zur Vietnamkonferenz nach Berlin gefahren und haben sehr unterschiedliche politische Ereignisse begleitet. Sie haben mit verschiedenen Magazinen gearbeitet. Warum war Ihnen das Porträt von Warhol so wichtig?

Was mich in der Zeit auch interessiert hat, waren Leute, die professionell Kunst machten und professionell arbeiteten. Ich habe sehr früh auch Künstler besucht, die mich interessierten. Das war mein Motiv. Es hätte auch anders ausgehen können. Ich hätte viel früher einsehen können, dass das mit dem Journalismus nichts ist. Vielleicht wäre es das gewesen, wenn Steinert nicht gesagt hätte: „Lass es bleiben.“ Bis 74 habe ich das durchgezogen, und als alles gesagt war, habe ich gesagt: „Jetzt ist es gut.“ Aber vielleicht wäre es doch irgendwie gegangen, denn darauf hätte man ja auch eine ganz andere Karriere gründen können. Das wäre der Weg gewesen: Den Film, also das technische Medium in einer anderen Weise zu benutzen. Auch Polaroids. Nicht von ungefähr gibt es aus der Zeit ein Selbstporträt von mir mit einer Polaroidkamera, auf der man mich nicht erkennt. Es gab eine Polaroidkamera, die ich bei Warhol gesehen hatte, die Big Shot hieß. Das war ein wahnsinniges Teil, ein fester Plastikkörper, mit dem man nur Porträts machen konnte. Damit habe ich zum Beispiel in einen Spiegel geblitzt. Es gab durchaus Ideen und Beeinflussungen – und das wäre eine Möglichkeit gewesen. Dem stand aber wiederum diese Idee der Weltverbesserung entgegen. Das war eine spinnerte Idee. Aber wenn man jung ist … 

Wobei sich das vielleicht nicht unbedingt ausschließen muss. Wenn man durch die Kunst einen anderen Blick auf die Welt ermöglicht, kann das ja durchaus auch eine Wirkung haben. Es wäre interessant zu wissen, an wen Sie sich mit Ihrer Arbeit richteten?

Ich glaube ja auch heute noch – und das kommt aus der Zeit der 60er-Jahre – an einen emanzipierten Betrachter. Wir wissen nicht, wer das ist, aber ich glaube daran. Und damals habe ich noch viel stärker daran geglaubt. Ich habe gedacht, dass es viele davon gibt und dass ich mit der Fotografie über eine Welt berichte, die sie selbst nicht sehen. Das war also durchaus ein pädagogischer Impetus, der zur Emanzipation der Gesellschaft beitragen sollte. Ich habe das damals vielleicht nicht so formuliert, aber das war die Idee. Und ich möchte den direkten Zugang zur Welt auch nicht missen. Den ungeschönten, ungestellten, sehr schnellen Zugang. Ich habe nie lange geschaut, ob alles stimmt. Selbst Henri Cartier-Bresson, den ich noch kennengelernt habe, ein sympathischer, humorvoller, gebildeter Mann, ist ein Produkt seiner Zeit gewesen. Neben manche seiner Bilder können Sie ein informelles Gemälde hängen. Ich bin heute auch mit Josef Koudelka befreundet. Als der damals nach Westeuropa kam, war er Cartier-Bressons Protegé, obwohl er etwas völlig anderes machte. Er hat gesehen, dass da etwas Neues ist – etwas, das die Zeit vielleicht braucht. Wir sind immer in dem Beziehungsgefüge unserer Zeit gefangen. Es ist gut reden: „Du hättest das doch so oder so machen können.“ Aber die Zeit und Herkunft ... 

Gibt es für Sie so ein „hätte“?

Ja, wie ich sagte, bei Warhol und mit meiner „Bildanalytischen Photografie“ hätte es anders kommen können.

Sind Sie der Meinung, dass Ihre bildjournalistische Arbeit nicht den Effekt hatte, den Sie sich davon versprochen haben?

Damals habe ich das noch nicht so gesehen. Für einen kleinen Jungen aus der Provinz, man muss ja ehrlich sagen, wie man sich sieht, für einen Flüchtling – komischerweise aus Kaschubien, obwohl mein Vater aus Dortmund war und meine Mutter aus Leipzig, bin ich zufällig in Kaschubien geboren – war es von großer Bedeutung, die Welt zu entdecken. Ich wollte die Welt sehen und ich habe sie gesehen. Das spielt für die Zeit sicher auch eine große Rolle. Dieses Gefühl, morgens um fünf mit dem Alpha Romeo loszufahren, war für mich das Gefühl frei zu sein. Nicht im Atelier noch ein Bild malen oder noch einen schweren Stein schleppen. Ich habe mich durchgeschlagen. In Australien, China … überall – und ich habe die Bilder heil mit zurückgebracht.

Dieses Gefühl von Freiheit beschreiben Sie auch für die Zeit, die Sie in New York verbracht haben. Auch dort gingen die Leute auf die Straße und protestierten gegen den Vietnamkrieg, aber New York war eine ganz andere Stadt als Essen, Düsseldorf, Fulda oder Berlin – mit einer ganz anderen Geschichte!

Ich werde nie vergessen, wie ich Downtown aus dem Bus – Taxi war damals für uns nicht möglich, denn New York war sehr teuer – ausstieg und in einer anderen Welt war. Diese Wolkenkratzer! Diese jungen Leute! Ähnlich war, dass ich kein Geld hatte – nur, dass es in New York noch schlimmer war. In Essen konnte man in manchen Kneipen immerhin anschreiben lassen. Das ging in New York nicht.

