Café Deutschland

Im Gespräch mit der ersten Kunstszene der BRD

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Timm Ulrichs

Timm Ulrichs

Timm  Ulrichs

Timm Ulrichs

Berlin, 22. November 2015

Franziska Leuthäußer: Bazon Brock Bazon Brock (eigtl. Jürgen Johannes Hermann Brock; * 1936 Stolp, Pommern, heute Polen) ist ein Künstler, Kunsttheoretiker und Philosoph. Ab 1957 studierte er Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie an den Universitäten in Zürich, Hamburg und Frankfurt am Main. Parallel absolvierte er eine Dramaturgie-Ausbildung am Landestheater Darmstadt bei Claus Bremer und Gustav Rudolf Sellner. Ab 1959 nahm Brock regelmäßig an Fluxus-Aktionen teil, darunter am „Festival der Neuen Kunst“ 1964 in Aachen sowie am „24-Stunden-Happening“ 1965 in der Galerie Parnass in Wuppertal. 1968 initiierte Brock auf der „documenta 4“ in Kassel die erste Besucherschule, die er bis 1992 begleitend zu den documenta-Ausstellungen fortführte. Als Professor lehrte Brock unter anderem an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (1965–1976) und der Bergischen Universität Wuppertal (1981–2001). 2011 gründete Brock in Berlin-Kreuzberg die „Denkerei“ mit dem „Amt für Arbeit an unlösbaren Problemen und Maßnahmen der hohen Hand“. war gestern auch zum Symposium des Deutschen Künstlerbunds „Preislos ist nicht wertlos – im Gegenteil! Über das Ethos der wahren Kunstsammler“, Vortrag von Bazon Brock, in: „Sammeln/Entsammeln. Kollektive Gedächtnisse – Künstlerische Strategien“, Symposium des Deutschen Künstlerbunds in Kooperation mit der Berlinischen Galerie, Berlinische Galerie, Berlin, 21. November 2015. in der Berlinischen Galerie?

Timm Ulrichs: Ja, er hat darüber gesprochen, dass das eigentlich Wertvolle dasjenige ist, was normalerweise nicht gesammelt wird. Das entspricht auch meiner Sicht der Dinge; deswegen auch habe ich so viele Sachen aufgehoben. Noch vorgestern habe ich ein Plakat von Bazon in der Hand gehabt, etwa von 1965: „Bitte um glückliche Bomben auf die deutsche Pissoirlandschaft“ Bazon Brock, „Krieg den Hütten – Friede den Palästen. Bitte um glückliche Bomben auf die deutsche Pissoirlandschaft“, Aktion und Plakat, Galerie Sydow, Frankfurt am Main und Berlin, 1963. , und ein anderes DIN-A4-Blatt, ein Manifest, auf dem er als „Denkmal zu ebener Erde“ steht, und auf dem Rücken eines Jungen ist ein Bild von ihm, darüber der Text: „Mein Gott, was ist los?“ Bazon Brock, „Mein Gott, was ist los? Bauphase II eines fortschreitenden Denkmals zu ebener Erde“, Aktion und Plakat, Frankfurt am Main (Bockenheim), 31. März 1964. . Das hat er damals in Frankfurt verteilt, und so etwas habe ich immer aufgehoben. Die Museen sammeln das ja nicht, niemand sammelt das. Auch in der Kunstbibliothek hier in Berlin nicht. Banausen sind das.

Die wollen das auch nicht haben?

Ich saß einmal dem Bibliothekschef gegenüber, und ich sagte: „Ich kann Ihnen alle Publikationen der Kunstakademie Münster von 1972 bis 2005 geben.“ – „Haben wir alles.“ Daraufhin ich: „Das glaube ich nicht. Ich habe ja bereits früher schon schlechte Erfahrungen mit Ihnen gemacht.“ Ich hatte mal ein Katalogpaket an die Kunstbibliothek gesandt, das man mir zurückgeschickt hat – nicht dieser Mann, sondern einer seiner Vorgänger. „Schicken Sie keine Kataloge, die wir nicht angefordert haben.“ So sind die! Wenn man als Künstler nicht bekannt genug ist … Die sammeln natürlich den hundertsten Gerhard-Richter- und Baselitz-Katalog, klar! Aber den ersten von mir und anderen Künstlern wollen sie nicht, weil sie die Namen nicht kennen. Das sind oft ziemlich desinteressierte Leute. Oder damals, als ich die Kunstakademie Münster 2005 verließ, hatte ich 120 Ausgaben der „Kunstzeitung“ in meinem Büro gestapelt, 16 komplette Sätze der Nummern 1 bis 120. Die Hausmeister haben am Monatsende ja immer alles Übriggebliebene weggeworfen. Mit einem Studenten habe ich in einer Nacht alle Zeitungen sortiert und dann versucht, sie in Deutschland – in Bibliotheken und Museen –unterzubringen, als Geschenk wohlgemerkt. Die Kunstbibliothek Berlin hat abgewunken: „Das Papier ist zu schlecht, das nehmen wir nicht.“ Sage ich: „Aber Ihr Chef, Peter-Klaus Schuster, hat doch selbst darin geschrieben und Interviews gegeben.“ – „Interessiert uns nicht. Außerdem ist das nur ein Reklameblatt.“ Darauf ich: „Aber nehmen Sie es als Basismaterial! Darin sind Daten, die man später mal braucht.“ Es half nichts. Alsdann rief ich den pensionierten ehemaligen Bibliotheksdirektor Bernd Evers an, und er hat mir geraten, ihm die Zeitungen nach Hause zu schicken. Ich habe sie ihm also in die Kastanienallee geschickt, und er hat sie durch den Dienstboteneingang in die Bibliothek eingeschleust. Ich bin alle 16 Sätze losgeworden, aber es war nicht leicht, ein harter Job. Mit Bernd Evers habe ich mich auch sonst gut verstanden, eine Ausnahmeerscheinung. Vielleicht sagt Ihnen der Name ja noch etwas? Er hat in Berlin eine der fantastischsten Ausstellungen gemacht, die ich je in meinem Leben gesehen habe: „Architekturmodelle der Renaissance“ „Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo“, Kunstbibliothek im Alten Museum, Berlin, 07. Oktober 1995 – 07. Januar 1996. ; die waren so riesig, dass man in ihnen herumlaufen konnte. Und bei der Gelegenheit hat die Forschung übrigens anhand einiger Pläne herausgefunden, dass einige Architekten von anderen abgekupfert haben. Man entdeckte Nadelstiche in den Zeichnungen – also hatten die Plagiatoren einfach Transparentpapier darübergelegt und die Grundrisse kopiert.

Was hat Bazon Brock gestern über Markus Lüpertz erzählt?

Das, was man über ihn sagen muss: Dass er ein Wichtigtuer und Angeber ist. Er ist ja nicht dumm, aber natürlich ein Kunstmarkt-Künstler. Bazon meinte aber auch, Lüpertz habe von 1965 bis 1973 einige brauchbare Bilder gemalt.

Das hat er auf dem Podium erzählt? In welchem Zusammenhang?

Thema von Brocks Vortrag war ja das Verhältnis beziehungsweise Missverhältnis von Preis zu Wert, und der Deutsche Künstlerbund hat vornehmlich Mitglieder, die auf dem Markt keine große Rolle spielen; da ist das Thema schon relevant. Den Deutschen Künstlerbund, dem ich seit mehr als 50 Jahren angehöre, gibt es übrigens schon seit 1903.

Kommen Sie mit Bazon Brock heute gut aus?

Haben Sie mein Interview in diesem Robert-Jelinek-Bändchen Robert Jelinek (Hg.), „Timm Ulrichs. Auf der Überholspur“, Wien 2014. gelesen? Da mokiere ich mich über seinen Auftritt damals in Aachen. Er redet ja selbst gern davon, ein Künstler ohne Werk zu sein! Damit kann man natürlich kokettieren und das für eine Qualität ausgeben. Er meint wohl, die Wirkung sei das Werk, und Wirkung – als Theoretiker – hat er ja zweifellos, aber er ist natürlich kein bedeutender bildender Künstler. Vor ein paar Jahren ist er mit einer Ausstellungstournee und Vorträgen durch deutsche Kunstinstitute gezogen. Die begleitende Ausstellung war weitestgehend bestückt mit Leihgaben anderer Künstler, die er schätzt – nicht von mir –, und dazwischen einige Sachen von ihm selbst: ein paar Poster und einige Schilder aus den 60er-Jahren und Fotos seiner Aktionen. Aber als ausstellbares Lebenswerk ist das ein bisschen dürftig.

Sie beide hatten gewissermaßen einen schlechten gemeinsamen Start. Ich glaube, das war in der Galerie Dorothea Loehr Dorothea Loehr (1913 Stettin, Pommern, heute Polen – 2006 Frankfurt am Main) war Fotografin und Galeristin. Im November 1959 übernahm sie eine Filiale des Unternehmens Bauhütte Möbel GmbH in Frankfurt am Main und nutzte die Räumlichkeiten parallel für erste Ausstellungen. Nachdem sie seit 1961 eigene Galerieräume im Frankfurter Westend betrieben hatte, bezog sie 1964 ein altes Bauerngehöft in Frankfurt-Niederursel und etablierte den Ort als Treffpunkt der jungen performativen Kunstszene. In ihrem Programm zeigte sie unter anderem Arbeiten von Bazon Brock, Jan Dibbets, Max Mohr, Franz Mon und Wolf Vostell. . War das Ihre erste Begegnung?

Darüber müsste ich nachdenken. Ich möchte zunächst noch kurz nachholen, wie der gestrige Vortrag hieß: „Preislos ist nicht wertlos – im Gegenteil. Über das Ethos der wahren Kunstsammler“, Professor Bazon Brock, Denker im Dienst. Sie wissen ja, Bazon ist eine Abkürzung oder Verballhornung des Worts „Schwätzer“. Eigentlich heißt er Jürgen, Jürgen Brock. Geboren in Stolp, Pommern. Aufgewachsen ist er in Itzehoe. Dort war er, glaube ich, Mitarbeiter der Schülerzeitung „Ceterum Censeo“ zusammen mit dem späteren Maler Rolf-Gunter Dienst. In Frankfurt am Main hat er Philosophie, Germanistik und Politikwissenschaften studiert. Ja, es muss in Alt-Niederursel eines unserer ersten Treffen gewesen sein – Treffen ist eigentlich falsch gesagt: Es war eher ein Zusammentreffen, ein Aufeinandertreffen – ich war ja nicht mit ihm, sondern mit Frau Loehr verabredet. Zudem hatte ich dort weniger mit Bazon Brock zu tun, sondern eher mit Wolf Vostell Wolf Vostell (1932 Leverkusen – 1998 Berlin) war ein Künstler, der vor allem mit seinen Installationen und Happenings bekannt wurde. Ab 1953 absolvierte er zunächst eine Lehre als Fotolithograf in Wuppertal, wo er 1954 sein erstes Happening „Skelett“ veranstaltete, bevor er 1955 ein Studium der freien Kunst an der École nationale supérieure des beaux-arts in Paris begann. 1961 zeigte die Galerie Lauhus in Köln Vostells erste Einzelausstellung in Deutschland, 1963 folgte in der Smolin Gallery in New York die erste Einzelausstellung in den USA und 1964 war er erstmals mit einer Aktion in der neu gegründeten Galerie René Block in Berlin vertreten. .

Sie waren ziemlich oft in Frankfurt, oder?

