Berlin, 14. Dezember 2015
Franziska Leuthäußer: In einem Interview sagtest du, du hast Deutschland 1968 verlassen, weil du nicht gesehen hast, dass du das hier hättest machen können, was du machen wolltest. Vgl. Gunnar Lützow, „Ulay – Berlin: Mein Leben als Wasser“, Gespräch mit Ulay, in: „art – Das Kunstmagazin“, 11.09.2013, unter: http://www.art-magazin.de/kunst/12357-rtkl-ulay-berlin-mein-leben-als-wasser (eingesehen am 29.08.2017). Damals war dir aber noch gar nicht klar, was das genau war, oder?
Ulay: Nein, aber ich fühlte mich eingeschränkt. Ich bin ein Nachkriegskind, und die Situation war angespannt – verständlicherweise. Für mich gab es nur zwei Möglichkeiten: ein Medizinstudium oder ein Ingenieurstudium.
Du warst damals in Neuwied, einer kleinen Stadt in Rheinland-Pfalz. Wie fiel deine Wahl dann auf Prag beziehungsweise Amsterdam? 1968 hättest du auch sagen können: Ich gehe nach Berlin. Warum war der Drang, Deutschland zu verlassen, so stark?
Es war die Sehnsucht nach etwas anderem. Deutschland hatte mir sehr zugesetzt. Ich bin 1943 in einer Stahl produzierenden Stadt, in Solingen, geboren. Die wurde 44 vollkommen bombardiert. Ich wollte einfach raus. Das Klima war nicht günstig. Für niemanden. Ich hatte den Wunsch rauszugehen, weil all das, was ich bis 68 gemacht hatte, mich nicht befriedigt hat. Ich habe mich von meiner damaligen Frau scheiden lassen und habe ein Kind von drei Jahren zurückgelassen. Das war grauenhaft!
68 war auch in Deutschland schon einiges in Bewegung. Es gab die ersten Galerien, in denen die Avantgarde der deutschen Kunst gezeigt wurde. Es gab Leute wie René Block René Block (* 1942 Velbert) eröffnete Anfang 1964 in Berlin das Grafische Cabinet René Block, aus dem noch im gleichen Jahr die Galerie René Block hervorging. Zwischen 1974 und 1977 betrieb er eine Dependance im New Yorker Stadtteil SoHo. Bis zur Schließung seiner Galerie 1979 zeigte Block in seinem Programm unter anderem Ausstellungen und Aktionen von Joseph Beuys, Bazon Brock, Stanley Brouwn, Sigmar Polke, Gerhard Richter und Wolf Vostell. In den Folgejahren organisierte Block als Kurator zahlreiche Ausstellungen für die daadgalerie in Berlin sowie für das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart, bevor er 1997 die Direktion des Fridericianums in Kassel übernahm. Seit 2008 führt Block die auf Editionen spezialisierte Galerie Edition Block in Berlin. in Berlin, es gab Happenings und die ersten Kunstmärkte.
Der Kölner Kunstmarkt Auf Bestreben der Galeristen Hein Stünke und Rudolf Zwirner fand der erste Kölner Kunstmarkt vom 13. bis 17. September 1967 unter Beteiligung von 18 Galerien in den Räumen der historischen Festhalle Gürzenich statt. war wahnsinnig gut. Aber auch das war Deutschland. Ich war enttäuscht. Ich hatte keine Eltern, ich war vollkommen auf mich allein gestellt. Und ich hatte einfach die Nase voll. Für mich gab es in Deutschland nichts mehr zu tun. Trotz dieser ersten Wendungen Ende der 60er-Jahre – damals war ich ja noch gar kein Künstler. Du kannst dir das gar nicht vorstellen! Ich war natürlich nicht das einzige Kriegskind. Es gibt bis heute fantastische Künstler, Deutsche, die auch im Krieg geboren wurden und die nicht weggegangen sind. Die haben sich verbissen oder es verkraftet. 68, nachdem der Versuch, nach Prag zu gehen, misslungen ist, bin ich im Sommer geradewegs von der deutsch-tschechischen Grenze nach Amsterdam gefahren. Und in Amsterdam war die Hölle los. Aber positiv. Die Provos Die Provo-Gruppe war eine niederländische Protestbewegung, die im Frühjahr 1965 von Anarchisten in Amsterdam, darunter Roel van Duijn, Robert Jasper Grootveld und Rob Stolk ausging. Mit gewaltlosen Aktionen provozierten sie Mitglieder des niederländischen Königshauses und des Establishments. Nicht selten zogen ihre Provokationen gewalttätige Reaktionen nach sich. Siehe auch: Niek Pas, „Subcultural Movements – The Provos“, in: Martin Klimke/Joachim Scharloth, „1968 in Europe: A History of Protest and Activism, 1956–1977“, London 2008, S. 13–21. – von Provokation – legten sich unglaublich ins Zeug, um das Leben in der Stadt zu verbessern: autofrei, mehr Grünanlagen, mehr Kinder, Bauernhöfe mit Tieren und so weiter und so fort. Damit tun sich heute noch viele Städte schwer. Das war eine Revolte; die Provos waren konstruktive Anarchisten, keine Terroristen. Auch wenn es jeden Tag Konfrontationen mit der Polizei gab. Ich konnte mich darin finden.
War es ein Thema, dass du Deutscher warst?
Nein. Ich war anders, glaube ich. Ich hatte nie Probleme mit Holländern bezüglich meiner Herkunft. Obwohl ich später von vielen Deutschen gehört habe, dass sie in Holland immer wieder angepöbelt wurden. Ich sprach damals natürlich auch kein Holländisch, habe dann aber angefangen, holländische Zeitungen zu lesen und mich mit Freunden wörtlich massiert, sodass ich es ziemlich schnell gelernt habe. Ich wurde dort akzeptiert – jedenfalls in den Kreisen, in denen ich mich bewegte –, weil ich eben mitmachte.
Du bist ab 1969 zu den Werkschulen nach Köln gependelt. Auch da war die Grenze zwischen Deutschland und Holland kein Thema?
Nein. Ich kam von Amsterdam nach Köln und habe auf den Kölner Werkschulen angefangen zu studieren – ich war nur ein Jahr da –, wohnte aber weiterhin in Amsterdam. Nach ungefähr eineinhalb Jahren wurde mir klar, dass ich auf der Schule nicht weiterkam, weil ich mich auf die Fotografie konzentriert hatte. Und die Kölner Werkschulen hatten keine Abteilung für Fotografie. Daher wechselte ich zu freier Grafik und Malerei.
Jürgen Klauke war in dieser Zeit im Kölner Stadtbild offenbar sehr präsent.
Klauke war wohl die Avantgarde der Transformer Jürgen Klauke, „Transformer“, 1970–1975. -Persönlichkeit. Absolut, ja.
Wie war euer Verhältnis zu der sogenannten „Kunstszene“, die sich damals im Rheinland langsam etablierte?
Einige fühlten sich durch uns angezogen, begleiteten uns, besuchten uns und waren gerne mit uns zusammen. Drogen spielten damals natürlich eine wesentliche Rolle.
Gab es in Köln eine Plattform dafür?
Jein. Es gab bestimmte Lokale oder Kneipen, wo man hingehen konnte und wo du auch toleriert oder sogar gerne gesehen wurdest. Das war aber alles sehr bescheiden. Auch auf den Kölner Werkschulen gab es nicht wirklich ein Umfeld mit Gleichgesinnten oder Gleichen. Wir waren eine ziemlich außergewöhnliche Erscheinung – auch für Köln zu der Zeit. Obwohl Köln ziemlich progressiv war. Und auch aggressiv. Köln war eine aggressive Stadt, jedenfalls im Vergleich zu Düsseldorf. Wir waren eigentlich ziemliche Einzelgänger.
Du und Klauke?
Ja, ich glaube schon.
Ihr habt euch damals auch entsprechend gestylt?
Klauke mehr als ich. Ich habe das später gemacht, in meinem eigenen Umfeld in Amsterdam. Meine Transform-Geschichte ist aber eigentlich mit Klaukes Transform-Geschichte nicht vergleichbar. Bei Klauke ging es stärker über die Kleidung, ich habe mich mehr mit dem Körper beschäftigt – mit Piercing, Selbstmodulation, Transplantation, Tattoos und diesen Geschichten. Klauke war mehr die äußerliche Transformer-Erscheinung.