Wie haben Sie es dort gemacht?

Ich habe sehr spartanisch gelebt. Ich glaube, ich habe mir dort den Magen mit den billigen Pizzaschnitten verdorben. Ein Pizza Slice kostete 30 Cent. Davon wurde mir ordentlich übel. Essen Sie das mal jeden Tag … Und dazu gab es Wasser.

Franz Erhard Walther hat ja in New York als Konditor gearbeitet … 

Ja, er hat Torten verziert. Er brachte auch immer etwas mit.

Hätten Sie in New York nicht bei einem anderen Künstler arbeiten können?

Das hätte ich nicht gemacht.

Warum nicht?

Das wollte ich nicht. Ich wollte fotografieren. Ich habe den ganzen Tag, wenn ich nicht irgendwo bei jemandem war, fotografiert. Mich haben Leute wie Robert Ryman interessiert. Wieso eigentlich? Auf den Bildern war ja nichts drauf. Aber ich fand es interessant. Ich wollte es sehen. Zusehen. Mehr nicht.

Walter De Maria, Franz Erhard Walther, Robert Ryman und Blinky Palermo wurden von Heiner Friedrich vertreten. Gab es noch weitere Kontakte?

Ja, zum Beispiel La Monte Young. Wobei ich Friedrich tatsächlich nur nach Warhol gefragt habe. Während meines Studiums habe ich für Friedrich ja die Ausstellungsansichten gemacht, um etwas Geld zu verdienen. Ich werde nie vergessen, wie ich in die Galerie komme und ein Bild auf dem Kopf hängen sehe. Dahlem und Friedrich standen da und guckten sich das ganz begeistert an. Das war meine erste Begegnung mit Georg Baselitz.

Das war in Köln?

Das war in Köln.

Haben die Ihnen das Konzept von Baselitz erklärt?

Nein, das haben sie nicht. Ich habe dann mit Thordis Moeller geredet. „Nimm das mal nicht so ernst“, hat sie gesagt. Ich wunderte mich vor allem, weil Friedrich ja eigentlich nicht so für gegenständliche Malerei war. Bei ihm habe ich auch sehr früh die Bilder von Cy Twombly gesehen und fotografiert. Es hatte sicher eine gewisse Wirkung, die Welt mit der Fotografie zu entdecken. Aber bei den Galerien war es immer ein Elend, dass die nie Geld hatten oder es zumindest nicht dafür ausgeben wollten und dann mit Kunst bezahlen wollten. Damals war es ein Fehler, dass ich mich nicht in Kunst habe bezahlen lassen, weil ich ja Geld brauchte. Es war wirklich eine gute Zeit, das muss man sagen. Ende der 60er-Jahre. Mitte der 70er ging es dann schon anders zu, schon Anfang 70 wurde alles viel kommerzieller. Als ich Warhol damals besuchte, war er noch nicht der Superstar, der superteure Künstler. Wahrscheinlich hätte ich sonst auch gar nicht dort herumlungern können. Danach hat sich das dann alles sehr verändert – inklusive des Aufschwungs der Fotografie. Das war noch nicht so wie in den USA, wo die Fotografie einen anderen Stellenwert hatte, die Nation ist dort mit der Fotografie gewachsen. In den USA hatte sie eine ganz andere Bedeutung, auch bei den Künstlern. Das habe ich in Deutschland so nicht erlebt.

In den 70er-Jahren gab es in Köln die photokina 1950 organisierten die Koelnmesse und der Photoindustrie-Verband die erste Photo-Kino-Ausstellung. Neben den technischen Neuerungen wurden auch kulturelle und gesellschaftliche Aspekte des Mediums ausgestellt. Die photokina, wie sie heute heißt, findet alle zwei Jahre statt und gilt als international führende Fachmesse für Fotografie. , in Düsseldorf die Ausstellung „Prospect 71. Projection“ „Prospect 71. Projection“, Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 08—17. Oktober 1971. , in Kassel die documenta … das waren alles Veranstaltungen, die eben nicht die Malerei in den Mittelpunkt rückten, sondern die sogenannte „medienbasierte Kunst“. Es gab also durchaus auch bildende Künstler und Künstlerinnen wie zum Beispiel Katharina Sieverding oder Ulrike Rosenbach, die mit den Medien Film und Fotografie arbeiteten. Wie standen Sie zu diesen künstlerischen Positionen?

Ich hatte Ulrike Rosenbach schon in den 70er-Jahren kennengelernt, sie wohnte damals in Kettwig bei Düsseldorf und Katharina Sieverdings Arbeiten kannte ich gut. Die documenta war sehr wichtig für mich. Aber zum einen hatte ich mich anders entschieden, und zum anderen hatte ich das vergleichsweise schon bei Warhol gesehen. Das heißt, ich kannte diese Arbeiten und hätte mir das wahrscheinlich auch zugetraut, aber ich habe eine andere Entscheidung getroffen. Das Medium selbst hatte für mich eine große Bedeutung. Ich habe dem Medium vertraut. Und es hat sich gezeigt, dass die Fotografie ein Medium ist, das sich entsprechend mit der Technik verändert. Ich glaube sogar, dass es sich nur mit der Technik verändert. Als die digitale Fotografie aufkam, hat es mich dann nicht mehr interessiert, denn das bedeutet die Abwendung von der Fotografie als technisches Medium. Es sieht zwar aus wie Fotografie und da muss auch Fotografie drin sein, aber es müsste anders heißen. Dieses Thema ist mein Steckenpferd: Ich schreibe gerade an einem Text, in dem ich einen anderen Namen dafür finde.