Ich bin gebürtiger Berliner. Damals aber hatte ich die Absicht, nach Frankfurt zu ziehen, wo auch eine Freundin von mir wohnte. In Frankfurt war viel los; Frankfurt war das intellektuelle Zentrum Deutschlands, mit Adorno, Horkheimer und der ganzen linken Szene, etwa dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), in dem der Auch-Hannoveraner und Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl Hans-Jürgen Krahl (1943 Sarstedt – 1970 bei Wrexen) studierte ab 1963 Philosophie, Germanistik, Geschichte und Mathematik in Göttingen und begann 1965 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main bei Theodor W. Adorno seine Dissertation mit dem Thema „Naturgesetze der kapitalistischen Entwicklung bei Marx“. 1964 trat Krahl in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ein und gehörte ab 1967 zu den führenden Köpfen des Frankfurter SDS. Im Januar 1969 wurde unter seiner Leitung das Institut für Sozialforschung kurzfristig besetzt und auf Anordnung Adornos polizeilich geräumt. Im Oktober desselben Jahrs begann ein Prozess gegen Krahl wegen Landfriedensbruch. Er wurde zu neun Monaten Gefängnis verurteilt, seinem Revisionsantrag wurde stattgegeben. Er starb am 14. Februar 1970 bei einem Autounfall in der Nähe von Marburg. eine große Nummer war. Als ich mein Studium abgebrochen hatte, stand ich vor der Frage: Was mache ich jetzt? Bleibe ich in Hannover oder schaffe ich den Absprung? In Frankfurt war ich häufig im Club Voltaire – da hingen alle interessanten Leute herum und ich als Sympathisant dazwischen. Im Frankfurter Kunstverein war zu der Zeit Georg Bussmann Direktor, auch so ein unangepasster linker Kopf.

Nochmals kurz zurück zu Brocks gestriger Marktanalyse. Er sagte: „Den 4 Prozent der Marktkünstler stehen 96 Prozent gegenüber, die nichts verdienen.“ Ich behaupte, es sind sogar 98 Prozent, die zwar ihre Arbeit machen – und auch gute Arbeit machen –, aber nicht auf dem Markt vertreten sind. In der neusten Ausgabe der Zeitschrift „Bilanz“ steht, dass der Besitz Gerhard Richters innerhalb von 3 Jahren von 450 Millionen auf 500 Millionen Euro gestiegen ist. In 3 Jahren hat er 50 Millionen dazuverdient!

Ihre Nähe zu Frankfurt kam also durch die Frankfurter Schule?

Und durch die Verlage. Ich hatte meinen Selbstverlag, und zweimal war ich mit einem eigenen Stand auf der Buchmesse vertreten. Das konnte man sich damals noch leisten. Außerdem gab es Adam Seide Adam Seide (eigtl. Wilhelm Seide; 1929 Hannover – 2004 Limburg an der Lahn) war ein deutscher Galerist, Schriftsteller und Kunstkritiker. Ab 1958 betrieb er die Galerie Seide im alten Rathaus in Hannover-Linden. Nach seinem Umzug nach Frankfurt am Main 1962 führte er dort im Röderbergweg 64 im 2. Stock des ehemaligen Gumpertz’schen Siechenhauses einen Salon. Das Programm umfasste unter anderem Ausstellungen mit Werken von Thomas Bayrle, Otto Muehl, Peter Roehr und Gerhard Wittner. , der mit seiner Zeitschrift „Der Egoist“ – später „Der neue Egoist“ – von Hannover nach Frankfurt gezogen war. Bei ihm habe ich mehrere Male publiziert und bin zudem bei ihm am Röderbergweg aufgetreten. Auch in der sehr avancierten Frankfurter Studentenzeitung „Diskus“ unter Karl Riha konnte ich mehrfach veröffentlichen. Irgendwo, irgendwann habe ich auch Dorothea Loehr kennengelernt. Und ich habe bei der Galerie dato, damals Galerie d, in der Hoffnung auf eine Zusammenarbeit vorgesprochen, aber letztlich nichts erreicht.

Wie lief so etwas ab? Haben Sie einen Termin mit Rochus Kowallek Rochus Kowallek (* 1926 Berlin) betrieb in Frankfurt am Main von 1961 bis 1962 die Galerie dato, im Anschluss bis 1964 die Galerie d. Als künstlerischer Direktor leitete er ab 1967 die neu eröffnete Galerie Ursula Lichter. Nach dem Austritt von Ursula Lichter 1972 führte Kowallek die Galerie bis zu ihrer Schließung 1973 eigenständig weiter. gemacht, oder mit wem haben Sie in der Galerie Kontakt aufgenommen?

Kowallek habe ich zwar persönlich kennengelernt, aber aus den Gesprächen resultierte nichts. Als Einzelkämpfer, der ich war, hatte ich vom Kunstmarkt, den es in der heutigen Form ohnehin noch gar nicht gab, wenig Ahnung, und in aller Naivität glaubte ich, mich in der Galerie, die damals in der Nähe des Doms gelegen war, unangemeldet vorstellen zu können.

Hatten Sie irgendetwas dabei?

Ja, ich hatte meine eigenen Zeitschriften und Flugblätter dabei, die bemerkenswerterweise heute zum Teil hoch gehandelt werden. (Am letzten Sonnabend sind zwei Ausgaben für 170 Euro verauktioniert worden. Das scheint kein hoher Preis zu sein, aber immerhin – für etwas Hektografiertes, mit dem Spiritusumdrucker Hergestelltes …) Damals habe ich solche Papiere immer gratis verteilt. Oder ich habe in Telefonbüchern nach Galerieadressen und Namen wie Max Bense Max Bense (1910 Straßburg – 1990 Stuttgart) war ein Philosoph, Dichter und Naturwissenschaftler, der über Philosophie und Ästhetik der modernen technischen Existenz forschte und gemeinsam mit seiner Ehefrau, der Philosophin Elisabeth Walther-Bense (1922 Oberweissbach – 2018 Stuttgart) als wichtiger Vertreter der Semiotik und Mitbegründer der Informationsästhetik in der Bundesrepublik Deutschland gilt. Bense war unter anderem von 1949 bis 1978 Professor für Philosophie und Technik an der Universität Stuttgart, Walther-Bense war dort von 1969 bis 1983 Professorin für Philosophie. Von 1960 bis 1990 gab das Ehepaar die Reihe „rot“ zu Konkreter Kunst, Poesie und Ästhetik heraus. Darin veröffentlichten unter anderen Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Dieter Roth und Timm Ulrichs. Das Ehepaar Bense war 1975 Mitbegründer der internationalen Zeitschrift „Semiosis“. Ihr Umfeld, in dem insbesondere visuelle und Konkrete Poesie entstand, wird als „Stuttgarter Schule/Gruppe“ bezeichnet. Dazu gehören unter anderen Reinhard Döhl, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl und Franz Mon. , Heißenbüttel und so weiter geschaut und denen meine Sachen geschickt, in der Hoffnung, eine positive Antwort zu erhalten. Auf diese Weise habe ich mir die ersten Kontakte verschafft. Auch bin ich viel als Vertreter in eigener Sache herumgereist, zumeist per Anhalter, da ich kein Geld hatte. Studiert hatte ich von 1959 bis 1966, und nach Abbruch meines Studiums war ich Eisverkäufer, Tellerwäscher, technischer Zeichner und anderes, immer schlecht bezahlt. Der erste gute Kontakt ergab sich schließlich zur Galerie Patio Die Galerie Patio wurde im März 1963 in Neu-Isenburg bei Frankfurt am Main eröffnet. Mitbegründer waren Horst Baerenz, Mario Barahona, Walter Kroe, Dieter Wetzk und Walter Zimbrich. In der Galerie waren unter anderem Werke von folgenden Künstlern ausgestellt: Thomas Bayrle, Stanley Brouwn, Winfred Gaul, Jörg Immendorff und Timm Ulrichs. , in der auch Bazon Brock aufgetreten ist. Diese Galerie galt damals als die interessanteste Station in Frankfurt, eine der ersten für die 60er-Jahre typischen Produzentengalerien. Hauptakteur der Galerie war Walter Zimbrich, der mich 1965 angeschrieben hat, nachdem mir in Berlin meine Selbstausstellung verboten worden war. Timm Ulrichs, „Ausstellung des Herrn Ulrichs (automobile Plastik), 178 cm: erstes lebendes Kunstwerk“, 1961. Nach Angaben Ulrichs’ wurde die Arbeit erstmals 1961 in seiner „Zimmer-Galerie“ in Hannover gezeigt. Die Aktion war 1966 vom 01. bis 05. Juni in der Galerie Patio in der Laubestraße in Frankfurt am Main zu sehen.

Das heißt, das ist damals durch die Presse gegangen?

Ja, das Presseecho war enorm, sowohl auf das Berliner Verbot als auch auf die Frankfurter Veranstaltung.

Die Galerie Patio hat Sie also gefragt, ob Sie bei denen ausstellen möchten?

Ja. Frankfurt kam ins Spiel, nachdem mir die Berliner Hängekommission einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Sie bestand aus drei Mitgliedern: Eberhard Roters, dem nachmaligen Gründungsdirektor der Berlinischen Galerie, Heinz Ohff vom „Tagesspiegel“, damals der wichtigste Kritiker in Berlin, und Thomas Kempas vom Haus am Waldsee. Ich hatte mir die „Juryfreie Kunstausstellung Berlin 1965“ ausgeguckt, weil ich in Hannover keine Möglichkeit sah, diese Selbstausstellung zu realisieren.

Warum nicht?

Bei wem hätte ich es denn machen sollen? In Hannover gab es nur die Galerie von Adam Seide, und der hatte ZERO und monochrome Malerei im Programm. Für meine Ideen war er nicht zu gewinnen, dafür hat er sich erst später interessiert und in Frankfurt schließlich auch meine Manifeste publiziert. Für Hannover war meine Arbeit zu starker Tobak. Selbst meine Freunde und Kommilitonen haben damals gesagt: „Du als Kunstwerk? Schau doch mal in den Spiegel! Wie du schon aussiehst! Und überhaupt, das ist doch Blödsinn.“

Die Idee entstand 1961?

Ja, da habe ich meine Visitenkarte drucken lassen: „Timm Ulrichs. Erstes lebendes Kunstwerk“. Aber mit einer Visitenkarte allein kommt man nicht weit. Es bedarf einer Instanz, die das gewissermaßen nobilitiert – und dafür hatte ich mir die „Juryfreie Kunstausstellung Berlin“ vorgemerkt. Berlin war ja immer in meinem Fokus. Meine Großmutter mütterlicherseits wohnte noch in Ost-Berlin, und meine Mutter hat bis zu ihrem Lebensende davon geträumt, nach Berlin zurückzukehren. Sie hat hier in Berlin geheiratet, ursprünglich kam sie aus Guben.

Wo war sie zwischendurch?

In Bremen. Wir sind evakuiert worden; ab 1943 oder 1944 lebten wir in Prenzlau, bis die Russen kamen. Da musste man sich entscheiden: Will man den Russen in die Hände fallen oder in die amerikanische Zone fliehen? Die meisten haben sich natürlich für den Westen entschieden. Viele Frauen, die geblieben sind, haben das bitter bereuen müssen. Meine Mutter und wir vier Kinder haben es bis ins Oldenburger Land geschafft, in die Nähe von Wildeshausen. Dort, bei Dötlingen, haben wir das Kriegsende miterlebt. 1954 sind wir weiter nach Bremen gezogen, und 1959 nach dem Abitur habe ich mich in Berlin und Hannover um ein Architekturstudium beworben. So bin ich in Hannover gelandet.

In Berlin hatten Sie sich für ein Kunststudium beworben?