Das heißt, bei Klauke war es eher eine Kostümierung, und bei dir war es mehr die körperliche Verwandlung?
Ja.
Diese Verwandlung, oder was bei dir später zur Beschäftigung mit dem Thema Anima/Animus Mit den Begriffen „Anima“ und „Animus“ werden in der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung das „Männliche“ im Unterbewusstsein der Frau und das „Weibliche“ im Unterbewusstsein des Manns bezeichnet. Siehe auch: Emma Jung, „Animus und Anima“, Zürich 1967. führte, war unter den Nationalsozialisten nicht nur verboten, sondern wurde auch verfolgt. Beginnt eine Bewegung in diese Richtung erst in den 1960er-Jahren?
Es gab in den 20er-Jahren in Berlin natürlich eine bestimmte Dekadenz, die auch damit umging. Ab 1924 führten der weltweite Anstieg der Konjunktur sowie die Beanspruchung umfangreicher Kredite aus dem Ausland zu einem wirtschaftlichen Aufschwung innerhalb der Weimarer Republik. Unter diesem Einfluss entwickelte sich insbesondere Berlin zu einer internationalen Metropole, die sich durch einen hohen Grad an kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Neuerungen auszeichnete. Neben dem breiten Erfolg der Jazz- und Swingmusik sowie dem Aufblühen von Kinofilm und Rundfunk fand das Lebensgefühl seinen Ausdruck auch in der Vorliebe für mondäne Modestile und einem weitestgehend liberalen Umgang mit Geschlechterrollen. Die Zeit der „Goldenen Zwanziger“ wurde 1929 durch das Eintreten der Weltwirtschaftskrise beendet. Siehe auch: Eberhard Kolb, „Die Weimarer Republik“, München/Wien 1984, S. 91–105.
Machten die 68er eine Öffnung möglich?
68 war eigentlich eher politisch. In den 70ern wurde es niedlicher. Da war dann auch mehr Raum für Transformer, Travestie, Transsexualität und den Körper. Die 60er-Jahre waren mit den Linksextremisten oder den Linksintellektuellen wirklich sehr politisch. 68 ist die Revolution in Paris – und Rudi Dutschke. Am 03. Mai 1968 besetzten Studenten der Sorbonne in Paris mehrere Räume der Universität, um für Reformen in der Bildungs- und Sozialpolitik zu kämpfen. Nach der Räumung des Universitätsgebäudes durch die Polizei kam es in den folgenden Wochen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, an denen sich zunehmend auch die Arbeiterbewegung beteiligte. Die Unruhen gipfelten am 15. Mai 1968 in einem Generalstreik, der erst am 30. Mai 1968 durch eine Radioansprache des französischen Präsidenten Charles de Gaulles aufgelöst werden konnte. Die Ereignisse des „Pariser Mai“ gelten als wichtiger Bezugspunkt für die linksgerichtete 68er-Bewegung in Deutschland, die sich vor allem in Berlin und Frankfurt am Main für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsform sowie gegen den Krieg in Vietnam engagierte. Eine zentrale Rolle kam hierbei den Vertretern der Kommune 1 in Berlin sowie dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) um Rudi Dutschke zu. Siehe auch Ingrid Gilcher-Holtey, „1968. Eine Zeitreise“, Frankfurt am Main 2008. Da war kein Platz für Transformer.
Habt ihr das Politische damals auf einer künstlerischen Ebene verhandelt?
Wir haben uns in der Szene bewegt. Aber wir waren nur wenige. Das wurde nicht hinterfragt. Das war das, was wir machen wollten und machen mussten. Im Wesen ging es um Provokation. In der Öffentlichkeit so zu erscheinen und sich so zu benehmen, war provokativ! Und neben der Provokation wurde ein Stil entwickelt. Es wurden künstlerische Arbeiten entwickelt, die natürlich auch damals schon provokativ waren. Aber wie gesagt, Klauke hat sich eher verkleidet und auch so gelebt. Das muss man ihm anrechnen. Ich bin mehr und mehr auf das Körperliche eingegangen. Oft nackt. Überhaupt keine Kleidung mehr. Und dann habe ich mich auf die Gender-Ambitionen eingelassen: Anima und Animus. Das war einfach eine Investigation in meine sexuellen Ambitionen.
Gab es damals Vorbilder? Pierre Molinier Pierre Molinier (1900 Agen, Frankreich – 1976 Bordeaux) war ein Künstler, der vor allem für sein fotografisches Werk bekannt ist und als Wegbereiter der Body-Art gilt. Er beschäftigte sich vornehmlich mit Aspekten der sexuellen Identität. Ab Mitte der 1950er-Jahre gehörte Molinier der surrealistischen Bewegung um André Breton an. zum Beispiel?
Ja, Pierre Molinier spielte sicher eine Rolle. Es gab ein wahnsinnig schönes Buch von ihm mit einem Text eines deutschen Kritikers. Peter Gorsen, „Pierre Molinier, lui-même“, München 1972. Dass es irgendwo noch andere gab, die sich mit diesen Themen befassten, war für uns sehr wichtig. Obwohl Pierre Molinier natürlich früher war als wir. Wen wir auch interessant fanden, war Hans Bellmer Hans Bellmer (1902 Kattowitz, Polen – 1975 Paris) war ein Künstler, der dem Umfeld des Surrealismus zugerechnet wird. Ab den 1930er-Jahren beschäftigte er sich insbesondere mit der Darstellung und Deformation des weiblichen Körpers. 1939 verhafteten ihn die Nationalsozialisten in Paris und brachten ihn in das Internierungslager „Les Milles“. Gemeinsam mit Max Ernst schuf er dort das Werk „Schöpfungen, die Geschöpfe der Einbildungskraft“ (1939). Nach dem Krieg wurden Bellmers Arbeiten unter anderem auf der documenta 2 (1959) und 3 (1964) ausgestellt. , die „anagrammatischen Körper“. Diese Puppenbilder. Es waren wenige.
1970, 71 habe ich mit Klauke zusammen das Buch „Ich & Ich“ Jürgen Klauke/Ulay, „Ich & Ich“, Eigenverlag 1972. gemacht. Ein wahnsinnig tolles Buch, bis heute. Im Eigenverlag erschienen. Klauke hat damals diese autografischen Zeichnungen gemacht, Federzeichnungen, und ich habe die ganzen Polaroidfotos dazu gemacht. Wir haben uns damit in einem eigenen Buch manifestiert, wussten aber schon von Pierre Molinier und einigen anderen. Ich glaube, Hannah Wilke Hannah Wilke (1940 New York – 1993 Houston, Texas) war eine US-amerikanische Künstlerin, die nach einem Kunststudium in Philadelphia ab 1965 in New York lebte und dort von 1972 bis 1991 an der School of Visual Arts Manhattan unterrichtete. Ihre erste Einzelausstellung wurde 1972 bei Ronald Feldman Fine Arts, New York, und in der Margo Leavin Gallery, Los Angeles, gezeigt. Im gleichen Jahr stellte sie auf der „documenta 5“ in Kassel aus. Zu Wilkes bekanntesten Arbeiten zählen die Performances „Intercourse with …“ (1976/77) und „Hannah Wilke Through the Large Glass“ (1977). hat auch eine Rolle gespielt. Auch in Moliniers Arbeit. Hannah Wilke ist die Amerikanerin, die mit Molinier seine letzten Bilder gemacht hat. In Amerika gab es natürlich auch eine Szene, die wahrscheinlich wesentlich größer war als hier. Besonders in New York. Da hatten wir aber kaum Zugang. Für mich fing Performance auf dem amerikanischen Kontinent an: Vito Acconci, Chris Burden, Terry Fox … Mit Beginn der 1960er-Jahre etablierte sich die Performance als Kunstform in den USA. Zu den frühesten Vertretern dieser Entwicklung gehörten unter anderen Vito Acconci (1940 New York – 2017 New York), Chris Burden (1946 Boston – 2015 Topanga, Kalifornien) und Terry Fox (1943 Seattle – 2008 Köln). Der Begriff „Performance“ hat mich besonders interessiert. Mir ging es um den Körper.
Hast du dieses Thema von Anfang an im Kunstkontext verortet?