In die Kunstszene wollten Sie nicht, bei den gesellschaftspolitischen Veranstaltungen hatten Sie die Rolle des Dokumentaristen. Waren Sie dadurch ein Außenseiter oder haben Sie sich mit den Themen, die Sie dokumentierten tatsächlich auch identifiziert?

Sie sind immer außen vor. Wenn Sie gut fotografieren wollen, sind Sie draußen. Wenn Sie sich zu sehr involvieren, kommen Sie zu nichts. Die Identifizierung kommt hinterher, wenn Sie die Bilder sehen. Wenn ich fotografiere, sehe ich etwas anderes. Es ist am besten, wenn man sich raushält. Deswegen gibt es auch keine Bilder von mir, die zeigen, wie ich fotografiere. Ich glaube, mich hat auch kaum jemand jemals mit einer Kamera gesehen. Außer eben jene, die ich fotografiere. Ich bin ein Außenseiter, wie der Künstler sowieso Außenseiter ist. Sie gehören nicht dazu, kommen aus einer anderen Welt und stellen irgendwann fest: „Du lebst nicht schlecht vom Elend anderer Leute.“ Ich kann mir vorstellen, dass es besser ist, wenn Sie Ihr Atelier morgens aufschließen und malen und es abends wieder zuschließen. Da haben Sie auch Skrupel, aber das sind die Skrupel der Kunst. Sie haben Skrupel, sich zu wiederholen. Ich kann mich gar nicht wiederholen. Ich habe auch keinen Stil gepflegt – jedenfalls habe ich versucht, das zu vermeiden.

Wurde es immer akzeptiert, dass Sie dabei waren ohne teilzunehmen?

Ich bin der Chronist geworden, der ich ja auch tatsächlich war. Auch wenn es mir manchmal etwas zu nah war. Bei der Vietnamkonferenz zum Beispiel hingen vor der TU Banner mit der Aufschrift: „Willkommen, die Friedhöfe von Berlin stehen euch offen.“ Da schlucken Sie erst mal. Und dann kriegen Sie die Wut. Später vor der Deutschen Oper stand ein Polizist mit erhobenem Schlagstock vor mir. Ich weiß nicht, was ihn abgehalten hat, ihn auf mich niedersausen zu lassen … vielleicht meine kleine Leica. Er hat mich außen vor gelassen, warum auch immer.

Der andere Einschnitt in die Zeit war das Attentat auf Rudi Dutschke Rudi Dutschke (1940 Schönefeld – 1979 Aarhus, Dänemark) war ein deutscher Soziologe und politischer Aktivist, der durch seine führende Funktion innerhalb der Studentenbewegung der 1960er-Jahre bekannt wurde. Als Teil des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) organisierte er ab 1966 mehrfach Demonstrationen und Aktionen in Berlin, die sich gegen den Vietnamkrieg sowie die gesellschaftliche Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit richteten. Dutschke galt als Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Am 11. April 1968 wurde er von dem rechtsorientierten Josef Bachmann auf offener Straße niedergeschossen. Er erlag den Spätfolgen seiner Verletzungen am 24. Dezember 1979. Siehe auch: Helmut Reinicke, „Rudi Dutschke. Aufrecht gehen. 1968 und der libertäre Kommunismus“, Hamburg 2012. im gleichen Jahr. Erst wurde er angeschossen und später ist er an den Folgen gestorben. Ich bin zu seiner Beerdigung von Düsseldorf nach Berlin geflogen. Die Situation auf dem Friedhof habe ich noch vor mir. Die vielen Leute … Alexander Kluge drehte einen Film und ich habe ihn fasziniert dabei beobachtet. Es war kalt. Kluge hatte einen blauen Wollmantel an und trug einen Schal, er war sehr elegant und dirigierte seine kleine Truppe. Ich stand da – auch in einem Mantel – mit der Kamera unter dem Arm, sodass sie keiner sehen konnte. Damals habe ich gedacht: „Das willst du nicht – so sichtbar sein.“ Beim Film geht es natürlich nicht anders. Aber ich war damals ein bisschen wütend, trotzdem habe ich fotografiert. In die Kapelle kam ich nicht rein. Dann waren die ganzen Leute von der „Bild“-Zeitung da. Irgendwann bin ich dann gegangen. Ich bin zurückgeflogen, habe meine Filme entwickelt und es war alles Mist. Nie habe ich so schlecht fotografiert. Es gibt auch keine Bilder davon.

Sind Sie im Auftrag dort gewesen?

Nein. Für mich. Ich habe damals nicht oft im Auftrag gearbeitet.

Was war Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass Sie so schlecht fotografiert haben?

Zu nah dran und zu viel Wut. Wut auf wen auch immer … ich weiß es nicht. Auf die Umstände oder weiß der Teufel worauf. Als Fotograf sind Sie immer sehr allein. Wenn Sie das nicht sind, kommen Sie ins Schwätzen. Bei den großen Serien für „Die Zeit“ war meist jemand dabei. Denn ohne Text kein Bild. Ich konnte noch so gute Bilder haben, wenn es keinen Text gab, war es nicht interessant.

Sie erwähnten eben Ihre erste Begegnung mit dem Werk von Georg Baselitz. Sie haben von Joseph Beuys erzählt. Auch wenn Sie sich mit Ihrer Arbeit davon distanziert haben, nahm der Kunstbetrieb in den 70er-Jahren mit den Galerien und dem Kölner Kunstmarkt an Fahrt auf. Das war kein Wiederaufbau mehr, das waren die neuen Tendenzen. Hat Sie das überhaupt interessiert?