Nein, auch für Architektur. Ein Kunststudium hätte ich meinen Eltern gar nicht zumuten können – das wäre auch mir selbst zu gewagt gewesen, hatte ich doch überhaupt keine praktischen Erfahrungen mit Kunst. Was konnte man denn als Jugendlicher, der in den 50er-Jahren aufwuchs, in seiner Freizeit machen? Ich hätte Sport treiben können, das heißt auf der Straße Fußball spielen – was wir auch gemacht haben. Aber ich bin nie sportlich gewesen. Ehrgeizig war ich zwar, aber ich hatte kein Bedürfnis, schneller zu laufen oder weiter zu springen als andere. Wie ehrgeizig ich in anderen Situationen war, können Sie an folgender Geschichte ermessen: Meinen jüngeren Bruder, der mit mir in der Schule war, habe ich einmal mitleidslos verpfiffen: „Herr Lehrer, kommen Sie mal her. Mein Bruder will von mir abschreiben. Setzen Sie ihn woandershin.“ So war ich drauf! Zum Glück hat mir mein lässiger, großzügiger Bruder diesen Vorfall nicht nachgetragen. Ich wollte immer Klassenbester sein, zugleich auch Klassenclown. Sport also mochte ich nicht und machte ich nicht. Tanzlokale und Diskotheken gab es noch nicht. Außerdem konnte ich nicht gut tanzen, denn Tanzen bedeutete in den 50er-Jahren Gesellschaftstanz, also Walzer, Foxtrott und so weiter. Daher war es eine wirkliche Befreiung, als die ersten Rock-’n’-Roll-Platten und -Filme herauskamen. Eigenbrötlerisch wie ich war, habe ich fast täglich in der Volksbücherei und in der Staatsbibliothek gehockt. In dieser Zeit, ab Mitte der 50er-Jahre, habe ich die ersten Dada-Anthologien, die in der Schweiz erschienen, in die Hände bekommen und festgestellt: „Das sind ja tolle Kerle. So einer will ich auch werden.“ Das war die Initialzündung, mein Erweckungserlebnis.

Wie alt waren Sie damals?

17, 18 Jahre alt. Kurz vor meinem 19. Geburtstag habe ich das Abitur gemacht. In den Jahren 1954 bis 1959 habe ich extrem viel gelesen und die Welt der Kunst und Literatur für mich entdeckt. Da es aber in den letzten Schuljahren nur noch Kunstbetrachtung und keinen praktischen Kunstunterricht mehr gab, hatte ich mein vermeintliches oder tatsächliches Talent noch gar nicht überprüft. Und dann meine armen Eltern in dem kärglichen Haushalt, in dem wir aufgewachsen sind … Meine Mutter war Stenotypistin, und mein Vater, ausgebildet als technischer Zeichner, arbeitete nach dem Krieg eine Zeit lang als Dolmetscher für die amerikanischen Besatzer (er war in Südafrika geboren und hatte eine englische Großmutter); später hat er versucht, Lexika von Tür zu Tür zu verkaufen. Die Lage war sehr, sehr schwierig. Es wäre, wie gesagt, eine Zumutung für meine Eltern gewesen, ihnen ein Kunststudium aufzubürden, wo es doch erst mal darum ging, durch einen Brotberuf den Lebensunterhalt irgendwie zu sichern. Daher dachte ich mir, Architektur sei eine gute Wahl: Sie hat einerseits mit Kunst zu tun und wird andererseits durch Technik diszipliniert. Außerdem kann man in einem Büro arbeiten und erhält ein festes Gehalt. In Hannover – leider nicht in Berlin – bin ich für ein Architekturstudium zugelassen worden und letztendlich dort hängen geblieben. Kurzausflüge nach Frankfurt oder später nach Köln und Düsseldorf haben sich bedauerlicherweise nie zu veritablen Umzügen ausgeweitet, zumal ich mich durch freundschaftliche Bindungen und das ganze Zeug, das sich im Lauf der Zeit bei mir angesammelt hat, förmlich selbst eingemauert habe.

Lag das tatsächlich primär an Ihrer „Sammlung“? Berlin, Köln, Düsseldorf oder Paris waren doch damals sicher sehr viel reizvoller als Hannover?

Ich kannte in diesen Städten in meinen frühen Künstlerjahren niemanden, und ich war völlig mittellos. Nur nach Berlin – mein und meiner Mutter Sehnsuchtsort – konnte ich Verbindungen knüpfen und aufrechterhalten. Zum Beispiel ergab sich 1964 die Möglichkeit, beim „Ersten Internationalen Gag-Festival“ im Haus am Lützowplatz mitzuwirken. Das hat Konrad „Jule“ Hammer organisiert, den man heute wohl nicht mehr kennt, aber damals war er als Impresario und SPD-Mann überaus bekannt und im Haus am Lützowplatz der uneingeschränkte Chef. Es gab dort zwei, drei Ausstellungsetagen und unterm Dach ein Restaurant, wo ich mit Wolf Biermann, Tomi Ungerer, Daniel Spoerri und Wolfgang Neuss diskutieren konnte. Letzterer verbreitete im Kellerlokal sein „Jüngstes Gerücht“.

Beim „Gag-Festival“ 1964 habe ich – nach eigener Bewerbung und Übernahme aller Kosten, was mir extrem schwerfiel – Kanaldeckel ausgestellt: 40 große, gusseiserne Deckel, die wie historische Schilde an den Wänden hingen. Von zehn besonders eindrucksvollen Beispielen habe ich später eine Siebdruckmappe herausgegeben, die Gerhard Steidl persönlich gedruckt hat. Auch mit Christian Chruxin (situationen 60 galerie) und Ben Wa(r)gin und seiner Galerie S in der Joseph-Haydn-Straße und später im Europa-Center hatte ich zu tun und mit Hanspeter Heidrich von der Galerie Daedalus in der Ludwigkirchstraße, der eher konstruktive Tendenzen verfolgte; dort hatte ich 1968 eine Einzelausstellung. „Timm Ulrichs. Malvorlagen ‚Farbkasten‘“, Galerie Daedalus, Berlin, 08.–18. August 1968. Wie man sieht, ich habe mich in Berlin oft herumgetrieben, obwohl die Stadt eigentlich eine Realisten-Hochburg war: Galerie Poll Die Galerie Poll wurde im Oktober 1968 von Eva (* 1938 Aachen) und Lothar C. Poll (* 1937 Berlin) mit einer Ausstellung zu Werken von Peter Sorge in West-Berlin eröffnet. Bis heute umfasst das Programm der Galerie vor allem Vertreter der realistischen und figurativen Kunst. , Großgörschen Unter dem Namen „Großgörschen 35“ schlossen sich 1964 in Berlin-Schöneberg 14 Maler zu einer Ausstellungsgemeinschaft zusammen, darunter K.H. Hödicke, Markus Lüpertz, Arnulf Spengler und Lambert Maria Wintersberger. In einer leer stehenden Fabriketage in der Großgörschenstraße 35 mieteten sie einen Ausstellungsraum, den sie gemeinsam finanzierten, um dort nach- oder miteinander ihre Arbeiten zu präsentieren. Mit wechselnden Mitgliedern bestand Großgörschen 35, ab 1966 mit Unterstützung von Eva und Lothar C. Poll, bis 1968.  … Bei René Block René Block (* 1942 Velbert) eröffnete Anfang 1964 in Berlin das Grafische Cabinet René Block, aus dem noch im gleichen Jahr die Galerie René Block hervorging. Zwischen 1974 und 1977 betrieb er eine Dependance im New Yorker Stadtteil SoHo. Bis zur Schließung seiner Galerie 1979 zeigte Block in seinem Programm unter anderem Ausstellungen und Aktionen von Joseph Beuys, Bazon Brock, Stanley Brouwn, Sigmar Polke, Gerhard Richter und Wolf Vostell. In den Folgejahren organisierte Block als Kurator zahlreiche Ausstellungen für die daadgalerie in Berlin sowie für das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) in Stuttgart, bevor er 1997 die Direktion des Fridericianums in Kassel übernahm. Seit 2008 führt Block die auf Editionen spezialisierte Galerie Edition Block in Berlin. habe ich auch vorgesprochen, aber er hat mich abgewiesen: „Vostell will das nicht.“ Wolf Vostell war ein ziemliches Ekel. Man mag zu seiner Kunst stehen, wie man will, aber ich glaube nicht, dass es viele gibt, die ihn ausstehen konnten. Er hat sich eine richtig imperiale Gestalt angefressen, war dick, aufgeschwemmt und hat sich jüdisch anmutende Schläfenlöckchen wachsen lassen. Typisch ist, dass Vostell meinte, die Ausstellung „Happening und Fluxus“ „Happening und Fluxus. Materialien“, Kölnischer Kunstverein, Köln, 06. November 1970 – 06. Januar 1971. im Kölnischen Kunstverein könne, ja müsse, eine, nämlich seine Einzelausstellung sein. Er wähnte sich für den alleinigen Wortführer und Gesetzgeber des Happenings. Neben oder über ihm durfte es keinen anderen geben. „Ich bin der Herr, dein Gott …“ So ungefähr, mit diesem Gestus, ist er aufgetreten. Daher konnte ich bei René Block nicht landen.

Warum hat René Block sich davon so beeindrucken lassen?

Weil er seine Künstler natürlich brauchte wie sie ihn. Und da Vostell eher da war als ich und schon seinen Fuß in der Tür hatte, war die Situation klar. Block war ja zunächst auch nur eine kleine Leuchte, ein Anfänger wie wir alle, mit einem kleinen Ausstellungsraum. Mittlerweile hat er viele Biennalen gemacht, und die Künstler, auf die er mit gutem Riecher gesetzt hat, sind alle groß geworden.

Gab es mit Ihnen und Vostell eine Vorgeschichte? Er wollte Sie angeblich damals in der Galerie von Dorothea Loehr auch nicht dabeihaben?

Es gab in den 60er-Jahren die aktuelle Kunst betreffend zwei Kunstzeitschriften, die in Deutschland gelesen wurden. Das waren „Das Kunstwerk“ „Das Kunstwerk. Zeitschrift für bildende Kunst“, 1946 durch den Verleger Woldemar Klein im Agis-Verlag, Baden-Baden, gegründet, war ein deutsches Magazin für moderne Kunst. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählte es in Westdeutschland zu den wichtigsten Informationsmedien über die internationalen Entwicklungen der zeitgenössischen Kunst. Die letzte Ausgabe der Zeitschrift erschien im Frühjahr 1991. und das „Magazin Kunst“ Verleger und Herausgeber des „Magazin Kunst. Das deutsche Kunstmagazin“ war von 1964 bis in die 80er-Jahre Hans Alexander Baier, der 1961 eine Galerie für moderne Kunst in Mainz eröffnete. Die Kunstzeitschrift erschien viermal im Jahr. . Hans Alexander Baier besaß in Mainz eine Galerie, eine Grafikedition und diese Zeitschrift, das „Magazin Kunst“. Das Blatt hat er vornehmlich durch Grafikauflagen finanziert. Nach dem Skandal mit der „Juryfreien Kunstausstellung Berlin 1965“, schrieb Baier einen langen Artikel darüber. Als Gegenleistung musste ich ihm zwei Entwürfe für Siebdrucke abliefern, diese alsdann signieren – zweimal hundert Blätter –, und dann konnte er sie im Abonnement verkaufen. Allerdings habe ich die vereinbarten Belegexemplare nie erhalten, die musste ich mir später selbst über den Kunsthandel besorgen. Im Grunde war es Ausbeutung, wie so oft im Kunstbetrieb. Aber immerhin hatte ich einen großen Artikel, betitelt „Keine Experimente“ Hans Alexander Baier, „Keine Experimente“, in: „Magazin Kunst. Das deutsche Kunstmagazin“, Mainz, Nr.8–9, 1965, S. 154–157. Im Wahlkampf zur Bundestagswahl 1957 warb die CDU mit dem Motto „Keine Experimente!“ erfolgreich für eine dritte Amtszeit von Konrad Adenauer. . Das war damals eine Formel der CDU, typisch 50er-Jahre. Keine Experimente, es soll alles so bleiben, wie es ist, so wie Angela Merkel mit „alternativlos“ auch meint, es müsse alles so bleiben, wie es ist; es wird so gemacht, wie wir es immer gemacht haben. Unter diesem Slogan also hat Hans Alexander Baier ausführlich über die „Juryfreie Kunstausstellung“ berichtet, und das hat man in der damals noch kleinen, überschaubaren Kunstszene zur Kenntnis nehmen können und müssen. Und natürlich wird auch Vostell das gelesen haben, über den vorher oder nachher auch gesondert berichtet wurde. Dies zur Konkurrenzsituation mit Vostell.