Nein. Ich habe bis 1974 gar nicht im Kunstkontext gewirkt. Etwa von 1970 bis 74 war es vollkommen privat, intim, performativ – vor der Kamera, selten auch Performances vor Publikum. Ich war gar nicht daran interessiert, in der Kunstszene zu erscheinen. Das waren Hausarbeiten: untersuchen meiner Identität, Gender, Körper et cetera. Ich hatte das Handicap, dass ich meine Eltern früh verloren habe. Es gab keine Hintergründe, Aufklärungen oder familiäre Anschlüsse. Wer bin ich, und wo komme ich her? Wer sind meine Großeltern? Ich kenne deren Namen bis heute nicht. Ich habe mich vollkommen auf mich selbst bezogen, als Individuum. Und ich habe mich für die Kamera zur Verfügung gestellt – in allen Posen und Momenten. Mit Kleidung, ohne Kleidung, in jeder Form. Ich wollte herausfinden: Wer bin ich? Das Handicap der Fotografie ist natürlich, dass sie immer an der Peripherie der Dinge steht. Fotografie kann nur Äußerlichkeit zeigen. Und das war mir nicht genug. Daher habe ich angefangen, mich zu beschneiden, Tattoos, Piercings und Transplantationen zu machen – „unter die Haut zu gehen“. Das haben die Maler nicht gemacht. Das hat Klauke auch nicht gemacht.
War dieses „Selbstexperiment“, wodurch du zu dir finden wolltest, die Veränderung vom Extremen und Provokativen zu etwas visuell Fassbarem oder Festzuhaltendem? Zwar entsteht kein Werk mit Objektcharakter, aber doch ein Werk, das durch die fotografische Dokumentation sichtbar wird.
Ja. Ich habe das aber alles für mich behalten. Ich habe es nicht ausgestellt. Es war eine große Überwindung für mich, als 1974 zwei Damen von der damaligen Galerie Seriaal in Amsterdam – das war eine gute Galerie, die sich mit Serigrafie beschäftigte, Sigmar Polke und Gerhard Richter hatten da auch schon ausgestellt „Gerhard Richter. Rot-Blau-Gelb“, Galerie Seriaal, Amsterdam, 08.–27. September 1973; „Sigmar Polke“, Galerie Seriaal, Amsterdam, Mai – Juni 1976. – mich besucht haben und eine Ausstellung mit meinen intimen, performativen Bildern, das heißt Fotos, machen wollten. Anfangs habe ich mich geweigert. Meine Bilder waren nicht als Exponate entstanden. Als sie das dritte Mal zu mir gekommen waren, um mich zu überreden, habe ich dann zugesagt. 1974 stellte Ulay in der Ausstellung „Renais Sense, Auto-Polaroids“ in der Galerie Seriaal in Amsterdam aus. Sie wollten diese kommerzielle Galerie damals schließen und etwas ganz anderes anfangen, nämlich die Stiftung De Appel in Amsterdam. De Appel ist ein Zentrum für zeitgenössische Kunst in Amsterdam, das 1975 von Wies Smals (1939–1983) als Stiftung initiiert wurde. Ein besonderer Schwerpunkt des Programms liegt auf installativer und performativer Kunst. Vor der Gründung der De Appel Foundation betrieb Smals von 1968 bis 1975 die Galerie Seriaal in Amsterdam. Das wurde ein sehr guter Ort. Zu der Ausstellung damals hieß es „Der Künstler ist anwesend“. Das war ein Standardsatz auf der Einladungskarte einer jeden Galerie. Wie versprochen war ich zur Eröffnung anwesend. Es war eine ganz ungemütliche, unkomfortable Ausstellung. Sehr persönlich, viel Nacktheit, viel Perversität und was weiß ich alles. Und die Bemerkungen der Besucher waren so grauenhaft, dass ich mir geschworen hatte: „Ich mache nie mehr eine Ausstellung.“ Das hat sich damals in meinem Gehirn festgesetzt, dass ich eigentlich kein Ausstellungskünstler bin. Ich stelle immer noch nicht gerne aus. Das hat natürlich zur Folge, dass du den Markt außen vor lässt, denn ohne Ausstellung kannst du dich nicht vermarkten.
Wie hast du dich in der Zeit finanziert?
Am Anfang habe ich vom Kultusministerium in Holland Subventionen erhalten. Holland hatte damals dieses soziale Experiment 1965 startete das neu gegründete Ministerie van Cultuur, Recreatie en Maatschappelijk Werk (Ministerium für Kultur, Erholung und gesellschaftliche Bildung) ein Subventionsprogramm, das die niederländische Kultur stärken sollte. Das Programm führte zu einer deutlichen Restrukturierung der niederländischen Kultur in den 1960er- und 1970er-Jahren. Siehe auch: Andreas Gebbink und Alexandra Klaus, „Niederländische Kulturpolitik“, in: „NiederlandeNet“, Informationsportal der Universität Münster, unter: https://www.uni-muenster.de/NiederlandeNet/nl-wissen/kultur/vertiefung/kulturpolitik/ueberblick.html (eingesehen am 30.08.2017). , und Künstler haben dabei relativ gut abgeschnitten. Ich hatte das Glück dazuzugehören und konnte mich so durchschlagen. Recht und schlecht.
Hast du dir damals darüber Gedanken gemacht, dass du ein Werk haben müsstest, das man auch veräußern kann? Oder bist du der Meinung, die Förderung von Kunst und Kultur ist Aufgabe des Staats, damit diese Form von Kunst überhaupt möglich ist?
Holland war außergewöhnlich. Das war auch bekannt. Wenn ich nach Amerika oder wohin auch immer kam, wussten die: „Ihr habt es gut in Holland. Ihr bekommt Subventionen vom Staat.“ Ich habe aber immer produziert. Ich habe wirklich Hunderte und Tausende Polaroidfotos und auch andere Fotografien gemacht. Ich habe so viele Arbeiten, dass ich vier Museen füllen könnte. Aber ich mache damit nie etwas. Ich bin mein eigener Sammler.
Das war deine Entscheidung, oder? Du wolltest weder ausstellen noch verkaufen.
Ja.
Hat sich deine Einstellung dazu verändert?
Im Wesen kaum. Ich habe weiterhin viel produziert und wenig oder nichts verkauft. Heute habe ich ein großes Depot in Amsterdam. Mein Archiv habe ich in Ljubljana. Das hat so viel Potenzial, daraus könnte ich ein Leben lang und länger schöpfen. Im Depot, das sind alles fertige Arbeiten, viele großformatig. Es ist eine eigenartige Marotte von mir. Aber wie gesagt, nach der Ausstellung in der Galerie Seriaal 1976, habe ich mir geschworen: „Ich mache nie mehr eine Ausstellung.“ Ich fand es nicht zufriedenstellend. Daher habe ich später auch Performance gemacht; das ist das Ultimativste, was man machen kann. Ich habe nie gemalt. Ich habe eigentlich nie mit traditionellen Medien gearbeitet. Es waren immer Fotografie, Video, Film, Performance. Manchmal Audio oder Installation. Das war aber damals nicht gängig und nicht gerne gesehen. Ich kann mich natürlich nicht mit Joseph Beuys und solchen Leuten vergleichen. Die haben ihre Karriere so wunderbar und gut massiert, die waren offen dafür und haben auch das Galeriewesen miteinbezogen. Das ist auch richtig. Wofür machst du Kunst? Um sie zu zeigen. Ich habe meine Kunst gemacht, um sie nicht zu zeigen.
Obwohl die Performances natürlich gesehen wurden, wenn auch häufig nur von einem sehr kleinen Kreis von Leuten. 20, 30, 40 Leute … Bei der documenta, als du mit Marina Abramović zusammen teilgenommen hast, ein bisschen mehr. Mit Marina Abramović zeigte Ulay auf der documenta 6 (1977) die Performance „Expansion in Space“, auf der documenta 7 (1982) „Nightsea Crossing“.
Bei der documenta waren außergewöhnlich viele Leute.
Habt ihr es dort auch hauptsächlich für euch gemacht?
Die Performances haben wir letztendlich doch für andere gemacht. Der Kreis war ganz klein. 20, 30, 40 Leute, genau wie du sagst. Heute sprechen die jungen Leute wieder darüber. Das ist interessant. Die Performance haben zwar nur wenige gesehen, aber die wenigen haben es verbreitet, indem sie darüber erzählt oder geschrieben haben. Dadurch sind Legenden entstanden. Das ist schön. Das hat nichts mit dem Markt zu tun.
Bist du eigentlich gegen die Wiederaufführung?
Ja.