Doch, sehr! Ich war ja mittendrin. Bis Mitte der 70er-Jahre hieß es in Essen noch: „In Düsseldorf ist einer, der macht todlangweilige Sachen. Reiner Dokumentarismus. Er heißt Bernd Becher. Das ist alles nichts.“ Es ist völlig verrückt, wie sich alles entwickelt hat. Ich war immer neugierig, was die anderen machten. Es gibt eine interessante Geschichte mit Walter De Maria. Ende der 60er- oder Anfang der 70er-Jahre hatte er so einen Wuschelkopf und eines Tages habe ich bei ihm in seinem Loft – er lebte in einem Warehouse in Downtown New York – geklingelt, und als er vor mir stand, sah ich, dass er seine Haare kurz geschnitten hatte: „Walter, was ist los?“ Da sagte er: „Wir müssen aussehen wie alle.“ Da ging irgendetwas los. Ich sagte: „Walter, du musst mir mal genau erklären, was du machst.“ Er setzte sich hin, nahm ein gelbes, großes Blatt Papier – das habe ich heute noch – und zeichnete chronologisch alle seine größeren Arbeiten in kleineren Abfolgen auf das Blatt, wie es war und wie es werden sollte. Damals arbeitete er bereits am „Lightning Field“ Walter De Maria, „The Lightning Field“, 1977, Catron County, New Mexico. .

Wenn er sagt: „Wir müssen aussehen wie alle …“, und Sie antworten: „Du musst mir jetzt mal genau erklären, was du da eigentlich machst …“, klingt das so, als wenn sich die Künstler in Geschäftsleute verwandelten. Die künstlerische Idee muss als klar verständliches Konzept vermittelt werden und der Künstler selbst passt sich äußerlich an, um nicht mehr aufzufallen.

Als Walter De Maria sagte: „Wir müssen aussehen wie alle“, meinte er damit natürlich: „Nicht mehr auffallen. Mit der Gesellschaft sein, nicht mehr der Exot sein. Man arbeitet schon exotisch genug. Es ist alles schwierig genug, machen wir kein Theater.“

Und wie haben Sie Heiner Friedrich als Galeristen erlebt?

Als einen schnellen, intelligenten, leicht arroganten Typ. Seinen Künstlern zugewandt. Super Geschäftsmann. Guter Mann für sein Business. Er hat seinen Künstlern ein Gehalt gezahlt. Die bekamen eine Summe im Monat und mussten ihm am Ende eine Arbeit abliefern. Prima. Davon hat man gelebt. Er war gut.

Und hat er die Kunst auch inhaltlich vermittelt?

Die Galerie selbst war sehr wichtig und hat auch ohne zu sagen „Ich vermittle jetzt“ vermittelt. Friedrich hat in Köln zum Beispiel Fred Sandback gezeigt. Dinge, bei denen man erst einmal hereinkam und nicht viel gesehen hat. Oder er hat zum Beispiel auch als Erster in Deutschland Gilbert & George ausgestellt. „Gilbert & George. The Singing Sculpture ‚Underneath the Arches‘“, Galerie Heiner Friedrich, München, 14. Mai 1970; „Gilbert & George. The Singing Sculpture ‚Underneath the Arches‘“, Galerie Heiner Friedrich, Köln, 13.–17. Oktober 1970. Ich glaube, das war 1970.

Das haben Sie auch fotografiert, oder?

Ja. Es gab so viel! Auch Blinky Palermo Blinky Palermo (eigtl. Peter Heisterkamp; 1943 Leipzig – 1977, Kurumba, Malediven) war ein deutscher Künstler, der sich insbesondere mit der Weiterentwicklung der Farbfeldmalerei beschäftigte. Von 1962 bis 1967 studierte er an der Kunstakademie Düsseldorf, zunächst bei Bruno Goller und ab 1964 in der Klasse von Joseph Beuys. Palermo galt als enger Freund seiner Studienkollegen Imi Knoebel, Sigmar Polke und Gerhard Richter, mit denen er mehrfach gemeinsam ausstellte. Er wurde von der Galerie Friedrich & Dahlem in München vertreten, in der 1966 seine erste Einzelausstellung gezeigt wurde. ... Und Friedrich hat letztlich auch vermittelt, dass ich James Turrell besuchen konnte. Das war 1974. Ich habe bei ihm übernachtet und fotografiert. Mich hat das fasziniert, dass er sein Haus aufgesägt hatte, das Licht hereinließ.

Es heißt, die Eröffnungen in der Galerie Heiner Friedrich wären ein bisschen anders gelaufen als bei den anderen. Hat man darüber gesprochen?

Ja, aber ich bin auch in die anderen Galerien gegangen. Mich kannte man nicht. Niemand konnte sagen: „Das ist ja der Rautert“. Wenn ich Installationsfotos gemacht habe, war ja keiner da. Ich werde nicht vergessen, wie ich Donald Judd zum ersten Mal bei Friedrich sah und ihn auch porträtierte – der kannte mich dann. Aber sonst kannte mich niemand. Es gab in einer größeren Fotozeitschrift in den 70er-Jahren einen Text mit der Überschrift: „Wie sieht Timm Rautert aus?“ Da waren ein paar Personen abgebildet, die meisten hatten mit mir überhaupt nichts zu tun. Es war allerdings auch ein Bild von mir darunter, das hatte irgendjemand mal in einem Studio gemacht – das war ich. Ich bin nicht zu den Zeitungen gegangen, auch nicht zum „Zeit“-Magazin, und habe gesagt: „Habt ihr mal einen Job?“ Ich habe Bilder hingeschickt oder Themen vorgeschlagen. Alles andere lief über das Telefon.