Doch zurück zur Galerie Dorothea Loehr. Die Galeristin hatte mich eines Tages angesprochen, ob ich nicht bei ihrem „Bloomsday“ In Anlehnung an den irischen Bloomsday, der nach dem Protagonisten Leopold Bloom in dem Roman „Ulysses“ (1922) von James Joyce benannt ist, verteilten Bazon Brock, Thomas Bayrle und Bernhard Jäger am 16. Juni 1963 die „Bloom-Zeitung“ in der Frankfurter Innenstadt. Darin wurden alle vorkommenden Namen in der „Bild“-Zeitung durch das Wort „Bloom“ ersetzt. Es folgten weitere Aktionen zum Bloomsday, darunter „bloomsday 64. ACTIONS / AGIT POP / DÉ-COLL / AGE HAPPENING / TEXTE / STANLEY BROUWN / BAZON BROCK / FRANZ MON / TOMAS SCHMIT / WOLF VOSTELL“, Galerie Dorothea Loehr, Frankfurt am Main, 26. Juni 1964. mitmachen wolle. Sie kennen den Bloomsday: James Joyce, 16. Juni und so weiter? Den hatte sie, glaube ich, ein, zwei Jahre zuvor schon einmal gefeiert. „Kommen Sie nach Alt-Niederursel, dann reden wir darüber.“ Ich kam dorthin – sie lebte in einem umgebauten Bauernhaus –, aber das Tor war verschlossen. Also bin ich drübergeklettert, und es begrüßte mich Vostell: „Wir brauchen dich nicht. Geh zurück in deine Provinz.“ Er hat halt den großen Mann gespielt. Meine Manifeste habe ich aber dagelassen.

Und Dorothea Loehr war gar nicht da?

Doch, sie war da. Sie war ja die Veranstalterin, das Programm haben aber die anderen gemacht. Ziemlich niedergeschlagen bin ich wieder abgereist. Ein paar Wochen später fand das Festival in Aachen „Festival der Neuen Kunst“, 20. Juli 1964, Audimax der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, mit Joseph Beuys, Bazon Brock, Arthur Køpcke, Nam June Paik, Wolf Vostell, Franz Erhard Walther und anderen. Nach „tumultuarischen Szenen“ des Publikums, die im Faustangriff eines Studenten auf Beuys kulminierten, wurde das Festival vorzeitig abgebrochen. Vgl. Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas, „Joseph Beuys. Leben und Werk“, Köln 1986 (3. Auflage), S.125–134. Siehe auch: Heiner Stachelhaus, „Joseph Beuys“, Düsseldorf 1988, S.165–168. statt, und ich bin zusammen mit meinem Freund Heinrich Riebesehl hingefahren. Riebesehl, damals noch Fotograf bei der „Hannoverschen Presse“, hatte sich in den Kopf gesetzt, sich einen Namen als Happening-Fotograf zu machen, und Aachen war eine seiner ersten Gelegenheiten dazu. Am Eingang des Audimax der Technischen Hochschule verteilte ich vor Beginn der Veranstaltung meine Manifeste: „Totalkunst: das neue Maß aller Dinge“, „Das offene Geheimnis der Kunst“ und „Was ist Kunst? Eine endgültige Stellungnahme“ – was man eben im jugendlichen Manifestationsrausch so alles an kühnen Parolen in die Welt setzt. Wer heute noch Manifeste verteilt, setzt sich leicht der Lächerlichkeit aus, aber in den frühen 60er-Jahren oder in Dada-Zeiten war das eine gängige Kunstpraxis. Außerdem hatte ich noch Hühnereier dabei, als Kunstwerke oder Wurfgeschosse. Da erschien plötzlich Bazon Brock und hat all meine Manifeste zerrissen und zertreten. Also da habe ich mir gesagt: „Du Schwein, das zahle ich dir heim.“ Und als er seine Texte im Kopfstand vortrug, bin ich auf die Bühne geschlendert – das Publikum konnte annehmen, ich gehöre zu den Akteuren – und habe ihn leicht angestoßen. Daraufhin ist er umgefallen. Haben Sie Bazon mal erlebt? Er ist nicht nur sehr eloquent, sondern auch extrem eitel. Dass jemand es wagen konnte, ihn so aus dem Konzept zu bringen, hat ihn sehr erschüttert. Er ist hinter die Bühne gerannt, hat sich vier Ordner geholt und mich aus dem Saal schleifen lassen. Nach meinem Vorbild haben dann auch andere Studenten die Gelegenheit ergriffen und die Bühne gestürmt. Das habe ich aber nicht mehr miterlebt, auch nicht, als Heinrich Riebesehl das berühmte Foto von Beuys mit Kruzifix und der blutenden Nase gelang. Nach Abbruch der Veranstaltung wurde noch heftig weiterdiskutiert beim Veranstalter Valdis Āboliņš Valdis Āboliņš (1939 Liepāja, Lettland – 1984 West-Berlin) war in den 1960er-Jahren Architekturstudent an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, wo er als Kulturreferent des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA) unter anderem das „Festival der Neuen Kunst“ im Audimax der Hochschule (20. Juli 1964) und einen Auftritt des „Living Theatre“ mitorganisierte. Von 1965 bis 1967 betrieb Āboliņš mit einer Gruppe Studierender die Galerie Aachen, die auf Fluxus- und Aktionskunst spezialisiert war und Werke von Künstlern wie Dick Higgins, Alison Knowles und Nam June Paik ausstellte. , bei dem ich übernachten konnte und der durchaus Verständnis für meinen Protest zeigte. Beuys konnte über Riebesehls ikonisches Bild froh sein, denn am Abend selbst war er nur einer unter vielen Fluxus-Künstlern. Bald darauf wurde ich beim Amtsgericht Hannover als vermeintlicher Rädelsführer des Tumults verhört. Das Verfahren gegen mich wurde aber eingestellt.

Den Namen Beuys würde ich im Übrigen auch sonst nicht so hoch hängen. Sie wissen, dass er 1962 in Wiesbaden beim ersten großen Fluxus-Festival „Fluxus. Internationale Festspiele Neuester Musik“, Städtisches Museum Wiesbaden, 01.–23. September 1962. An dem Festival beteiligt waren unter anderen Dick Higgins, George Maciunas, Nam June Paik und Wolf Vostell. Es gilt als erste offizielle Manifestation der Fluxus-Bewegung. Vgl. „1962 Wiesbaden Fluxus 1982. Eine kleine Geschichte von Fluxus in drei Teilen“, hg. von René Block, Ausst.-Kat. u. a. Museum Wiesbaden, Wiesbaden 1983. gar nicht dabei war. Beuys hat sich über die erste Veranstaltung in Düsseldorf „Festum Fluxorum. Fluxus. Musik und Antimusik. Das Instrumentale Theater“, Staatliche Kunstakademie Düsseldorf, 02./03. Februar 1963. An dem Festival beteiligt waren unter anderen Joseph Beuys, John Cage, Robert Filliou, George Maciunas, Yoko Ono, Nam June Paik, Benjamin Patterson, Daniel Spoerri, Tomas Schmit, Wolf Vostell, Jean-Pierre Wilhelm und Emmett Williams. mehr oder weniger in diese Fluxus-Genealogie hineingemogelt.

Das war doch bei den Fluxus-Veranstaltungen ganz normal, dass nicht immer alle überall teilnahmen, oder?

Beuys war auch in Düsseldorf als Akteur gar nicht vorgesehen. Er hat eine Pause genutzt, sich ungebeten ins Spiel zu drängen.

In Düsseldorf hat er die Veranstaltung doch mitorganisiert?

Nein, das stimmt so nicht ganz. Er war nur beauftragt, an Ort und Stelle die Logistik in die Hand zu nehmen; schließlich war er ja an der Akademie tätig. Aber die Idee, die Anregung, das Programm kamen nicht von ihm.

Sondern?

Meinetwegen von George Maciunas George Maciunas (1931 Kaunas, Litauen – 1978 Boston) war ein Künstler und Kunsttheoretiker, der zu den zentralen Akteuren der Fluxus-Bewegung zählt. Gemeinsam mit Almus Salcius rief er 1960 die AG-Gallery in New York ins Leben, in der er neben Ausstellungen auch Konzerte und Performances veranstaltete. In Wiesbaden initiierte Maciunas 1962 die Konzertreihe „Fluxus. Internationale Festspiele Neuester Musik“, die als Ausgangspunkt der europäischen Fluxus-Bewegung gilt. oder von wem auch immer. Auch zu meiner frühen Zeit, 1964, war Beuys noch eine ziemlich kleine Nummer. Er hatte erst Ende 1965 seine erste Einzelausstellung bei Schmela. „…irgendein Strang…“, Galerie Schmela, Düsseldorf, 27. November – 31. Dezember 1965.

Ob klein oder groß – darum geht es doch nicht.

Sie müssen bedenken, dass Beuys noch in den 50er- und frühen 60er-Jahren Kruzifixe modelliert hat, unerträglichen Kitsch, sentimentales christliches Kunstgewerbe. Genau genommen war Beuys im Hinblick auf Fluxus ein typischer Trittbrettfahrer. Auch wenn Vostell einiges von Rauschenberg sowie von den französischen und italienischen Affichisten übernommen hat, etwa die Plakatabrisse, war er doch Jahre vor Beuys in der Szene.

Haben Sie es eigentlich bei dem Festival in Aachen als Ihre Aufgabe gesehen, etwas zu korrigieren, indem Sie die Veranstaltung stören, oder war das eine persönliche Reaktion auf Bazon Brock?

Ich hatte gar nicht die Absicht zu stören. Ich bin vielmehr aus purem Interesse hingefahren und vielleicht auch, um für mich Werbung zu machen, indem ich meine Manifeste verteile. Ich war zwar nicht eingeladen, aber Reklame machen wollte ich dennoch. Das habe ich auch bei der documenta 1964 so gemacht. Da habe ich am Tag der Eröffnung 2.000 Manifeste verteilt, wie man im Fernsehfilm von Gottfried Sello sehen kann. Das war für mich normale Praxis, so wie man heute Einladungskarten und Faltblätter unters Volk bringt. Hätte Brock nicht meine Sachen zerstört – auch da gibt es einen Film, der das belegt –, wäre nichts passiert, und ich hätte dem Ganzen als normaler Zuschauer beigewohnt.

Im Aachener Programmheft habe ich allerdings sehen müssen, dass Vostell aus meinem Manifest „Was ist Kunst?“, das ich bei Loehr gelassen hatte, unter dem Titel „Was ich will“, datiert 27. Juni 1964, etliches abgeschrieben hatte, zum Teil wörtlich. Das fand ich dreist und schamlos. Einerseits diffamierte er mich als kleinen Provinzler, andererseits war ich gut genug als Theorielieferant. Daraufhin habe ich einen Leserbrief verfasst, den Günther Rühle in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ abgedruckt hat. Timm Ulrichs, „Ich, schlafend auf der Bühne“, Leserbrief, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 16.11.1964, S. 6. In Vorher-Nachher-Manier sind meine und Vostells Sätze einander gegenübergestellt. Dadurch hatte ich es mir nun mit beiden endgültig verscherzt, sowohl mit Brock als auch mit Vostell. Bei einem späteren Happening Vostells, von René Block auf einem Berliner Schrottplatz organisiert, Wolf Vostell, „Phänomene“, 27. März 1965. Das Happening fand als vierte Veranstaltung der Reihe „Soiree“ der Galerie René Block statt. habe ich groß mit Kreide aufs Straßenpflaster geschrieben: „Vostell ist ein Plagiator“. Anschließend bin ich auf den Platz gegangen und habe ihm einen Stempel auf die Stirn gedrückt: „Totalkunst“. So habe ich ihn bestraft. Man mag der Meinung sein, solche Kämpfe seien kleinlich, wenn man aber bedenkt, dass selbst die großen Dadaisten – meine Vorläufer und Vorbilder – bis zum Lebensende gestritten haben, wer den Begriff „Dada“ geprägt hat – der Fall ist ja nie entschieden worden –, kann man mich vielleicht besser verstehen.