Siehst du die Fotos und Filme, die damals entstanden sind – die auch in deinem Film „Ulay’s Journal from November to November. Project Cancer“, Regie: Damjan Kozole, 91 Minuten, 2013. mit eingearbeitet wurden –, als Werk oder als Dokumentation?
Ich finde das irrelevant, ob ein Bild Dokumentation oder Werk ist. Es gab häufiger die Diskussion, ob es legitim oder akzeptabel ist, dass der Künstler ein Dokumentationsbild, zum Beispiel ein Foto, als ein autonomes Kunstwerk autorisiert. Warum nicht? Das Bild muss es bringen. Ob das jetzt ein Dokument ist oder ein Meisterwerk, finde ich vollkommen irrelevant.
Ich würde sagen, der Unterschied liegt darin: Wenn ein Bild etwas dokumentiert, brauchst du den Kontext der Aktion oder der Performance, um es richtig einzuordnen. Ohne den Kontext bleibt es eine rein formale Komposition.
Ja, ein formalistisches, ästhetisches Moment. Die meisten meiner Bilder rechtfertigen sich nicht mit dem Ästhetisch-Formalistischen. Dazu habe ich gar keine Geduld. Darum male ich auch nicht. Ich habe in den 80er-Jahren immer gesagt: „Ästhetik ohne Ethik ist Kosmetik.“ Das gilt heute mehr als je zuvor. Für mich ging es um etwas anderes. Viele meiner fotografischen Bilder sind sehr amateurhaft. Ich mag keine Superlativbilder. Vor allen Dingen nicht in der Fotografie. Und was wir heute sehen oder schon seit einiger Zeit sehen, sind viele absolute Superlativbilder der Fotografie. Die haben nur mit sich selbst und dem Macher zu tun. Das liegt mir fern. Das interessiert mich überhaupt nicht. Für mich muss es irgendwie eine Referenz oder eine Relation zum Sozialen oder zum Politischen haben. Ich bin kein Politkünstler, aber es muss irgendwie noch eine andere Dimension haben, die zum Beispiel mit Ethik zu tun hat. Ich mache ja viele Projekte, die das beinhalten. Zum Beispiel die Arbeit in Israel, in der West Bank, mit Geisteskranken und solche Geschichten. Im Rahmen des Projekts „WATERTOALL“ besuchte Ulay 2004 eine palästinensische Gemeinschaft im Westjordanland und führte mit den Jugendlichen unterschiedliche Workshops durch. Das passt natürlich nicht so richtig in den Kunsthandel.
Das ist vielleicht auch nicht nur die Frage nach dem Kunsthandel, sondern ganz grundsätzlich: Muss man das überhaupt Kunst nennen?
Nein.
Gleichzeitig warst du mittendrin. Du warst in New York. Du kanntest die Szene. Ihr wart auf der documenta.
Dreimal.
Ihr wart in Venedig. Ulay und Marina Abramović nahmen 1976 und 1984 gemeinsam an der Biennale von Venedig teil.
Zweimal.
Ihr wart überall.
„Ihr“ heißt MA Von 1976 bis 1989 lebten und arbeiteten Marina Abramović (* 1946 Belgrad) und Ulay zusammen. Ihre gemeinsamen Performances, darunter „Relation in Time“ (1977), thematisieren die Beziehung zwischen zwei Menschen, die einander nahestehen, bisweilen sogar symbiotisch auftreten, dabei jedoch von ihren individuellen Ausprägungen, Vorstellungen und Wünschen stark geprägt sind. und ich?
Ja. Auf der Biennale und den documenta-Ausstellungen warst du ja mit Marina Abramović. Ich glaube, Manfred Schneckenburger Manfred Schneckenburger (* 1938 Stuttgart) ist ein deutscher Kunsthistoriker und Kurator, der von 1991 bis 2004 Professor für Kunst und Öffentlichkeit an der Kunstakademie in Münster war. Als künstlerischer Leiter verantwortete er die documenta-Ausstellungen 6 und 8 in den Jahren 1977 und 1987. hat euch damals einen Raum gegeben, den ihr abgelehnt habt?
Das war die „documenta 6“. Schneckenburger hatte Joachim Diederichs Joachim Diederichs (* 1945 Jena) ist ein Kunsthistoriker und Publizist. Nach seinem Studium war er unter anderem an der Erarbeitung des Katalogs der Sammlung Ludwig beteiligt. Unter der Leitung von Manfred Schneckenburger arbeitete er ab 1975 an der Vorbereitung der „documenta 6“, wo er vor allem den Performancebereich betreute. 1979 gehörte er zu den Mitinitiatoren der Artothek in Wien, bevor er 1980 Direktor der Kunsthalle Wilhelmshaven wurde. Dort verantwortete er unter anderem Ausstellungen mit Franz Erhard Walther, Peter Weibel und den Künstlern der Mülheimer Freiheit. Seit 1990 ist Diederichs als freier Kurator und Publizist tätig. , seinen Kurator nach Bologna geschickt, wo wir die Performance „Imponderabilia“ Marina Abramović und Ulay, „Imponderabilia“, 1977. gemacht haben. Dabei standen wir nackt im Eingang des Museums. Einer der Publikumslieblinge, bis heute. Und Diederichs kam und sagte: „Wir möchten euch zur documenta einladen.“ – „Wow, documenta!“ Und als es so weit war, fuhren wir nach Kassel. Wir hatten kein Konzept und keine fixe Idee, was wir machen wollten. Das hatten wir eigentlich nie. Wir dachten, wenn wir die Performance oder das Konzept für die Performance vor Ort entwickeln, erhöht sich die Authentizität. Im Fridericianum gab es, im Kellergeschoss, einen Raum für Performance. Den haben wir uns angeschaut und gesagt: „No way. Das ist eine Beleidigung. Warum nicht gleich in der Kantine oder auf der Toilette?“ Es ging dann darum: „Take it or break it.“ Marina bekam einen Heulanfall: „Was machen wir denn jetzt?“ Ich ging ins documenta-Büro, organisierte ein paar Briefbögen, und dann kopierten wir den Briefkopf und machten unsere eigenen Poster. Es blieb aber noch die Frage: Wo können wir es machen? Neben dem Fridericianum war Bilka, ein Billigkaufhaus mit Tiefgarage. Die haben wir uns angeschaut und waren uns gleich einig: „Das ist es.“ Dann haben wir mit dem Manager von Bilka gesprochen: „Wir brauchen die Garage für eine documenta-Geschichte. Allerdings ohne Autos.“ Und der sagte wirklich: „Okay. Ab fünf Uhr könnt ihr rein.“ Die Performance sollte um acht Uhr stattfinden. Oder kurz nach acht, um acht Uhr war die offizielle Eröffnung, live mit Nam June Paik, Beuys und Charlotte Moorman. Zur Eröffnung der „documenta 6“ (1977) wurden Beiträge von Joseph Beuys, Douglas Davis sowie Nam June Paik und Charlotte Moorman live via Satellitenübertragung im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Ich habe dann die Installation gebaut. Statt der Betonsäulen haben wir stabiles Holz oben und unten mit Metallgleitplatten versehen. Darin waren Mikrofone eingebaut, die ich spontan von einer Rock-’n’-Roll-Band aus Karlsruhe bekam. Viertel vor acht war die Installation fertig, und ich war natürlich müde vom Bauen. Erst passierte nicht viel, die Garage war ja nicht als offizieller Ort der documenta angekündigt. Als wir anfingen, war noch kein Mensch da. Wir zogen uns aus, legten unsere Kleider irgendwohin und begannen, nackt gegen die Säulen zu laufen, zu kollidieren. Das Geräusch war unglaublich. Sehr laut und gemein. Zwei nackte Körper, die gegen eine Wand laufen, machen ein sehr spezielles Geräusch. Eigentlich haben wir nur Nackt-Performances gemacht, wenn es um den Sound ging. Angezogen von diesem ungewöhnlichen Sound, der aus der Garage herausdrang, waren es am Ende ungefähr 900 Personen, die unsere Performance sahen. Im documenta-Katalog werden wir allerdings nicht erwähnt – wegen meiner Spitzweg-Geschichte 1976 entfernte Ulay das Gemälde „Der arme Poet“ von Carl Spitzweg aus der Neuen Nationalgalerie in Berlin und brachte es zu einer türkischen Gastarbeiterfamilie in Berlin-Kreuzberg, wo er es an der Wand anbrachte. Nach 30 Stunden brachte er das Gemälde zurück. .