Dass die documenta für Sie wichtig war, haben Sie erwähnt. Wann waren Sie das erste Mal dort?

Ich habe jede documenta gesehen. Die erste als 14-Jähriger mit meiner Mutter. Ich weiß nicht, was der Besuch der ersten documenta für mich bedeutet hat, ich weiß nur, dass die Ausstellung in einer Ruine war und es abstrakte Kunst gab.

Erinnern Sie sich an die „documenta 5“ von Harald Szeemann 1972?

Ja! Szeemann hatte während des Hängens einen sehr schönen Ringkampf mit jemandem auf dem Flur – den habe ich fotografiert. Er war ein interessanter Mann und ich habe gehofft – und das kam ja dann mit Klaus Honnef Klaus Honnef (* 1939 Tilsit, Ostpreußen, heute Russland) arbeitete nach einem Studium der Soziologie und Geschichte als Redakteur und Ressortchef der „Aachener Nachrichten“. Von 1968 bis 1970 leitete er das Gegenverkehr – Zentrum für aktuelle Gegenwartskunst in Aachen und war von 1970 bis 1974 Geschäftsführer des Westfälischen Kunstvereins in Münster. Von 1974 bis 1999 war er Ausstellungschef am Rheinischen Landesmuseum Bonn. Honnef gehörte dem Team der „documenta 5“ (1972) an und organisierte gemeinsam mit Konrad Fischer die Abteilung „Idee + Idee/Licht“. Bei der „documenta 6“ (1977) war er mit Evelyn Weiss und Gabriele Honnef-Harling für die Abteilungen „Malerei und Fotografie“ verantwortlich. Ab 1980 lehrte Honnef als Honorarprofessor für Theorie der Fotografie an der Kunsthochschule Kassel und hatte bis 2009 Lehraufträge unter anderem an der Universität zu Köln, der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und der Bergischen Universität Wuppertal inne. –, dass die Fotografie, wie ich sie verstanden habe, dort gezeigt werden würde. Nur waren meine Arbeiten nicht darunter.

Waren Sie mit Klaus Honnef in engerem Kontakt?

Nein, aber wir kennen uns. Die Definition der Autorenfotografie hat mich nicht wirklich interessiert. Der Fotograf als Autor war mir selbstverständlich.

Und hatten Sie irgendwelche Kontakte in die DDR?

Nur durch meine Verwandten, meine Mutter war Leipzigerin. Es war unvorstellbar, dass sie dahin zurückgegangen wäre – auch nach dem Tod meines Vaters. Die beiden sind ja damals bewusst in den Osten irgendwo aufs Land gegangen, um meine Mutter zu schützen. Die Schwester und der Bruder meiner Mutter sind dort geblieben. Die waren richtige Leipziger. Ich bin in den Ferien oft dort gewesen. Ich habe auch – im Zuge meiner Sozialisation und meines Glaubens an die Weltveränderung – geglaubt, dass die DDR kein schlechter Staat sei. Ich habe an den Sozialismus geglaubt. Aber auch das ist mir dann relativ schnell vergangen, spätestens mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt Staaten in der Tschechoslowakei, in der ich 67 noch fotografierte. Diese Naivität, dieser Glaube an die bessere Welt, der Sozialismus – das alles war wirklich vorbei. Fast nehme ich es mir übel, dass es so lange gedauert hat.

Sie haben schon einmal irgendwo von „den naiven jungen Jahren“ gesprochen. Ist damit ganz grundsätzlich die jugendliche Naivität gemeint? Oder ist Ihre Generation im Besonderen gemeint? Als junger Mensch wollte man nur nach vorn schauen, man hat aber auch ein Alternativmodell gesucht.

Ich glaube, es hängt damit zusammen. Ich bin ja im Krieg geboren – an den ich mich schlecht oder kaum erinnern kann. Aber im Traum erinnere ich mich. Und ich erinnere mich daran, dass ich verschickt wurde. Ich hatte ein Schild um den Hals, meine Mutter musste arbeiten, und zur Erholung wurde ich nach Borkum verschickt; zu dürr der Knabe, wie verhungert. Sie dachten immer, sie kriegen mich nicht durch. Ich hatte auch keine Lust zu essen. Ich sehe das Elend jetzt vor mir: Diese verbeulten Bahnhöfe, verdrehtes Eisen, das noch stand. Die Hallen waren ja weggebombt, aber die Ständer waren zum Teil noch da, von der Hitze irgendwie geschmolzen. Und ich dazwischen mit dem Schild.

War die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“ in Ihrem Umfeld ein Thema?

Gute Frage. Ich habe keine Nazieltern gehabt. Das ist auch ein Problem. Wie gesagt, meine Mutter hat nicht darüber gesprochen, meine Tante – ihre Schwester – später aber schon. Sie hat geschildert, wie sie ihre Familie verlor. Da entsteht dann etwas anderes als Schuld, da entsteht Scham. Vielleicht ist die Fotografie auch das ideale Mittel, um sich ein wenig zu verstecken und hinter die Geräte abzutauchen. Sicherlich musste man in jener Zeit, in den 60er-Jahren, wenn man nicht völlig bewusstlos leben wollte, eine Entscheidung treffen. Das konnte auch sein: Familie und Kinder, das klappt alles nicht, das mache ich nicht. Aber was dann? Kunst. Entweder Film, Fotografie oder eben Malerei. Das mit der Grafik und den technischen Künsten war mir verleidet, und abstrakt ging für mich nicht. Die Hoffnung, dass die Fotografie – wenn es so etwas wie die Fotografie überhaupt gibt – irgendwann zu einer anderen Anerkennung käme, hat sich erst spät erfüllt.