Es gibt einen Satz, der in Ihren Biografien immer wieder auftaucht: „Es ist eigentlich egal, ob Kolumbus Amerika entdeckt oder erfunden hat.“ Steht das nicht im Widerspruch zu dem, was Sie gerade beschrieben haben?

Es geht mir dabei um zweierlei: um den Unterschied zwischen Finden und Erfinden, und darum, das Erstgeburtsrecht an Ideen zu respektieren und zu verteidigen. Ich trete nur ungern in die Fußstapfen von anderen, aber ich habe mich stets zu meinen Lehrern bekannt: Leonardo, Lichtenberg, Novalis, Carroll, Büchner, Wilde, Magritte. Mit dem von mir verehrten Raoul Hausmann Raoul Hausmann (1886 Wien – 1971 Limoges) war Mitbegründer der Berliner Dada-Bewegung. Bekannt ist er insbesondere für seine Fotomontagen und Texte. habe ich noch persönlich Kontakt aufgenommen, da war er bereits über 80 Jahre alt, aber kämpferisch wie eh und je. Das war einer der Kunstrebellen, wie ich sie immer geliebt habe und liebe.

Wie haben Sie Peter Roehr kennengelernt?

1964 veranstaltete die Kyklos Presse, Frankfurt am Main, in der Göppinger Galerie die „Zweite Literarische Pfingstmesse“, „Zweite Literarische Pfingstmesse“, Kyklos Presse, Göppinger Galerie, Frankfurt am Main, 21.–24. Mai 1964. zu der ich mich als Verlag, als „Werbezentrale für Totalkunst“, mit meinen eigenen Publikationen und zwei Plakaten angemeldet habe. Auf einem dieser Poster waren viermal vier Köpfe, grob gerastert, abgebildet, auf dem anderen 100 Augen, Timm Ulrichs, „Serielles Raster-Bild“, 1962/63; Timm Ulrichs, „‚Auge um Auge um Auge‘. Serielle Formation“, 1961. beides perfekte „Serielle Formationen“, wie ich die Werke dieser Arbeitsreihe bezeichnete. Aus Bremen war Detlef Rohde, heute Detlef Michelers, mit seiner Zeitschrift „Schöngeist“ vertreten, für deren erste Ausgaben ich die Titelblätter gestaltet hatte: ausschnittsweise dieses Augenmotiv, zum anderen seriell angeordnete Münder. Aufgrund dieser offensichtlichen Affinitäten hat Roehr sich gemeldet, und Detlef Rohde schrieb mir: „Timm, da macht einer etwas Ähnliches wie du. Guck dir das mal an.“ Ich fand es schon ein bisschen merkwürdig, dass sich da einer so eng an mich schmiegte, aber aus womöglich übertriebener Uneigennützlichkeit habe ich noch einige Arbeiten Roehrs neu montiert, da sie so schlampig collagiert waren. Immerhin kam Peter Roehr auf diese Weise zu seiner zweiten Publikation überhaupt. Am 24. April 1966 bot er mir in einem Brief eine gemeinsame Ausstellung an, eine Kopie dieses Schreibens ist in seinem Nachlass erhalten, ich verspürte aber keine Lust, mit meinem Nachahmer gemeinsame Sache zu machen. Vielleicht brauchte er eine Stütze, schließlich war ich einige Jahre älter als er. Was mich daran allerdings sehr befremdet hat, war, dass Roehr und Paul Maenz in Frankfurt die Ausstellung „Serielle Formationen“ „Serielle Formationen“, Studiogalerie im Studentenhaus der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 22. Mai – 30. Juni 1967. In der von Paul Maenz und Peter Roehr organisierten Ausstellung wurden unter anderem Werke von Carl Andre, Thomas Bayrle, Hans Haacke, Frank Stella und Andy Warhol gezeigt. organisierten – wo ich doch bei Detlef Rohde unter diesem Begriff meine Arbeiten publiziert hatte. Zunächst wurde ich eingeladen, dann wieder ausgeladen. Meine Post blieb unbeantwortet, mein eingesandtes Werk habe ich nie zurückbekommen. Ich rief bei Peter Roehr an, und seine Mutter richtete mir aus: „Die Ausstellung ist verschoben worden. Sie melden sich.“ Natürlich haben sie sich nicht gerührt, stattdessen war plötzlich der Katalog da. Mein Name wurde darin nicht genannt.

Haben Sie mit Peter Roehr je darüber gesprochen?

Ja, natürlich. Aber genützt hat es nichts. Auch Sie werden Paul Maenz nicht zur Rede stellen und ihm womöglich Vorhaltungen machen wegen seines schäbigen Verhaltens. Er würde auch nichts auf seinen Freund und Liebhaber Roehr kommen lassen, durch den er so viel Geld verdient hat. In meinem Katalog „Blick zurück nach vorn“ des Museums Ritter, Waldenbuch 2010, untersucht Andreas Bee, zuvor schon Kurator der Roehr-Schau am Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main, akribisch diesen Fall und bestätigt alle meine Angaben. Aber auch Sie werden geflissentlich darüber hinweglesen, und in ein paar Jahren wird niemand mehr davon wissen und wissen wollen. Dadurch, dass die Ausstellung von Maenz und Roehr als programmatisch für serielle Tendenzen in der bildenden Kunst immer wieder zitiert wird, bleibt dieser Aspekt meines Œuvres ausgeblendet; seit 50 Jahren wird er total unterschlagen! Viele Kunsthistoriker und Journalisten schreiben ja bloß voneinander ab, und so werden Fehler, Irrtümer und Auslassungen immer weitergereicht. Übrigens: Im genannten Katalog des Museums Ritter ist ein „F.A.Z.“-Foto meiner Selbstausstellung in der Galerie Patio reproduziert, und unter den Besuchern sehen Sie Peter Roehr.

Hatten Sie damals auch mit Thomas Bayrle Thomas Bayrle (* 1937 Berlin) absolvierte von 1956 bis 1958 in Göppingen eine Ausbildung zum Weber und Färber und studierte von 1958 bis 1961 Druckgrafik an der Werkkunstschule Offenbach. 1961 gründet er gemeinsam mit seinem Studienkollegen Bernhard Jäger den Verlag Gulliver-Presse. Bayrle beschäftigt sich in seinen Arbeiten häufig mit dem Prinzip des Seriellen. Er war 1964, 1977 und 2012 auf der documenta vertreten und stellte 2003 und 2009 auf der Biennale von Venedig aus. Bayrle war von 1972 bis 2002 Professor an der Städelschule in Frankfurt am Main. zu tun?

Ja, Bayrle kannte ich ganz gut. Ich schätze ihn, und er mag mich, so hoffe ich, auch. Ende der 60er-Jahre hat er ebenfalls mit seriellen Arbeiten begonnen und zuvor schon mit Bernhard Jäger einen Verlag geführt. Beide waren auch mit der Galerie Patio liiert, wo ich sie öfter getroffen habe.

1966 haben Sie sich dort als Kunstwerk ausgestellt. Timm Ulrichs, „Ausstellung des Herrn Ulrichs (automobile Plastik), 178 cm: erstes lebendes Kunstwerk“, 1961. Nach Angaben Ulrichs’ wurde die Arbeit erstmals 1961 in seiner „Zimmer-Galerie“ in Hannover gezeigt. Die Aktion war 1966 vom 01. bis 05. Juni in der Galerie Patio in der Laubestraße in Frankfurt am Main zu sehen. Damals gab es von Piero Manzoni bereits die „Sculture viventi“ Piero Manzoni, „Scultura vivente“ (dt. Lebende Skulptur), 1961. – er ist ja 1963 schon gestorben –, und damit gab es nicht nur ein lebendes Kunstwerk, sondern viele lebende Kunstwerke. Manzoni hat diese Sockel, die „Basi magiche“ Piero Manzoni, „Base magica“ (dt. Magischer Sockel), 1961. , gemacht und Authentizitätszertifikate Piero Manzoni, „Carta d’autenticità“ (dt. Echtheitszertifikat),1961/62. für einzelne signierte Körperteile oder auch den kompletten signierten menschlichen Körper ausgestellt. Er hat den Menschen also qua Signatur zum Kunstwerk ernannt. Eben haben Sie die Eier erwähnt, die Sie in Aachen dabeihatten – das Hühnerei gab es ja bei Manzoni auch schon. Während der Aktion „Consumazione dell’arte – Dinamica del pubblico – Divorare l’arte“, die am 21. Juli 1960 in der Mailänder Galleria Azimut stattfand, markierte Piero Manzoni 150 gekochte Hühnereier mit seinem Daumenabdruck und bot sie den Besuchern zum Verzehr an. Darüber hinaus entstanden weitere mit dem Daumenabdruck des Künstlers signierte Eier, die in signierten, datierten und nummerierten Holzkisten präsentiert wurden.

Als ich von Manzonis Eiern erfuhr, habe ich diese Sache auch nicht weiterverfolgt, in meinen Ausstellungen und Katalogen taucht sie nirgendwo auf. Heute sind Sie in der glücklichen Lage, aus Büchern und digitalen Quellen zitieren zu können – die gab es aber zu jener Zeit in Deutschland noch gar nicht. Ich konnte von Manzoni und seinen gleichzeitigen Arbeiten gar nichts wissen.

Manzoni war aber doch auch häufiger Gast bei Hermann Goepfert in Frankfurt. Ich sage nicht, dass Sie von ihm irgendetwas übernommen haben. Es ist jedoch interessant, dass Manzoni ausgerechnet in Frankfurt schon Kontakt mit Goepfert und Kowallek hatte und auch dort ausgestellt hat, und dass Sie dann – einige Jahre später – in Frankfurt Ihre Selbstausstellung hatten und sich als „Erstes lebendes Kunstwerk“ präsentierten. Wurden Sie damals in diesem Zusammenhang von niemandem auf Manzoni hingewiesen?

Nein, niemals. Die Einladung durch die Galerie Patio hatte nicht das Mindeste mit Goepfert oder Kowallek zu tun. Kein einziger Zeitungsbericht über meine Selbstausstellungen in Berlin und Frankfurt erwähnt Manzoni, auch nicht Günther Rühles vierspaltiger Artikel „Timm stellt sich aus“, am 03. Juni 1966 in der „F.A.Z.“ erschienen. Mit diesem Aspekt Manzonis ist damals in Deutschland überhaupt nicht operiert worden; er war nirgendwo zu sehen.

Es gibt sogar Filme von Manzoni, die sind natürlich alle vor 63 entstanden.