Was heißt „wegen deiner Spitzweg-Geschichte“?
Schneckenburger fand das einfach unverschämt, was ich da gemacht habe. Er konnte es nicht mit sich vereinbaren. Er wollte uns richtig bestrafen und hat uns daher nicht in den Katalog der „documenta 6“ mit aufgenommen.
Aber er hatte euch doch eingeladen?
Ja, aber dann hat er uns doch noch ein Schnippchen geschlagen, um sein Unbehagen wegen der Spitzweg-Geschichte zum Ausdruck zu bringen.
Ist es richtig, dass Charlotte Moorman während eurer Performance in Ohnmacht gefallen ist?
Ich bin nach 20 Minuten aus der Performanceanlage ausgestiegen. Marina hat fortgesetzt. Ich war ja nackt, und da waren so viele Leute, dass ich meine Kleidung nicht finden konnte. Zwischen den Beinen der Leute habe ich nackt auf dem Boden nach meinem Häufchen Kleidung gesucht. Und auf einmal sehe ich eine Dame im langen, roten Kleid mit einem schwarzen Cello-Koffer vor mir: Charlotte Moorman. Ich stehe auf, nackt, und sie fällt rückwärts in Ohnmacht. In ihrem roten Kleid, der schwarze Cello-Koffer auf ihr, lag sie auf dem Betonboden. Ein tolles Bild! Ich habe mich hingekniet, meine Hand unter ihren Kopf gelegt und ihr leicht auf die Wange geschlagen: „Charlotte, Charlotte, Charlotte, Charlotte.“ Und dann zog mich jemand von hinten an den Haaren: „What did you do to my wife?“ Es war ihr Mann, der das gar nicht mitbekommen hatte und dachte, ich habe ihr irgendwie etwas angetan. Im Wesen habe ich nichts anderes gemacht, als mich vor ihr aufzustellen, nackt.
Und was war bei deiner ersten Begegnung mit Beuys? Irgendwie war es wohl nicht besonders friedlich?
Es war nicht unfriedlich. Die erste Begegnung mit Beuys war im Theater am Rhein in Arnheim, während eines Performance-Events. „Performance Festival“, Theater aan de Rijn, Arnheim, 22. September – 15. Oktober 1978. An dem Festival waren unter anderen Marina Abramović und Ulay, Joseph Beuys, Chris Burden, Gerrit Dekker, Jürgen Klauke, Gina Pane und Carolee Schneemann beteiligt. Ich habe die Macke, dass ich vor jeder Performance die Fußböden sauber mache. Das finde ich ganz wichtig. Also habe ich angefangen, den Fußboden zu kehren, und plötzlich nimmt Beuys mir den Besen aus der Hand, weil er es machen will. Er hat es ja auch mit Besen und Kehren. Der Besen und der Akt des Kehrens tauchen im Werk von Joseph Beuys wiederholt auf. Zu seinen bekanntesten Arbeiten in diesem Kontext zählen die Aktionen „Überwindet endlich die Parteiendiktatur“ (1971) und „Ausfegen“ (1972). Wir haben uns wirklich um den Besen gestritten. Letztendlich konnte ich ihn aber überzeugen: „Das ist meine Performance, und ich kehre den Boden.“ Später haben wir zusammen Bier getrunken und Spaß gehabt.
Was eigentlich viel interessanter war, war die „documenta 7“ mit Rudi Fuchs Rudi Fuchs (* 1942 Eindhoven) ist ein niederländischer Kunsthistoriker und Kurator und war von 1975 bis 1987 Direktor des Stedelijk Van Abbemuseum in Eindhoven sowie von 1993 bis 2003 des Stedelijk Museum in Amsterdam. 1982 verantwortete er die künstlerische Leitung der „documenta 7“. . Wir machten damals diesen Zyklus „Nightsea Crossing“ Marina Abramović und Ulay, „Nightsea Crossing“, Serie von 22 Performances, 1981–1987. , 90 non-consecutive days, nicht aufeinanderfolgende Tage. Zur „documenta 7“, die ja 100 Tage dauerte, wollten wir sieben Tage lang einander am Tisch gegenübersitzen. Bewegungslos, fast schweigend. Die ersten sieben Tage ab der Eröffnung, in der Mitte der documenta sieben Tage und die letzten sieben Tage. Dafür haben wir diesen oktogonalen Raum in der Orangerie bekommen. Ganz oben, wunderschön. Da hatten wir einen Tisch, unsere Stühle, einige Objekte und einen Wasserspender mit Goldblättern. Aus Bumerangs hatten wir ein Swastika gemacht, und es hingen zwei Baldachine, die wir nach sieben Tagen über die Stühle herunterlassen wollten, um die Energie zu erhalten. Das war nach dem ganzen Trubel der documenta ein wunderbarer Meditationsraum.
Nach den ersten sieben Tagen – wir endeten an einem Samstag – kamen junge Leute mit Säcken und Stroh und Steinen und Holz und allem möglichen Kram: „Wir sind von der Free University Nach den Auseinandersetzungen um seine Professur an der Kunsthochschule Düsseldorf initiierte Joseph Beuys 1973 mit Willi Bongard, Georg Meistermann und Klaus Staeck die Freie Internationale Universität (FIU), die als freie Hochschule das bestehende Bildungssystem ergänzen sollte. Im Sinne des erweiterten Kunstverständnisses von Beuys war auch die FIU ein Werk der Sozialen Plastik. Während der „documenta 7“ organisierten die Mitglieder der FIU ein umfangreiches Begleitprogramm. Die FIU bestand bis zwei Jahre nach dem Tod von Joseph Beuys im Jahr 1986. . Wir richten uns jetzt hier ein.“ Ich sagte: „Nein, ihr richtet euch nicht ein. Das ist ein Missverständnis. Wir haben den Raum für 100 Tage. Wir arbeiten dreimal, und für den Rest der Zeit ist der Ort als Meditationsraum gedacht.“ – „Nein, der Beuys hat uns geschickt, und wir machen das jetzt.“ Ich bin zur Direktion gegangen und habe den Finanzdirektor erwischt: „Hören Sie mal, Sie müssen das schließen. Ich möchte, dass Sie das jetzt schließen. Das muss erst abgesprochen werden.“ Und so wurde es gemacht. Am Montag haben wir uns mit Rudi Fuchs und Beuys im documenta-Büro zusammengesetzt. Ich hatte am Wochenende überlegt: Wie kann ich das umlegen? Was kann ich denen anbieten? Rudi sagte: „Entschuldigung, ich habe euch das beiden versprochen. Das tut mir sehr leid. Was machen wir jetzt?“ Beuys war sehr autoritär, was ich merkwürdig fand. Warum muss so ein Mann so autoritär sein? So ein weiser, wunderbarer, großer Mensch. Ich sagte: „Ich habe eine andere Idee. Das kostet die documenta allerdings etwas Geld. Ich schlage vor, dass auf der Wiese vor der Orangerie ein großes Festzelt aufgebaut wird, mit Holzboden und Elektrizität. Ich glaube, das ist das bessere Environment für die Free International University. Und so wurde es gemacht. Das war die „documenta 7“. Bei der „documenta 8“, die hat Schneckenburger auch wieder gemacht, was ich nicht verstanden habe, gab es noch einmal eine Videoinstallation Im Rahmen der „documenta 8“ zeigten Marina Abramović und Ulay die Videoarbeit „City of Angels“ (1983). .
Du sagst, Beuys sei ein weiser, großer Mensch gewesen. Interessant ist, wie viele sich von der Person Beuys haben beeindrucken lassen.
Beuys war ein Orakel. Ich glaube, Beuys und Warhol haben sich einmal in Neapel bei Lucio Amelio in der Galerie getroffen. In Neapel begegneten sich Joseph Beuys und Andy Warhol bei der Ausstellung „Beuys by Warhol“, die am 01. April 1980 in der Galleria Lucio Amelio eröffnet wurde. Dort zeigte Warhol erstmals eine Auswahl seiner Porträts von Joseph Beuys. Es gibt ein sehr schönes Foto, auf dem die beiden sich an einem langen Tisch gegenübersitzen, und in der Mitte auf dem Tisch sitzt eine Dame mit Blätterkrone. Ich habe Warhol nie persönlich kennengelernt, aber beide hatten etwas Orakelhaftes. Beuys war wirklich ein Schamane, ein ganz besonderer Mensch. Ohne Zweifel. Und er hatte einen Rieseneinfluss auf viele Menschen. Bei Warhol war es genauso. Er war eine sehr, sehr charismatische Person.