Es gibt da diese schöne Formulierung: „From printed paper to white cube.“ Sie haben nun mehrfach gesagt „Ich habe geglaubt …“ oder „Ich dachte, ich könnte …“ – das klingt so, als ob Sie etwas erwartet oder sich gewünscht hätten, das nicht eingetreten ist.

Es ist schon eingetreten. Nur ist der von mir – heute vielleicht doch als naiv zu bezeichnende – Wunsch, dass die Welt besser würde, nicht eingetreten. Ich weiß, dass die „Birkenau“-Bilder Gerhard Richter, „Birkenau“ (1-4), 2014. Die Birkenau-Bilder von Gerhard Richter waren vom 28. Februar bis zum 27. September 2015 in der Schau „Gerhard Richter. Neupräsentation im Albertinum“ in der Galerie Neue Meister im Albertinum in Dresden erstmals ausgestellt. Es folgte die Ausstellung „Gerhard Richter. Birkenau“ im Museum Frieder Burda in Baden-Baden vom 06. Februar bis zum 29. Mai 2016. von Richter die Welt nicht besser machen. Und er weiß es auch.

Sie sagen, dass Sie die Welt nicht besser gemacht haben. Vielleicht ist aber die Komparation hier auch gar nicht angebracht. Es gab wohl nie so viel Aufmerksamkeit für Kunst und Kultur wie heutzutage. Überhaupt erst durch die Erweiterung des Kunstbegriffs wurde die Möglichkeit geschaffen, dass sich viele Leute mit Kunst und Kultur beschäftigen können. Vielleicht dauert es noch 100 Jahre, bis die Museen begreifen, was eigentlich ihre Aufgabe in der Gegenwart ist. Die Wandlung in der Kunst ist das eine – der Kunstbetrieb ist das andere. Ich höre natürlich häufig, wenn ich mit Leuten aus Ihrer Generation spreche: „Damals war das alles ganz anders. Da haben sich die Leute interessiert und es ging um die Kunst. Heute geht es um etwas anderes.“ Ich kann natürlich nicht einfach hinnehmen, dass früher alles besser war, denn ich war ja nicht dabei.

Das liegt am Alter.

Sie meinen, das ist meine jugendliche Naivität? Oder ist es vielleicht auch ein sehr hoher Anspruch, den Sie im Nachhinein haben, wenn Sie sagen: „Wir haben die Welt damit nicht besser gemacht.“ Ich glaube doch! Sonst säßen wir jetzt nicht hier.

Ja, vielleicht. Ich war zum Beispiel der Erste, der den Finger auf diese Contergan-Wunde gelegt hat. Diese Bilder haben sicher auch zu einem Umdenken geführt. Heute habe ich das Gefühl, dass die Kunst zu einem Weltunterhaltungsprogramm geworden ist, und das war sie damals nicht. Das war sie wirklich nicht! Es war eine Reibung, eine Aufbruchsstimmung und Diskussion. Es war wert, dabei gewesen zu sein. Das ist mit dem Weltunterhaltungsprogramm nicht mehr zu leisten.

Ist diese „Weltunterhaltung“ nicht auch eine Folge der Forderung nach einer „Kultur für alle“, wie sie in den 70er-Jahren propagiert wurde?

Vielleicht. Aber wenn ich sehe, wie teuer die Eintritte im Museum sind, bin ich nicht sicher, ob das wirklich für alle ist. Hier in Essen sind immerhin die Sammlungen des Museums Folkwang frei, weil es einen Sponsor gibt, der das für fünf Jahre finanziert. Sofort zogen die Besucherzahlen deutlich an. Das leistet sich der deutsche Staat nicht.

Was geben Sie Ihren Schülern weiter?

Zum Einstieg habe ich meinen Studenten immer gesagt: „Ich bin nicht euer Freund, ich bin nicht euer Vater. Ich bin euer Lehrer und das ist das Schlimmste, was euch passieren kann. Es ist der schönste Beruf der Welt, aber wenn wir ehrlich sind, bilden wir euch direkt in die Arbeitslosigkeit aus. Ihr werdet nicht alle Weltmeister werden, aber ich möchte, dass ihr mit erhobenem Haupt aus der Schule geht und euch behaupten könnt.“ Ich kann es auf den Tod nicht leiden, wenn einer vor seinem Bild steht und gar nicht weiß, was er da gemacht hat. Wenn es gut geht, geht es gut. Aber oft geht es schief.

Wie viele Frauen waren in Ihrer Klasse bei Steinert?

Nicht so viele. In meiner Klasse in Leipzig war das dann anders. In einem Text von Ulf Erdmann Ziegler, geschrieben für einen unserer ersten Klassenkataloge 1999, heißt es: „Der Künstler ist – und da hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten viel getan – mit großer Wahrscheinlichkeit eine Künstlerin; und es hat sich herausgestellt, dass gerade Künstlerinnen sich die technischen Medien schneller und umfassender angeeignet haben als die traditionellen.

Haben Sie eigentlich damals die Malerei beispielsweise von Baselitz oder Lüpertz im Verhältnis zu den Themen, mit denen Sie sich beschäftigt haben, als rückwärtsgewandt empfunden?

Ja. Ich habe damals gedacht: „Das kann man nicht mehr machen.“ Durch Warhol habe ich es dann wieder ein bisschen anders gesehen.