In Italien, aber in Deutschland sind sie meines Wissens damals nicht gezeigt worden. Bitte belehren Sie mich eines Besseren! Zeigen Sie mir eine deutsche Zeitung oder Zeitschrift jener Zeit, in der über Manzonis Konzepte geschrieben worden wäre: Es gibt sie nicht. Auch Kowallek hat sie nie präsentiert, bestenfalls die „Achrome“. Bedenken Sie bitte: 1961 habe ich meine Visitenkarte drucken lassen und auch meine „Zimmer-Galerie“ eröffnet, mit einem dreiseitigen hektografierten Katalog, der das gesamte Inventar meiner Wohnung und auch mich selbst auflistete. Im Mai 1961 gründete Timm Ulrichs „Zimmer-Galerie & Zimmer-Theater“, indem er seine Wohn- und Arbeitsräume im Sinne seines Totalkunst-Konzepts zu Ausstellungsräumen des eigenen Lebens und der eigenen künstlerischen Arbeit erklärte. Das „Sonderblatt zur Eröffnung“, das zu diesem Anlass erschien, war ein Zustandsprotokoll der Zimmereinrichtung und der Person Timm Ulrichs. Siehe auch: Timm Ulrichs, „Lebensraum = Kunstraum. Vierzig Jahre Totalkunst – Zimmergalerie in Hannover“, in: „Timm Ulrichs. Betreten der Ausstellung verboten! Werke von 1960 – 2010“, Ausst.-Kat. Kunstverein Hannover/Sprengel Museum Hannover, Ostfildern 2010, S.67–69, hier S. 67. 1964 habe ich mich in Berlin polizeilich angemeldet, um für die „Juryfreie Kunstausstellung“ einen Wohnsitz nachweisen zu können. 1965 wurde die Selbstausstellung verboten, das heimlich aufgenommene Foto mit mir in der Vitrine aber ist um die ganze Welt gegangen. Meine Schwester, die Stewardess war, hat sogar im „Aloha-Magazin“ auf Hawaii ein Foto von mir entdeckt, und Willi Bongard Willi Bongard (1931 Alendorf – 1985 Nürnbrecht) war ein Journalist, der vor allem zu Themen aus dem Kunst- und Wirtschaftsbereich arbeitete. Er schrieb unter anderem für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und die „Zeit“ sowie für das Magazin „Capital“ und seinen eigenen Kunstinformationsdienst „art aktuell“. 1970 erfand er den „Kunstkompass“, ein Ranking der zeitgenössischen Künstler, das bis heute jährlich veröffentlicht wird. Gemeinsam mit Joseph Beuys und Klaus Staeck gehörte er 1973 zu den Mitbegründern der Freien Internationalen Universität (FIU). , der Kunstkompass-Erfinder, sandte mir das „New York Magazine“ mit einem Bild. Im „Time“-Magazin gab es einen Artikel mit dem Titel „Don’t Feed the Sculpture“, geschrieben, wenn ich mich recht erinnere, vom Starkritiker Robert Hughes. Robert Hughes, „Don’t Feed the Sculpture“, in: „Time“, 10.06.1966, o. S. Von Manzoni ist da nicht die Rede. Mein Fall war aber kurzfristig sehr bekannt: als radikale Konsequenz der duchampschen Theorie des Readymades. Duchamp war mein Bezugspunkt. Und natürlich Dada ganz allgemein.

Wann haben Sie das Werk von Manzoni entdeckt?

Manfred de la Motte zeigte im Kunstverein Hannover Anfang der 70er-Jahre eine Manzoni-Ausstellung. „Piero Manzoni“, Kunstverein Hannover, 26. Januar – 28. Februar 1970. Marcel Duchamp war mir schon vorher durch die frühen Dada-Veröffentlichungen bekannt. 1965 oder 1966 hatte er in Hannover in der Kestnergesellschaft eine Ausstellung, organisiert von Wieland Schmied. „Marcel Duchamp, même“, Kestnergesellschaft, Hannover, 07.–28. September 1965. Und auch Yves Klein kannte ich früher als Manzoni. Ich hatte von Paul Wember Paul Wember (1913 Recklinghausen ‒ 1987 Krefeld) war ein Kunsthistoriker und Kurator, der von 1947 bis 1975 Direktor des Kaiser Wilhelm Museums in Krefeld war. Bereits ab Ende der 1950er-Jahre erweiterte er die Sammlung des Museums durch Werke von Joseph Beuys, Yves Klein und Piero Manzoni. Unter seiner Leitung erlangte insbesondere das dem Museum ab 1955 angeschlossene Haus Lange den Ruf eines avantgardistischen Ausstellungsorts. in Krefeld gehört und hatte später auch Kontakt zu ihm. Über den Galeristen Alfred Schmela ist er zum Promoter Yves Kleins geworden. Die erste Museumsausstellung Kleins dürfte im Museum Haus Lange gewesen sein. „Yves Klein, Monochrome und Feuer“, Museum Haus Lange, Krefeld, 14. Januar – 26. Februar 1961. Dort hatte auch ich 1970 eine große Schau. „Timm Ulrichs. Totalkunst“, Museum Haus Lange, Krefeld, 01. August – 06. September 1970.

Das war Ihre erste Retrospektive.

Ja, ein großer Glücksfall. Ich möchte aber noch kurz bei Manzoni bleiben. Wenn Sie behaupten, es liefen damals lauter lebende Kunstwerke in der Gegend herum, kann ich Ihnen nur sagen: Ich bin keinem begegnet, bis auf die „Singing Sculptures“ Gilbert & George, etwa ab 1969. Manzoni hat andere Leute signiert, aber nicht sich selbst, und er hat diese Idee auch nicht in ein umfassendes Lebenswerk eingebettet. Es gibt übrigens ein Buch von Udo Kultermann mit dem Titel „Leben und Kunst“ Udo Kultermann, „Leben und Kunst. Zur Funktion der Intermedia“, Tübingen 1970. – darin tauchen lauter Namen lebender Kunstwerke auf, rund ein Dutzend, aber meiner fehlt. Das geht bis 1970, bis zu jemandem, der sich in einem Zoo präsentierte. Aber warum auch immer: Ich bin nicht dabei.

Wie kommt es, dass Sie da überall rausgefallen sind?

Da müssen Sie andere fragen. Vielleicht liegt es daran, dass ich in Hannover hängen geblieben bin, ich war wohl zu weit ab vom Schuss. Ohne Unterstützung durch andere kommt man nicht weit.

Sie haben aber doch auch in Galerien ausgestellt. Gab es jemals Versuche einer längerfristigen Zusammenarbeit? 1970 hatten Sie Ihre erste Retrospektive. Das war relativ früh in Ihrer Karriere.

Ja, es gab in den 1960er- und 70er-Jahren bescheidene Galerieausstellungen, aber ich wurde wegen Erfolgslosigkeit immer schnell wieder ausgemustert. Die Schau in Krefeld war die absolute Ausnahme, ein Geschenk aus heiterem Himmel. Für den Kunstmarkt aber war ich wohl nicht kommerziell genug. Die ersten Werke, die ich auch heute noch gelten lasse, sind ab 1959 während meiner Studienzeit entstanden, und die besten dieser zumeist seriellen Arbeiten habe ich 2010 im Museum Ritter in Waldenbuch zusammengefasst und in die Stiftung für Konkrete Kunst Ingolstadt gegeben. Damit ist der wichtigste Teil des Frühwerks gerettet. Gegen Ende der 50er-Jahre habe ich mich von Eugen Gomringer und der Konkreten Poesie Die Konkrete Poesie bezeichnet eine experimentelle Form der Dichtung. Unterschieden werden die akustische Dichtung und die visuelle Poesie. In der akustischen Dichtung werden sprachliche Elemente nach akustischen, das heißt klanglichen Parametern geordnet. In der visuellen Poesie wird mit der visuellen Darstellung von Texten experimentiert, das heißt, der Text vermittelt über die äußere Form. Ab den 1950er-Jahren haben sich Literaten und Künstler wie Eugen Gomringer, Ernst Jandl, Franz Mon und die Wiener Gruppe in Orientierung an der Dada-Bewegung der 1920er-/30er-Jahre intensiv mit der Konkreten Poesie auseinandergesetzt. Siehe auch: Eugen Gomringer, „Zur Sache der Konkreten“, 2 Bde., St. Gallen 1988. inspirieren lassen; da gelten ähnliche Arbeitsprinzipien und Spielregeln wie bei den „Seriellen Formationen“. Was sich bei diesen vornehmlich bildhaft und skulptural vollzieht, findet in der Konkreten Poesie auf sprachlicher Ebene seine Anwendung. Gomringer verlegte eine Schriftenreihe mit dem Titel „poesia concreta“, davon habe ich einige Hefte bei ihm bestellt. Auch Max Bense und Elisabeth Walther habe ich anzuschreiben gewagt und ihnen meine eigenen Texte geschickt, die ich als Student auf der Schreibmaschine meiner Mutter getippt hatte. Daraus resultierte mein von den beiden bewunderten Autoren herausgegebenes Bändchen „lesarten und schreibweisen“, das 1968 als Nummer 33 ihrer Reihe „rot“ erschienen ist. Der auch darin enthaltene Text „ordnung – unordnung“ Timm Ulrichs, „ordnung – unordnung“, in: „rot 33. lesarten und schreibweisen“, hg. von Max Bense und Elisabeth Walther, Stuttgart 1968, o. S. dürfte der meistgedruckte Text im Nachkriegsdeutschland überhaupt sein; er findet sich in unzähligen Schulbüchern. Natürlich, auch Eugen Gomringers Gedicht „schweigen“ Eugen Gomringer, „schweigen“, in: Eugen Gomringer, „33 Konstellationen“, St. Gallen 1960, o. S. ist häufig publiziert worden oder Ernst Jandls „lechts und rinks kann man nicht velwechsern“ Ernst Jandl, „Lichtung“, in: Ernst Jandl, „Laut und Luise“, Olten/Freiburg im Breisgau 1966, S. 175. . Aber „ordnung – unordnung“ ist der unangefochtene Spitzenreiter. Wie man sieht: Meine Position im Feld der Konkreten Poesie ist gesichert, und ich bin einer der letzten Überlebenden der Stuttgarter Gruppe. Dabei habe ich nie behauptet, im Bereich der Literatur Grundlegendes geleistet zu haben. Ich habe einfach nur einige der besten Texte geschrieben. Auch wenn in der Sprachkunst meine Bedeutung mittlerweile unbestritten ist, ist sie in der Bildkunst noch nicht genügend manifest geworden. Dabei gelten in beiden Disziplinen die gleichen Prinzipien, ganz analoge Verfahren, so bei ZERO, den Neuen Tendenzen in Jugoslawien, der Gruppo N und der Gruppo T in Italien und der Groupe de Recherche d‘Art Visuel in Paris. Das sind wohl übergreifende Zeitphänomene, aus denen man sich nicht heraushalten kann. Man darf nur nicht zu spät kommen, nicht nachhinken, man muss in den vorderen Linien kämpfen.

Wie kam es 1970 zu Ihrer Einzelausstellung in Krefeld?

Auch das ist wieder eine Geschichte, die einmal mehr aus meiner notorischen Protesthaltung heraus entstanden ist. Die Assistentin von Harald Szeemann in der Kunsthalle Bern, Anastasia Bitzos, hatte einen „Text- und Aktionsabend II“ „Text- und Aktionsabend II“, Kunsthalle Bern, 27. Februar 1968. Teilnehmer waren Julien Blaine, Jean-François Bory, Claus Bremer, Rolf Geissbühler, Reinhard Döhl und Timm Ulrichs. organisiert, mit Reinhard Döhl und mir aus Deutschland, Jean-François Bory und Julien Blaine aus Frankreich und noch zwei Schweizern. Ein Honorar gab es nicht, nur eine bezahlte Übernachtung. Ich habe eine eigene Publikation vorbereitet – „um nicht zu sagen: ganz zu schweigen von“ –; auf der Bühne habe ich unter anderem eine Vermessungsaktion vorgeführt. Im Jahr darauf hat Szeemann an gleichem Ort die Schau „When Attitudes Become Form“ „Live in Your Head. When Attitudes Become Form“, Kunsthalle Bern, 22. März –27. April 1969/Museum Haus Lange, Krefeld, 10. Mai – 15. Juni 1969/Institute of Contemporary Art (ICA), London, 28. September – 27. Oktober 1969. zusammengetragen, jene epochale Ausstellung, die all die neuen aufkommenden und noch nicht sanktionierten Tendenzen, von Fluxus über Arte povera bis zur Konzeptkunst, in den Blick nahm. Ich wunderte mich, dass wir, die wir diesen Abend bei ihm bestritten hatten, allesamt nicht berücksichtigt wurden. Daher habe ich ihm einen Brief geschrieben, und er hat mir herablassend geantwortet: „Big bullshit, Mr. Ulrichs.“ Gleichsam: „Leck mich!“. Da ich wusste, dass die Ausstellung im Anschluss an Bern von Krefeld übernommen würde, schickte ich einen Durchschlag meines Briefs an Paul Wember, und er hat mir geschrieben: „Lieber Timm Ulrichs, wenn Sie meinen, dass Sie so wichtig sind, kommen Sie doch mal vorbei.“ Also bin ich hingetrampt. Ich war extrem aufgeregt, denn Paul Wember war ein großer Name – in Deutschland gab es zu dieser Zeit keinen Museumsmann, der so viel gewagt hat: Er hat Yves Klein gezeigt, er war der Erste, der Robert Rauschenberg im Museum präsentierte, kinetische Kunst groß herausbrachte und die Pariser Avantgarde. Beim Eintritt in Paul Wembers Büro im Kaiser Wilhelm Museum habe ich mich gleich an der Türklinke verhakt und bin über den Teppich gestolpert – es war wie in einem Slapstick-Film. Da sagte Paul Wember in fürsorglichem Ton zu mir: „Junger Mann, beruhigen Sie sich doch, und setzen Sie sich. Wir trinken erst mal einen Sliwowitz.“ Er holte eine Flasche, schenkte mir ein und nahm mir meine Nervosität. Dann sagte er: „Ich habe gelesen, was Sie alles gemacht haben, aber ich kann in die Ausstellung von Harald Szeemann nicht eingreifen. Es ist nur eine Übernahme. Wir können aber, wenn Sie wollen, gemeinsam eine Ausstellung machen.“ Ich war völlig überrascht und überglücklich. Dieses Gespräch mit Paul Wember war und ist bis heute einer der größten, überwältigendsten Momente meines Lebens, und zum Dank habe ich diesem Mann bis zu seinem Tod fast jedes Jahr eine Flasche Sliwowitz geschickt. Im Museum Haus Lange, einem von Ludwig Mies van der Rohe entworfenen Einfamilienhaus, konnte ich einige Wochen zur Vorbereitung der Ausstellung wohnen. Und morgens brachte mir das Hausmeisterpaar das Frühstück ans Bett.