Gab es je wieder jemanden wie Beuys oder Warhol?
Meines Wissens nicht. Die sahen ja auch beide ganz eigenartig aus. Beuys hatte immer eine wächserne, feuchte, gelbliche Haut. Die waren beide wie Mutanten. Sehr eigenartige Personen. Abgesehen davon, was sie machten und was wir über ihre Arbeit wissen, waren sie ganz außergewöhnliche Persönlichkeiten. Im Wesen waren sie ganz gegensätzlich. Warhol war immer sehr verschwiegen. Sehr mystisch. Beuys war ein Sprecher, und seine performative Präsenz war unglaublich. Warhol hatte dieses wahnsinnige Charisma, diese Anziehungskraft, dieses Magnetische. Er hat sehr viele gute Künstler angezogen, und er war ein absoluter Workaholic. Wie Beuys auch. Kippenberger war auch ein interessanter Typ, aber nicht wie Beuys oder Warhol. Es gab viele Künstler, die das Künstlersein haben raushängen lassen. Markus Lüpertz, A.R. Penck und all diese Leute. Sigmar Polke war anders. Richter auch. Aber viele von den Proletenkünstlern dachten, dass Künstlersein bedeutet, sie können sich alles erlauben. Das ist nicht das, was ich mit Beuys und Warhol verbinde. Das ist etwas ganz anderes.
Hattest du Kontakt zu Penck, Polke oder Richter?
Polke ja. Richter nein. Penck ja, aber flüchtig. Lüpertz nicht, Immendorff auch nicht.
Wie war dein Kontakt zu Polke?
Gut. Sofern wir Kontakt hatten. Polke war in seinen jungen Jahren sehr provokativ. Das haben ihm viele Leute verübelt. Später hat er sich auf diesen Bauernhof außerhalb von Köln zurückgezogen und hat alles das, was er zu sagen hatte, in seine Arbeit gesteckt. Zwischen 1972 und 1978 lebte und arbeitete Sigmar Polke (1941 Oels – 2010 Köln) gemeinsam mit Freunden und Bekannten, darunter seine damalige Lebensgefährtin Katharina Steffen und seine Studenten Achim Duchow und Astrid Heibach, auf dem Gaspelshof in Willich am Niederrhein. Neben der (teils gemeinschaftlichen) künstlerischen Arbeit experimentierten die Hofbewohner auch mit psychedelischen Drogen. Polke war, in Deutschland, mein absoluter Lieblingskünstler. Ich fand ihn ganz außergewöhnlich. Von der Generation fand ich Polke den Interessantesten.
Weil er so experimentell war?
Auch, ja. Ich bin auch sehr experimentell. Und Experimente gehören natürlich nicht ins Museum.
Polke hatte lange mit seiner Arbeit wenig Erfolg und hat auch nicht gut verkaufen können. Denkst du, das hat damit zu tun, dass er so unangepasst war?
Polke war frech. Er hat mit Malerei und Fotografie gespielt. Und Fotografie war verpönt. Nach 180 Jahren Geschichte der Fotografie war sie immer noch nicht akzeptiert. Und Polke hat mit diesem Diskurs Malerei/Fotografie gespielt. Sehr experimentell. Und teilweise unter Drogen. Aber ich finde seine Arbeit bahnbrechend. Von allen Nachkriegskünstlern in Deutschland hatte ich zu ihm die größte Affinität.
Mit Marina Abramović warst du überall in Europa – im Osten, im Westen, im Süden. Zwischen 1976 und 1989 waren Ulay und Marina Abramović mit ihren Arbeiten unter anderem im Stedelijk Museum in Amsterdam (1977), in der Galleria Communale d’Arte Moderna in Bologna (1977), der National Gallery of Ireland in Dublin (1980) und der Galerija Studenski Kulturni Centrar in Belgrad (1983) vertreten. Seid ihr damals auf andere Künstler getroffen, die ähnlich gearbeitet haben wir ihr, auf Gleichgesinnte?
Ich war natürlich öfters im vormaligen Jugoslawien und auch in der Tschechoslowakei. Heute Tschechien. Wir hatten gute Kontakte zu jugoslawischen Künstlern in Zagreb und in Belgrad. Im Osten gab es wahnsinnig gute Künstler.
Wo sind die heute?
In den Museen! Und sie sind reich. Viele von ihnen.
Haben es aber nie in den Westen geschafft?
Einige wenige. Die meisten sind dort geblieben, wo sie immer waren.
Die vormaligen Ostkünstler haben ziemlich Karriere gemacht. Teilweise nach ihrem Tod, teilweise noch zu Lebzeiten.
Kannst du mir ein paar Namen nennen?
Raša Todosijević, Tomislav Gotovac, Sanja Iveković. Tomislav Gotovac (1937 Sombor, Serbien – 2010 Zagreb), Raša Todosijević (* 1945 Belgrad) und Sanja Iveković (* 1949 Zagreb) gehören dem Umfeld der Kunstbewegung Nova umjetnička praksa (Neue künstlerische Praxis) an, die ab 1966 im ehemaligen Jugoslawien entstand. Als eine der ersten Kunstgruppen innerhalb der Balkanländer experimentierte diese mit Happening, Performance, Installation und neuen Medien. Eine Ausnahme ist natürlich Braco Dimitrijević Braco Dimitrijević (* 1948 Sarajevo) studierte ab 1968 freie Kunst in Zagreb und London. Er arbeitete im Umfeld der Nova umjetnička praksa (Neue künstlerische Praxis) und erhielt 1976 ein Stipendium des DAAD in Berlin. 1977 veröffentlichte Dimitrijević den „Tractatus Post Historicus“, der seinen künstlerischen Ansatz auf theoretischer Ebene fortführte. Das Museum Ludwig in Köln organisierte 1983 eine umfassende Einzelausstellung zu Dimitrijevićs Werk. Er war auf der documenta 6 (1977) und 9 (1992) vertreten. . Der war immer in London und in Paris. Und Mladen Stilinović Mladen Stilinović (1947 Belgrad – 2016 Pula, Kroatien) beschäftigte sich mit experimentellem Film und Poesie und gehörte Ende der 1960er-Jahre auch der Bewegung um Nova umjetnička praksa (Neue künstlerische Praxis) an. 1981 war er Mitbegründer der Extended Media Gallery in Zagreb. Sein Hauptwerk „The Exploitation of the Dead“ entstand zwischen 1984 und 1990. Stilinović war 2007 auf der „documenta 12“ sowie 2003 auf der „50. Biennale von Venedig“ vertreten. macht im Augenblick eine Riesenkarriere in Amerika. Ich hatte einen engen Bezug zu denen, weil ich immer einen sehr interessanten Bezug zum Osten hatte. Zum Sozialismus. Ich nenne mich ja selber auch einen „nicht sozialen Sozialisten“. Das gefiel mir gut. Das hat natürlich auch mit Abramović zu tun, weil sie aus der Ecke kommt. Auch sie hat eine Riesenkarriere gemacht. Durch Abramović habe ich die Künstler dort kennengelernt. Das war die Zeit der politisch Oppressiven. Sie haben wahnsinnig schöne Sachen gemacht. Auch Petr Štembera in Prag. Das war Underground-Performance, und zwar richtig gut.
Gab es in Deutschland niemanden?