Jörg Immendorff hat sich nicht nur politisch engagiert, sondern sich auch in seiner Kunst gesellschaftspolitischen Themen gewidmet. Das war kein L'art pour l'art. Hatten Sie zu seinem Werk einen anderen Zugang?

Ich habe Jörg Immendorff über die Lidl-Akademie Im Dezember 1968 riefen Jörg Immendorff, Chris Reinecke und weitere Gleichgesinnte die Lidl-Akademie in der Kunstakademie Düsseldorf aus. Anlass war die interne Kritik mehrerer Professoren gegenüber der universitären Einflussnahme von Joseph Beuys und seiner Deutschen Studentenpartei. Dem Aufruf zur Lidl-Akademie folgte vom 05. bis zum 10. Mai 1969 die von Immendorff und Reinecke initiierte Lidl-Arbeitswoche, in der zahlreiche künstlerische und politische Aktionen an der für diesen Zeitraum geschlossenen Kunstakademie durchgeführt wurden. Siehe auch: Susanne Rennert, „Ein doppelter Strang. Lidl. 1968–70. Konzepte, Aktionen, Strategien von Chris Reinecke und Jörg Immendorff“, in: „Chris Reinecke, 60er Jahre – Lidl Zeit“, hg. von Barbara John u. a., Ausst.-Kat. u. a. Kunstmuseum Düsseldorf, Köln 1999, S. 35–64, hier S. 49–52. kennengelernt, im Keller der Düsseldorfer Akademie. Davon gibt es auch Fotos, mit seiner damaligen Frau.

Chris Reinecke.

Das war wirklich etwas. Was danach kam, war für mich nicht mehr sehr interessant. Obwohl es politisch engagiert war und auch nichts mit Peinture oder L'art pour l'art zu tun hatte. Aber der Immendorff der Lidl-Akademie war ein anderer als der Maler Immendorff.

Warum waren solche Dinge wie die Lidl-Akademie damals wichtig? Da kamen vermutlich nicht Tausende von Menschen, oder?

Der performative Charakter war beeindruckend. Wenn Sie die Fotos sehen, stehen da immer nur drei oder vier Menschen herum und Immendorff in Turnhose und Hemdchen. Ich weiß noch, dass er mir, als ich reinkam, eine Karte gab, auf der stand: „Hiermit fordere ich Sie zum Ringkampf heraus.“ Zum Glück ist es nicht dazu gekommen. Es war Aufbruch, aber anders. Oben die Kunstakademie, unten die Lidl-Akademie. Allein der Name war schön.

Ich erinnere mich an Bilder von Kasper König, der auch an irgendwelchen Aktionen der Lidl-Akademie teilgenommen hat. Ihn könnten Sie aber auch in New York in Verbindung mit Franz Erhard Walther getroffen haben?

Das habe ich, als ich das Frühwerk von Walther fotografiert habe. Man hat eigentlich mehr Kaffee getrunken und geredet als gearbeitet.

Vielleicht ist dann doch Ihre Generation daran schuld … 

Woran?

Es heißt immer: „Früher gab es diese Konkurrenzgeschichten nicht.“ Der eine hat für den anderen fotografiert und umgekehrt, aber es gab darüber keine Verträge. Es hat keine Rechteklärung stattgefunden.

Das stimmt.

Heute sind diese Streitereien in vollem Gange. Und wer führt den Streit? Ulay und Abramović … 

 … und Franz Erhard Walther.

Oder nehmen Sie Benjamin Katz Benjamin Katz (* 1939 Antwerpen) ist ein Fotograf, der insbesondere für seine Porträts von Künstlern und Akteuren der deutschen Kunstszene nach 1945 bekannt ist. Er studierte von 1956 bis 1960 unter anderen bei Ernst Böhm und Hans Jaenisch an der Hochschule für Bildende Künste in Berlin, wo er 1963 mit Michael Werner die Galerie Werner & Katz eröffnete. Ab 1972 arbeitete Katz in der Kölner Galerie von Reinhard Onnasch, bevor er 1976 als freier Fotograf tätig wurde. . Er hat teilweise im Auftrag der Galerie Michael Werner fotografiert. Wer also hat die Rechte am Bild? Das hat keiner schriftlich.

Ich auch nicht. Schauen Sie mal, das ist ein Bild von Gerhard Richter aus dem Jahr 86. Ich habe Richter auch zusammen mit Isa Genzken porträtiert. Wenn die etwas verwenden wollten, habe ich ihnen die Bilder einfach gegeben und gesagt: „Das sind eure Bilder. Ihr könnt damit machen, was ihr wollt.“ Geld und weiß der Teufel was, das ist alles uninteressant. Das war damals eine schöne Geschichte. Ich habe auch fotografiert, wie Richter an dem „Baader-Meinhof-Zyklus“ arbeitet. Und wir haben Arbeiten getauscht – das gibt es heute doch gar nicht mehr. Er hat einen Schwung Bilder von mir und ich habe ein Bild von ihm bekommen. Das war großzügig. Aber warum diese Streitereien? Mit Richter gibt es das nicht. Das gibt es auch bei mir nicht. Bei Walther ist es nur so, dass ich, wenn ich in ein Museum komme und dort fünfzig meiner Bilder hängen, unter denen der Name Franz Erhard Walther steht, eben mal nachfrage. Vor längerer Zeit habe ich dem Bonner Museum eine Rechnung über 32.000 Euro gestellt. Das Geld habe ich nie bekommen, aber ich streite mich nicht um Geld, sondern um Recht.

Ich weiß nicht, ob Sie mit Franz Erhard Walther mal über Heiner Friedrich gesprochen haben ... 