Ans Bett?

Ja. Das war das Tollste, was mir je passiert ist. Und auch die Ausstellung war ein großer Erfolg. Wir hatten 6.000 Besucher, obwohl ich ein Niemand, ein No-Name war. Krefeld war in jenen Jahren zweifellos das avancierteste Zentrum aktueller Kunst in Deutschland und stand voll im Blick der Öffentlichkeit. Leider hat Georg Jappe Georg Jappe (1936 Köln – 2007 Kleve) war ein Kunst- und Literaturkritiker, der ab 1962 regelmäßig Beiträge in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, der „Zeit“ und dem Magazin „Merkur“ veröffentlichte. Von 1979 bis 2001 lehrte er als Professor für Kunsttheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. , der gefürchtete Kritiker der „F.A.Z“, meine Retrospektive im Haus Lange als die Einzige der strikt zeitgenössischen Reihe nicht rezensiert. Im Jahr zuvor, anlässlich meiner Schau in der Kölner Galerie Kümmel „Ideenkunst. Der Künstler ist anwesend!“, Galerie Kümmel – k235, Köln, 1969. und in Anspielung auf meine Leverkusener Kondensstreifen-Aktion, hatte er sich in einer Glosse, „Cogito, ergo bums“, mokiert, Timm Ulrichs habe in einem Manifest befunden: „Ich bin unbeschreiblich“, und daher erspare er sich eine Ausstellungsbesprechung. Dafür aber hat John Anthony Thwaites John Anthony Thwaites (1909 Kensington, Großbritannien – 1981 Leienkaul) war ein Kunstkritiker und Publizist. 1949 gründete er gemeinsam mit dem Maler Rupprecht Geiger die Künstlergruppe ZEN 49 in München. 1955 verlagerte sich sein Lebensmittelpunkt nach Düsseldorf, wo er insbesondere die Künstler der Gruppe 53 sowie die Entwicklung des ZERO-Umfelds begleitete. Seine journalistische Arbeit trug wesentlich zur öffentlichen Wahrnehmung der deutschen Nachkriegskunst bei. , ein anderer großer Kritiker jener Jahre, unter anderem für die „Deutsche Zeitung“, sich vehement für mich eingesetzt. Thwaites, ehemaliger britischer Soldat, war nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland geblieben und lebte im rheinischen Grevenbroich. Ein Bestseller gelang ihm mit dem Ullstein-Taschenbuch „Ich hasse die moderne Kunst!“ John Anthony Thwaites, „Ich hasse die moderne Kunst!“, Frankfurt am Main 1960. . Im Berliner „Tagesspiegel“ und auch in anderen Zeitungen trommelte er für mich. So schrieb er zum Beispiel am 13. August 1970 in der „Saarbrücker Zeitung“: „… sollten wir ein paar revolutionäre Künstler in Deutschland haben, so heißt einer von ihnen bestimmt Timm Ulrichs.“ 1973 folgte noch ein langer Artikel, „Total Art“, in der englischen Zeitschrift „Art and Artists“.

Hatten Sie grundsätzlich in der Zeit ein Problem mit der Rezeption Ihrer Werke? Ich erinnere mich an die Aktion an der Hochschule: „Zettel ankleben verboten!“. Wenn die Folge einer solchen Aktion der Rausschmiss ist, dann wurden Sie offenbar falsch verstanden?

Es waren natürlich nicht diese Zettel allein, die zu meiner Relegation führten, sondern meine extravaganten Attitüden. Eine Zeit lang veröffentlichte ich meine Texte und Bilder in der „Hannoverschen Studentenzeitung“, zunächst als Redakteur, bis ich mir sagte, es sei nicht gut, sich als Redakteur hemmungslos zu publizieren. Von da an lieferte ich meine Beiträge nur noch als freier Mitarbeiter, nach wie vor nur in eigener Sache. An der damaligen spießigen Technischen Hochschule – der heutigen Leibniz-Universität – war ich eine durchaus auffällige Erscheinung, ein exotischer bunter Vogel mit langen Haaren, schwarzem Cordanzug und selbstentworfenen Hemden mit Stehkragen, wie Karl Lagerfeld sie heute trägt. Mit einem derartigen Auftreten musste ich den Leuten ein Dorn im Auge sein, etwa dem Theaterbauer Gerhard Graubner Gerhard Graubner (1899 Dorpat, Russisches Kaiserreich, heute Estland – 1970 Hannover) war ein Architekt und Hochschullehrer. Ab 1939 war er Mitglied in der NSDAP und unter anderem an dem Bau des Reichssportfelds, dem heutigen Olympiapark Berlin, beteiligt. Von 1940 bis 1967 war er Professor an der Technischen Hochschule Hannover, wo er bis 1945 auch Ratsherr und Gaukulturrat war. In den Nachkriegsjahren wurde Graubner durch zahlreiche Theaterbauten und Schauspielhäuser bekannt, darunter das Schauspielhaus Bochum und das Stadttheater Krefeld. Siehe auch: Präsidium der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Hg.), „Nationalsozialistische Unrechtsmaßnahmen an der Technischen Hochschule Hannover. Beeinträchtigungen und Begünstigungen von 1933 bis 1945“, Petersberg 2016. , der ein großer Nazi und noch immer stolz darauf war, oder dem Statiker Georg Knittel Georg Knittel (1918 Prag – 2017 Grünwald) war Bauingenieur und Hochschullehrer für Baustatik. Er war von 1941 bis 1945 für die Wehrmacht im Einsatz. Von 1957 bis 1965 war Knittel Professor an der Technischen Hochschule Hannover sowie ab 1965 an der Technischen Hochschule München. , auch er ein unbelehrbarer Reaktionär. Eines Tages haben die mich einbestellt, und ich bin wie ein Dandy schön geschminkt und mit Spazierstöcken angetreten. Herr Knittel wollte gleich handgreiflich werden, aber seine Assistenten sind dazwischengegangen. Von einem Tag auf den anderen wurde ich dann – als erster Student – wegen ungebührlichen Verhaltens und nicht ordentlichen Studiums der Hochschule verwiesen und erhielt Hausverbot für das gesamte Hochschulgelände, einschließlich der Mensa. Der Rauswurf war juristisch nicht haltbar, wie der AStA feststellte, der meinetwegen tagte. Auch Wilhelm Landzettel vom Lehrstuhl für Landwirtschaftliches Bauen glaubte, mir gut zuzureden, als er mir riet, mich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Allein der Maler Kurt Sohns, der den Lehrstuhl für Malen und Zeichnen innehatte, hat sich für mich verwendet. Er unterstützte mich bei meinen grafischen Experimenten und gab mir als Einzigem seiner Schüler einen Atelierschlüssel, sodass ich Tag und Nacht Zutritt hatte. Ihm verdanke ich auch, dass ich letztendlich das Vorexamen ablegen konnte, mit Ach und Krach zwar, aber immerhin. Alles in allem jedoch muss ich gestehen, dass ich meine damalige Situation als sehr belastend empfand. Mit dem Architekturstudium kam ich nicht klar, und mit der Kunst ging es auch nicht richtig voran. Ich konnte zwar in kleinen Zeitschriften ein wenig publizieren oder nach Berlin – etwa zur „Juryfreien Kunstausstellung“ – die Finger ausstrecken, aber eigentlich interessierte sich niemand für meine Sachen. Einen sicheren Hafen hatte ich nirgendwo. Ich fühlte mich verloren und brach das Studium ab. Erst Jahre später habe ich wieder den Anschluss gefunden, hatte 1969 eine Ausstellung in der Galerie h und 1973 bei Joachim Ernst, beide in Hannover. „Kunstlandschaften. Eine Totalkunst-Demonstration (Wald/Straße/Heizmaterialien: Holz, Torf, Kohle)“, Edition h, Hannover, 10.–25. Februar 1969; „Timm Ulrichs, Universal-Dilettant“, Galerie Ernst, Hannover, 01.–14. Juni 1973.

In der Galerie Ernst sind Sie Dieter Roth begegnet?

Ja, Dieter Roth hatte dort eine Ausstellung. „Die letzten Ladenhüter“, Galerie Ernst, Hannover, 11. Januar – 08. Februar 1969. Damals hat er diese sonnenhaften Wurstscheiben gezeigt, und ich muss ihn provoziert haben mit der Bemerkung, dass ich auch schon Lebensmittel und eingeschweißte Wurstscheiben im Programm hatte. Er wollte mich umgehend verprügeln – man muss ihm zugutehalten, dass er ziemlich betrunken war und ohnehin zu Gewaltausbrüchen neigte. Ich hatte es eben an dem nötigen Respekt fehlen lassen und eine zu große Klappe. Als ich Dieter Roth später noch einmal getroffen habe, konnte er sich an den Vorfall nicht mehr erinnern. Wenn es aber einen Künstler gibt – nicht ganz meiner Generation, er war ja zehn Jahre älter –, den ich als satisfaktionsfähig anerkenne, dann ist es Dieter Roth, nur er. Er hat, immer unzufrieden mit sich, mal dies gemacht und mal jenes probiert, hat 1.000 Wege beschritten, darunter etliche Irrwege. Aber auch die sind, auf ihre Weise, interessant, und letztlich sind sie keine Sackgassen, sondern kreative Umwege, oder wie auch immer man das sehen will. Er besaß, wie ich annehme, eine ähnliche Haltung wie ich. Begonnen hat auch er mit konstruktiven Arbeiten, mit konkreten Texten und Buchobjekten. Später kamen die Lebensmittel hinzu und die vergänglichen Materialien, einschließlich des eigenen Körpers. Dieter Roth war in vielen Weisen weitaus exzessiver als ich, der ich ja vergleichsweise zurückhaltend bin. Er war jemand, der immer über die Stränge schlug, sich nie geschont hat und bis zur Selbstzerstörung ging, was natürlich auch dazu führte, dass er so früh gestorben ist. Sie kennen vielleicht seine Filme, in denen er nackt herumläuft. In diesem Zustand, mit aufgedunsenem Bauch, würde ich mich der Öffentlichkeit nicht zeigen wollen, da hätte ich doch gewisse Hemmungen und Schamgrenzen.