Wir hatten natürlich Kontakt mit Ulrike Rosenbach Ulrike Rosenbach (* 1943 Bad Salzdetfurth) ist insbesondere für ihre Werke mit feministisch-kritischem Inhalt bekannt, die sie als Video, Performance oder multimediale Installation ausstellt. Ab 1964 studierte Rosenbach Bildhauerei an der Kunstakademie Düsseldorf bei Karl Bobek, Norbert Kricke und Joseph Beuys. 1975 bis 1976 unterrichtete sie feministische Kunst und Medienkunst am California Institute of the Arts in Valencia. In Köln gründete Rosenbach 1975 gemeinsam mit den Künstlern Klaus vom Bruch und Marcel Odenbach das Alternativ Television ATV und die Schule für Kreativen Feminismus (1976–1982). Sie lehrte von 1989 bis 2007 als Professorin für Neue künstlerische Medien an der Hochschule der Bildenden Künste Saar. , Katharina Sieverding Katharina Sieverding (* 1944 Prag) wurde in den 1970er-Jahren mit ihren großformatigen Foto- und Videoarbeiten bekannt. Sie studierte an der Kunstakademie Düsseldorf (1964–1974) zunächst in der Bühnenbildklasse von Teo Otto und ab 1967 in der Klasse von Joseph Beuys. Sieverding war auf der documenta 5 (1972), 6 (1977) und 7 (1982) vertreten und stellte 1997 zusammen mit Gerhard Merz im Deutschen Pavillon der 47. Biennale von Venedig aus. Von 1992 bis 2007 war sie Professorin an der Universität der Künste Berlin. , mit der ich übrigens immer noch Kontakt habe, mit ihrem Mann Klaus Mettig Klaus Mettig (* 1950 Brandenburg) arbeitet vorwiegend im Bereich der Fotografie. 1974 hatte er seine erste Einzelausstellung in der Galerie Ingrid Oppenheim in Köln. 1982 war er auf der „documenta 7“ vertreten. Seit 1973 lebt er zusammen mit der Künstlerin Katharina Sieverding. , Rebecca Horn Rebecca Horn (* 1944 Michelstadt) studierte von 1963 bis 1971 an der Hochschule für bildende Künste Hamburg und der Saint Martin’s School of Art in London. Zwischen 1972 und 1981 lebte sie in New York. Seit den frühen 1970er-Jahren arbeitet Horn vor allem im Bereich der Performance- und Medienkunst. Ihre erste Einzelausstellung fand 1973 in der Galerie René Block in Berlin statt. Horn wurde mit Performances, Rauminstallationen und kinetischen Skulpturen wie „Paradieswitwe“(1975) oder „Die Pfauenmaschine“(1979–1982), bekannt. Von 1989 bis 2004 war sie Professorin an der Hochschule der Künste Berlin. Sie war auf der documenta 5 (1972), 6 (1977), 7 (1982) und 9 (1992) vertreten und nahm an der 39. (1980), 42. (1986) und 47. (1997) Biennale von Venedig teil. 1992 erhielt Horn den Kaiserring der Stadt Goslar. – natürlich kenne ich die alle. Aber ich bin kein Mensch, der Kontakte pflegt.
Das war euch auch damals nicht wichtig?
Das hatte auch mit unserer Existenz zu tun. Wir lebten fünf Jahre lang in diesem Bus. Wir hatten keinen festen Wohnsitz. Handys gab es nicht. Computer gab es nicht. Das gab es alles nicht. Die Kontaktmöglichkeit über Medien war gar nicht so einfach. Und wir waren immer auf Reisen. Wir hatten aber auch nie das Bedürfnis, uns einer Gruppe, einer Künstlergruppe oder Kommune anzuschließen. Das habe ich bis heute nicht.
1970 warst du das erste Mal in New York. War das ein Kulturschock?
Nein. 1970 hatte bereits in Amsterdam Flower-Power Einzug gehalten. Als ich 70, 71 in New York war, war im Central Park das erste Gay Pride Festival Meeting oder Gathering. Ein Jahr nach den sogenannten „Stonewall Riots“ fand am 28. Juni 1970 der erste Gay Pride March in New York statt. Er erstreckte sich über 51 Blocks – von der Christopher Street im Greenwich Village bis in den Central Park. Alles Hippies. Gay Hippies – Hippie Gays. Und das war gar nicht so anders. Ich fühlte mich da vollkommen zu Hause. Die Häuser waren größer, aber sonst? Es war sehr menschlich in New York. Mir hat es sehr gut gefallen. Ab 70 war ich auch beinahe jedes Jahr dort. Ich konnte mich aber nie entscheiden, dort zu leben.
In New York oder insgesamt in den USA waren die Künstlerinnen sehr viel früher anerkannt, als es in Europa der Fall war. Haben sich Frauen damals eher mit der Performance- und Medienkunst beschäftigt, weil die traditionellen Gattungen Malerei und Skulptur von den Männern besetzt waren?
Der ganze Kunstbetrieb war eine Männerdomäne.
Und war die Performancekunst eine Nische, die die Frauen hofften für sich erobern zu können, oder haben Frauen eher die Affinität, mit dem Körper umzugehen und machen deswegen Performance?
Ich glaube, dass Frauen in Amerika die frühesten Performancekünstler waren. Das Wort „Performance“ muss nicht missverstanden werden. Performance hat außerhalb des englischen Sprachraums keine Bedeutung. Es bedeutet für uns etwas, seitdem Performance in der bildenden Kunst erscheint, in der Visual Art. Und da ist es auch spezifisch. Obwohl Performance im Englischen immer auch Theater, Tanz und Musik miteinschloss. Aber wir beziehen uns jetzt auf den Performancebegriff so wie er in den Visual Arts entstanden ist. Ich glaube, Carolee Schneemann Carolee Schneemann (* 1939 Fox Chase, Pennsylvania) zählt zu den einflussreichsten Wegbereiterinnen der Performance- und Body-Art. Nachdem sie in den späten 1950er-Jahren zunächst als Malerin arbeitete, gründete sie Anfang der 1960er-Jahre das Kinetic Theater, wo Tänzer, Musiker und bildende Künstler tätig waren. Auf dem Pariser Festival de la Libre Expression führte Schneemann im Mai 1964 erstmals ihre Performance „Meat Joy“ auf und arbeitete in den folgenden Jahren an ihrem Film „Fuses“, der sie und ihren Lebenspartner James Tenney beim Sex dokumentiert. Für ihr Lebenswerk erhielt Schneemann 2017 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig. war sehr früh. Barbara Smith Barbara T. Smith (* 1931 Pasadena, Kalifornien) studierte von 1965 bis 1971 am Chouinard Art Institute in Los Angeles und an der University of California in Irvine. Ab Ende der 1960er-Jahre zeigte sie zahlreiche Performances, darunter „Ritual Meal“ (1969), „Celebration of the Holy Squash“ (1971) und „Feed Me“ (1973). Gemeinsam mit Nancy Buchanan und Chris Burden gründete sie 1970 die F-Space Gallery, die ein öffentliches Podium für experimentelle Kunstformen bot. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit unterrichtete Smith unter anderem am Otis College of Art and Design, am San Francisco Art Institute sowie an der University of California in Los Angeles. war sehr früh. Und viele andere Frauen in Amerika. Die frühen Performerinnen in Deutschland oder in Europa waren beinahe alle feministisch orientiert. Inwieweit Carolee Schneemann feministisch orientiert war, weiß ich nicht. Aber sicherlich gab es auch in Amerika einige feministisch orientierte Performer. Nicht zu verwechseln mit den Tänzern, die Performance machten: Trisha Brown, Simon Forti, Yvonne Rainer et cetera, die auch teilweise im Kunstbetrieb auftauchten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Feministinnen waren. Das sind Frauen, die sich durchgesetzt haben. Das war hier anders. Hier hatte man eine härtere Munition nötig, um sich durchzusetzen. Ich erinnere mich an Katharina Sieverding, die konnte so gut bösartig sein. Bösartig gegen Johannes Gachnang Johannes Gachnang (1939 Zürich – 2005 Bern) leitete von 1974 bis 1982 die Kunsthalle Bern und war unter anderem für die „documenta 7“ (1982) in Kassel und die Ausstellung „Bilderstreit“ in Köln tätig. Gachnang gilt als Vermittler des künstlerischen Werks von Georg Baselitz, Markus Lüpertz, A.R. Penck und Sigmar Polke. oder Rudi Fuchs bei der Venedig-Biennale, die griff wirklich the male hierarchy an. Richtig verbissen. Und ich fand das toll. Der ganze Kunstbetrieb war von Männern besetzt – es war eine Männerdynastie. Ich kann mich erinnern, dass Ulrike Rosenbach nach Amsterdam kam, um in De Appel eine Performance „Ulrike Rosenbach. Video Registrations of Performances“, De Appel, Amsterdam, 01.– 30. September 1983. zu machen und sich damals weigerte, mir die Hand zu geben. Das vergesse ich nie. Das hat schon etwas Militantes. Aber ich mochte sie immer.
Marina Abramović ist eine sehr dominante und starke Frau. War das für sie damals ein Thema? Dieses Frau/Mann-Ding im Kunstbetrieb?
Ja, logisch. Einige feministische Künstlerinnen versuchten natürlich, Marina zu sich zu ziehen. Aber Marina hatte nie Ambitionen, eine feministische Künstlerin zu sein. Wir haben eine bessere Lösung gefunden.