Walther hat von Friedrich ganz gut gelebt … 

Und ich nehme an, auch Friedrich hat von den Künstlern ganz gut gelebt?

Das kann man sagen! Obwohl es ihm manchmal auch sehr schlecht ging. Aber über die geschäftlichen Sachen hat er nicht gesprochen, das hat immer Thordis Moeller gemacht.

Hatten Sie eigentlich auch Kontakt zu Franz Dahlem?

Ja, aber nur über meine Arbeit für die Galerie Friedrich. Ich glaube, dass die Warhol-Verbindung irgendetwas mit Dahlem zu tun hat, aber ich weiß es nicht mehr genau. Ich hätte damals ein bisschen Tagebuch führen sollen … 

Deswegen machen wir das ja jetzt. Wir holen die Geschichten überall ab.

Sie haben einiges erreicht. Ich hatte einiges schon weit weg abgelegt.

Vieles können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen. Und wie wir in unseren Gesprächen mehrfach feststellen konnten, haben die Geschichten von damals durchaus Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken. Hinzu kommt, dass sich natürlich vieles wiederholt – wir müssen nicht in jeder Generation wieder bei null anfangen. Es ist gut, wenn man sich das ab und zu in Erinnerung ruft.

Dass zum Beispiel in meiner Generation auch viele Flüchtlinge waren. An der Folkwangschule waren zahlreiche Studenten aus der ČSSR und Ungarn. Oder die Republikflüchtigen wie Richter, Baselitz und Penck. Penck hat mir mal erzählt, wie sie ihn auf der Glienicker Brücke losgeschickt haben. Das war ja alles Wahnsinn. Er hatte einen Koffer und zwei oder drei abgespannte Leinwände unterm Arm, damit ist er losgezogen. Drüben im Westen wurde er dann in Empfang genommen. Aber er hatte es offenbar ein bisschen schwerer als die anderen.

Trotz Ihres großen Interesses für Randgruppen, haben Sie nie in der DDR fotografiert? Oder wäre das gar nicht möglich gewesen?

Doch, ich habe da fotografiert, aber immer nur im Auftrag für die Zeitung. Zum Beispiel habe ich Gerhard Altenbourg fotografiert.

Ich erinnere mich. Und Wolf Biermann! Brauchten Sie im Osten eine Genehmigung?

Ja. Das war wahnsinnig schwierig. Wenn Sie mit dem Auto fuhren und anhielten, um die Landschaft zu fotografieren, haben Sie sich plötzlich in Untersuchungshaft wiedergefunden. Dann wurde behauptet, Sie hätten eine Stellung der Volksarmee fotografiert. Was ja vielleicht auch der Fall war, aber woran sieht man das?

Sind Sie auch nicht in die Versuchung gekommen, nebenbei ... 

Das mache ich ja immer. Aber die Zeit, die Sie zur Verfügung haben, wenn Sie so eine Genehmigung haben, ist sehr kurz. Man musste vorher in Ost-Berlin zum Außenministerium, um das mit denen auszuhandeln. Und es war immer jemand dabei. Einmal war ich eigentlich schon auf dem Rückweg, bin dann aber doch noch mal bei Altenbourg vorbeigegangen. Da zog er die Gardine zurück und sagte: „Siehst du gegenüber? Da geht auch gerade die Gardine zurück. Da sitzt die Stasi. Die beobachten dich jeden Tag.“ An der Grenze wurde man total gefilzt. Alle Sitze wurden aus dem Auto ausgebaut. Alles raus. Alle Filme. Alles lag auf der Straße. Und hinterher hieß es: „Dankeschön, bauen Sie es wieder ein.“ Ich habe auch mal Bernhard Heisig fotografiert. Er war damals Rektor an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig, an die ich später berufen wurde. Die Papiere für mich sollten am Grenzübergang liegen, dem war aber nicht so. Es war Sonntag. „Nein, dann können Sie nicht einreisen.“ Ich sagte: „Wieso? Ich habe einen Termin mit Heisig. Können wir den nicht mal anrufen?“ – „Das geht nicht.“ Da habe ich gesagt: „Hören Sie zu, versuchen Sie es mal. Er ist der Rektor der Leipziger Kunsthochschule. Hier ist seine Telefonnummer.“ Sie haben ewig mit ihm gesprochen und dann gesagt: „Warten Sie hier.“ Heisig muss am Sonntag einen Draht nach Ost-Berlin gehabt haben. Nach ungefähr einer Stunde hieß es: „Sie können einreisen. Die Papiere liegen in Ihrem Hotel in Leipzig.“ Es gab das Astoria oder das Merkur Hotel. Man konnte nur in zwei Hotels wohnen, eben in jenen, in denen man auch abgehört werden konnte. Für Westler waren in dem Hotel drei Etagen vorgesehen. Da wusste man schon Bescheid. Im Hotel lagen dann die Papiere. Heisig war also ein Künstler mit allerbesten Beziehungen.

Das ist möglicherweise ein Grund, warum Penck sich von diesen Künstlern so distanziert hat.

Richtig. Er hat da nicht mitgeheult. Ich habe ihn später mal in London besucht und auch fotografiert. Da hat er erzählt.

Aus der DDR-Zeit?

Ja. Und auch bei Biermann in der Wohnung in der Chausseestraße hingen sehr schöne frühe Arbeiten von Penck. Da gab es also auch eine Verbindung. Übrigens ist das eine meiner Schwächen, dass ich die Kontakte nicht halte. Ich mache das über die Bilder.

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Timm Rautert