Weil sie den Support woanders herbekam, musste sie sich gar nicht mehr behaupten?
Ja. Das war eine bessere Lösung, glaube ich. Obwohl der frühe Feminismus nicht zu verpönen ist. Die frühen feministischen Künstlerinnen haben einen ganz besonderen historischen Stellenwert. Sie haben Kunstarbeiten gemacht, die können betrachtet und beurteilt werden. Aber sie waren auch politisch engagiert. Sie haben zwei Qualitäten. Und das finde ich sehr wichtig. Es sollte auch so gesehen werden, und die Preise sollten höher sein als bei anderen.
Hast Du dich damals für die Fluxus-Leute interessiert?
Ja. In Wiesbaden gibt es einen großen Fluxus-Mäzen, Michael Berger Michael Berger (* 1941 Berlin) ist ein Kunstsammler und Produzent der Harlekin-Geschenkartikel in Wiesbaden. Neben Objekten der Alltagskultur sammelt er seit den 1960er-Jahren künstlerische Arbeiten der Fluxus-Künstler. , ehemals Harlekin-Art. Er hat eine wahnsinnige Sammlung. Fluxus hat ja in Wiesbaden angefangen, mit Nam June Paik, Vostell und den Amerikanern: Benjamin Patterson und so weiter. „Fluxus – Internationale Festspiele Neuester Musik“, Städtisches Museum Wiesbaden, 01.–23. September 1962. An dem Festival beteiligt waren unter anderen Dick Higgins, George Maciunas, Nam June Paik und Wolf Vostell. Es gilt als erste offizielle Manifestation der Fluxus-Bewegung. Vgl. „1962 Wiesbaden Fluxus 1982. Eine kleine Geschichte von Fluxus in drei Teilen“, hg. von René Block, Ausst.-Kat. u. a. Museum Wiesbaden, Wiesbaden 1983. Und der Michael Berger hatte dieses Geschäft mit gifts and gadgets und hat damit sehr viel Geld verdient. Die Fluxus-Leute hat er immer besonders gesponsert. Bis vor nicht allzu langer Zeit. Jetzt hat er sich zur Ruhe gesetzt und macht seinen eigenen Kram.
Bazon Brock Bazon Brock (eigtl. Jürgen Johannes Hermann Brock; * 1936 Stolp, Pommern, heute Polen) ist ein Künstler, Kunsttheoretiker und Philosoph. Ab 1957 studierte er Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie an den Universitäten in Zürich, Hamburg und Frankfurt am Main. Parallel absolvierte er eine Dramaturgie-Ausbildung am Landestheater Darmstadt bei Claus Bremer und Gustav Rudolf Sellner. Ab 1959 nahm Brock regelmäßig an Fluxus-Aktionen teil, darunter am „Festival der Neuen Kunst“ 1964 in Aachen sowie am „24-Stunden-Happening“ 1965 in der Galerie Parnass in Wuppertal. 1968 initiierte Brock für die „documenta 4“ in Kassel die erste Besucherschule, die er bis 1992 begleitend zu den documenta-Ausstellungen fortführte. Als Professor lehrte Brock unter anderem an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1965–1976) und der Bergischen Universität Wuppertal (1981–2001). 2011 gründete Brock in Berlin-Kreuzberg die „Denkerei“ mit dem „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“. bezeichnet sich als Künstler ohne Werk. War er für dich eine interessante Figur?
Ja, interessant schon. Aber ich hatte wenig oder keine Beziehung zu ihm
Bazon Brock sagt, er hätte sich damals so etwas wie eine Band gewünscht. Vgl. Bazon Brock.
In einer Band gibt es eine bestimmte Harmonie und Verständigung. Im Kunstbetrieb ist jeder Künstler ein Egoist. Das hat ihn vielleicht gestört. Darum vielleicht eine Band oder eine Zusammenarbeit wie im Theater …
Obwohl es immer heißt, bis zu den 70er-Jahren habe es kaum Konkurrenz gegeben. Die Kunstszene wäre eine große Bewegung gewesen, egal ob man …
… dazugehörte oder nicht, aber die Bewegung war zeitgeistig. Es hatte schon etwas Kommunenhaftes, ohne dass man zusammen unter einem Dach lebte. Aber die Verständigung, die Beziehungen, die Sympathien, die bestanden!
Und ist das durch den Wettbewerb am Markt schwieriger geworden?
Ich schätze, der Markt hat sich in einer bestimmten Art und Weise positioniert. Und dann geht es natürlich um Image und um Geld. Und wenn es um Geld geht, gibt es auch Konkurrenz. Es gibt natürlich genug Geld, aber es fließt nicht jedem gleich zu. Der Markt hat sich unglaublich stark gemacht. Und heute ist der Markt so weit, dass dort auch entschieden wird, was gute Kunst ist und was keine gute Kunst ist.
Konntest du dich da komplett raushalten?
Zum größten Teil, ja.
Was in der damaligen Zeit relativ stark wirkte, war die Hinwendung zum Buddhismus. Du hast, glaube ich, auch John Cage getroffen? Wieso haben damals so viele diesen Weg gewählt?
Ich glaube, es gab ziemlich viele Künstler, die im Kunstmarkt bereits etabliert waren und sich trotzdem dem Buddhismus zugewandt haben. Es ist eine andere Befriedigung. Buddhismus ist eine geistige Philosophie. Er ernüchtert. Ich war nie Buddhist, habe mich aber lange damit befasst. Du kannst, wenn du dich zum Buddhismus wendest, bestimmte Werte einsetzen, die du anders nicht einsetzen kannst. Das kompensiert irgendwo. Der Kunstmarkt wird härter und härter. Das ist eine Tatsache. Aber es ist nicht die letztendliche Befriedigung. Da gibt es etwas anderes, was wichtig ist. Vielleicht Wichtigeres. Und dann wendet man sich zum Beispiel zum Buddhismus. Das wird auch nicht verschwiegen.
Du meinst, der Buddhismus war ein Gegenpol, der wichtig war, um sich weiter ernst zu nehmen?
Ja.
In der Vorbereitung für ihre Ausstellung im MoMA „Marina Abramović: The Artist Is Present“, The Museum of Modern Art, New York, 14. März – 31. Mai 2010. ist Marina Abramović auch in einem tibetischen Kloster gewesen. Wenn ich dann lese, dass ihr einen Streit führt, weil sie nicht erlaubt, dass du Fotos von euren gemeinsamen Performances in deinem Buch Maria Rus Bojan/Alessandro Cassin (Hg.), „Whispers. Ulay on Ulay“, Amsterdam 2014. abdruckst, frage ich mich ernsthaft: Worum geht es eigentlich noch?
Das frage ich mich auch. Worum geht es eigentlich?
Du hast 72 aus einem Museum in Groningen etwas entwendet …
Nein. Im Anatomischen Museum der Universität Groningen darf man keine Fotos machen. Studenten, die Anatomie oder Pathologie studieren, können Zeichnungen machen. Aber man darf nicht fotografieren. Und ich habe mich damals sehr mit Genetik beschäftigt. Anfang der 70er-Jahre. Es gab populärwissenschaftliche Bücher, die sich mit Genetik befassten, und da hieß es: „Das ist eine Zeitbombe. Wenn wir jetzt zulassen, dass DNA-Forscher, Mikrobiologen den Schlüssel des Lebens grundsätzlich manipulieren, geht es in die Hose.“ Ich wollte also im anatomisch-pathologischen Museum Fotos von Freaks, von missgeformten Menschen, machen. Kleinen Föten oder Embryos oder Babys. Ich habe nicht akzeptiert, dass man nicht fotografieren konnte, bin nachts dort eingebrochen und habe meine Fotos gemacht.
Es wurde aber nicht verfolgt?
Nein. Ich glaube, wir haben keine Spuren hinterlassen. Obwohl – als ich durch das Fenster in eines der Laboratorien stieg, habe ich mich auf irgendwelche Glasgefäße gestellt, und die sind zerbrochen. Aber das wurde nie verfolgt.
Siehst du irgendeinen Zusammenhang mit deiner späteren Spitzweg-Aktion?
Spitzweg war natürlich eine ganz andere Geschichte.
Siehst du die Aktion als Institutionskritik?
Auch, ja. Mit dem anatomisch-pathologischen Museum weniger, aber Spitzweg auf jeden Fall. Spitzweg war auf dem Holzweg.