Mit wem hatten Sie sonst zu tun? Es gibt zum Beispiel von KP Brehmer diese Briefmarken-Arbeit – das ist ja fast eine Hommage an Sie. Der Künstler KP Brehmer (eigtl. Klaus Peter Brehmer; 1938 Berlin – 1997 Hamburg) arbeitete ab 1966 mit Abbildungen stark vergrößerter Briefmarken. Die Werkserie hatte unter anderem Briefmarken aus der NS-Zeit, der Bundesrepublik Deutschland, aus Vietnam und den USA zur Vorlage. Die Arbeit „Hannover-Briefmarke“ (1969) zeigt eine fiktive Marke der Deutschen Bundespost mit einem Porträt von Timm UIrichs und dem Poststempel der Stadt Hannover.

Zu KP Brehmer, den ich durchaus schätze, eine eigene kleine Anekdote. Wie ich Ihnen bereits erzählte, bin ich bei der „Juryfreien Kunstausstellung“ rausgeflogen, weil Adolf Jannasch von der Galerie des 20. Jahrhunderts im Namen des Kultursenats darauf gedrungen hat, die Hängekommission solle auf irgendeine Weise und mit allen Mitteln dafür sorgen, dass die „Hängung Timm Ulrichs“ unterbliebe. Als zweites Exponat hatte ich einen großen Spiegel angemeldet. Beides wurde mit fadenscheinigen Argumenten abgelehnt, das Letztere sei, so hieß die groteske Begründung, „ein Eingriff in das Recht des eigenen Bildes“ – Eberhard Roters, als Sprecher der Hängekommission, hatte viel zu schnell den Schwanz eingezogen. Mit der Ausstellung hat es also nicht geklappt, das Verbot aber hatte einen großen Effekt, viele Zeitungen berichteten. Deshalb hatte ich mir für 1966 vorgenommen, es noch einmal zu versuchen. Pro Person durften nur zwei Arbeiten eingereicht werden, und daher habe ich einfach ein paar Leute angeheuert, für mich weitere Werke in die Ausstellung einzuschleusen. Mit diesem Trick gelangten zwölf meiner Sachen in die Schau, darunter ein Briefmarkenbogen. Das war ein halbes Jahr, bevor KP Brehmer bei René Block, zu dessen Stall er gehörte, erstmals Briefmarken präsentierte.

Wurden Ihre Arbeiten 1966 angenommen?

Na klar, es waren alle zwölf ausgestellt.

Und die haben Sie unter Pseudonymen eingereicht?

Nein, das waren keine Pseudonyme. Ich habe Berliner Bekannte angesprochen, alle – außer mir – keine ausgewiesenen Künstler, aber alle hatten einen festen Wohnsitz, das waren also Decknamen und Deckadressen, damit das formal richtig laufen konnte.

Und das hat funktioniert?

Ja, alle zwölf Arbeiten waren, wie gesagt, in der Ausstellung und auch im offiziellen Katalog: besagter Briefmarkenbogen, ein Schnittmusterbogen, Fahndungsplakate, Anziehpuppen, Millimeterpapier und ein Einweckglas mit Erdkügelchen von Bleistiftanspitzern – wie Klaus Staeck es später zugegebenermaßen (unter dem Titel „Neue Ernte“) nachgemacht hat.

Wann haben Sie aufgelöst, dass die Arbeiten alle von Ihnen waren?

Im Katalog sind die Namen derjenigen, die die Arbeiten eingereicht haben, alphabetisch aufgelistet. Unter meinem Namen liefen das Einweckglas mit den kleinen Globen, betitelt als „Permanente Weltausstellung“, und ein ausgefülltes Anmeldeformular – als eigenständiges Werk –, verkauft mit Rahmen für zehn Pfennig.

Wenn bekannt gewesen wäre, dass die von Ihnen sind, wären sie ja nicht alle zwölf gezeigt worden?

Da wäre ich nicht so sicher. Juristisch war alles wasserdicht, einwandfrei. In meiner eigenen Gesamtliste waren alle Namen aufgeführt, meiner als der des Über-Autors.

Was heißt denn „Ihre Liste“?

Ich hatte ein zweiseitiges hektografiertes Verzeichnis mit dem Titel „Muster ohne Wert“ vorbereitet.

Und das haben Sie dort ausgelegt?

Das habe ich zur Eröffnung verteilt.

Das heißt, Sie haben bei der Eröffnung offengelegt, dass alle zwölf Beiträge von Ihnen stammten?

Ja, ich habe das sogar theoretisch fundiert: als „transponierte Kunstwerke“. Jedenfalls habe ich aus der kleinen KP-Brehmer-Briefmarken-Affäre keinen Skandal gemacht, sondern Brehmer und Block kurz mitgeteilt, ich fände es nicht so aufregend, nun auch mit Briefmarken nachzuziehen. Und zur Versöhnung hat KP Brehmer die Timm-Ulrichs-Marke als Jahresgabe für den Kunstverein Hannover entworfen, und ich habe sogar die Vorlage geliefert, die der mit mir befreundete Pressefotograf Herbert Rogge gemacht hat. Eine kleine Boshaftigkeit liegt womöglich darin, dass Brehmer den geringsten Markenwert, fünf Pfennig, gewählt hat, oder er wollte zeigen: Der Kunstwert ist unabhängig vom Nennwert.

Fühlten Sie sich zu irgendeiner Bewegung besonders hingezogen? Interessierten Sie sich zum Beispiel für den Wiener Aktionismus Der Wiener Aktionismus war eine Kunstbewegung, die ab den frühen 1960er-Jahren in Wien entstand. Traditionelle Gattungsgrenzen wurden unter Einsatz des menschlichen Körpers als Teil des Kunstwerks – häufig traten die Künstler selbst in Aktion – aufgebrochen. Mit ihren zum Teil provokanten Arbeiten zielten die Künstler aus dem Umfeld des Wiener Aktionismus auf direkte Konfrontation mit ihrer Umwelt. Zu den bekanntesten Vertretern des Wiener Aktionismus zählen Günter Brus, Otto Muehl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler. ?

Die Wiener Aktionisten waren in Deutschland zunächst nur wenig bekannt. Peter Weibel sah ich zum ersten Mal im Januar 1970 bei meiner Ausstellungseröffnung in der Galerie nächst St. Stephan in Wien. Besser kennengelernt habe ich ihn bei den Dreharbeiten zum Film „Visuelle Poesie. Der Weg vom Gedicht zur Aktion“, den Klaus Peter Dencker für den Hessischen Rundfunk gedreht hat und der am 10, Mai 1972 gesendet wurde. Peter Weibel bewegt sich doppelt so schnell wie ich, redet doppelt so schnell und denkt wohl auch doppelt so schnell. Ich bin da viel gemächlicher. Aber trotz des Tempos: Man kann einfach nicht ein riesiges Œuvre haben, mehrere Professuren gleichzeitig wahrnehmen und auch noch so ein großes Schiff wie das ZKM Karlsruhe navigieren. Aber er versucht es – mit Bravour. Wir haben ein sehr gutes Verhältnis zueinander, und im Katalog von Ingolstadt schrieb er über mich, ich sei „einer der größten und prototypischsten Künstler des 20. Jahrhunderts.“ Peter Weibel, „Timm Ulrichs oder der Künstler als Erzeuger von Schemata“, in: „Timm Ulrichs. bilder finder. bild erfinder“, Ausst.-Kat. Museum für Konkrete Kunst Ingolstadt, Bielefeld 2013, S. 18–25, hier S. 22. Besser gehts nicht, kurz und bündig, und das sollte mir 1.000 Euro wert sein. Peter Weibel ist eine Autorität, bewundernswert.

Zu den zentralen Figuren des Wiener Aktionismus hatte ich aber wenig Kontakt. Einmal habe ich Otto Muehl im Sinkkasten, einem Jazzkeller in Frankfurt, erlebt. Er hat auf den Köpfen von Frauen ein paar Eier zerschlagen, ziemlich lustlos, woraufhin das Publikum ihn aufforderte: „Otto, piss doch endlich!“ Und dem ist er dann nachgekommen, ich war davon nicht besonders erbaut. In Braunschweig gab es dann noch die Aktion „O Tannenbaum“ Otto Muehl, „O Tannenbaum“, Aula der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, 17. Dezember 1969. Siehe hierzu auch: http://www.zeit.de/1970/02/das-schwein-von-braunschweig (eingesehen am 24.04.2018). – das war 68 oder 69. Ich erinnere mich auch noch blass an ein Konzert von Hermann Nitsch.

Der Einzige aus dieser Gruppe – wenn es denn eine war –, der mich wirklich interessiert, ist Günter Brus, den ich des Öfteren in Graz getroffen habe. Er hat immer alles mit sich selbst abgehandelt und brauchte keine Akteure, die er missbrauchen und ausbeuten konnte, wie es bei Muehl der Fall war, auch keine devoten Jünger wie Nitsch, dessen Aktionen immer etwas Sektiererisches an sich hatten. Günter Brus allein hat seine Erfahrungen nur am eigenen Leibe gemacht, knallhart und präzis. Oswald Wiener erschien einige Male als gelangweilter Teilnehmer beim „Bielefelder Colloquium Neue Poesie“, das 25 Jahre lang von Klaus Ramm und Jörg Drews organisiert wurde. Und auch mit Gerhard Rühm hatte ich vielfach Auftritte. Aber da bin ich schon bei der Wiener Gruppe Die Literaten und Sprachkünstler der Wiener Gruppe gelten als Mitbegründer der Konkreten Poesie. Sie orientierten sich an den Texten der Dadaisten und Surrealisten sowie an der Sprachkritik Ludwig Wittgensteins. Die Mitglieder Friedrich Achleitner, H.C. Artmann, Konrad Bayer und Oswald Wiener verband die Suche nach progressiven Sprachformen, die unter anderem Dialekte, Musik und gemeinschaftliche Schreibpraxen miteinbezog. . Rühm ist noch immer erstaunlich in Form. Zu Ernst Jandl hatte ich, so darf ich wohl sagen, ein beinah freundschaftliches Verhältnis.

Wann sind Sie Daniel Spoerri das erste Mal begegnet?

1964 bin ich ihm beim schon erwähnten „Gag-Festival“ in Berlin begegnet. Dort zeigte er materialisierte Sprichwörter und Redewendungen. Auf seine „Fallenbilder“, diese Tischplatten mit den Essensresten, war ich zugegebenermaßen eifersüchtig. Aber was mich an Spoerri, auch an KP Brehmer und den meisten Künstlerkollegen stört, ist, dass sie, wenn sie einmal ein Erfolgsrezept gefunden haben, allzu lange bei ihren Leisten bleiben. Bei Spoerri sind es die „Fallenbilder“, bei Brehmer die Briefmarken: Immer diese Wiederholungen! Besonders mokiere ich mich über Günther Uecker, auch wenn er von den ZERO-Leuten der Interessanteste ist. Stellen Sie sich vor, wie viele Nägel der in seinem Leben eingeschlagen hat: Abertausende, Millionen! In meinen Augen Strafarbeit, Sträflingsarbeit, und das freiwillig, in eigener Sache. Für mich unvorstellbar.

Für ihn ist das Nägel-Einhämmern möglicherweise genauso wie für andere das Arbeiten mit dem Pinsel. Das ist sein Werkzeug, sein Material.

Im Prinzip habe ich ja nichts gegen solches Handwerk. Aber Tausende solcher Nagelbilder herzustellen mit Hunderten oder Tausenden von Nägeln, das würde mich krank machen. Sie kennen Charlie Chaplins Film „Moderne Zeiten“? Chaplin läuft nach getaner Fließbandarbeit auf die Straße und will den Frauen mit dem Schraubenschlüssel die Knöpfe am Kostüm festziehen – so sehr hat er die gleichbleibende, eintönige, stupide Fabrikarbeit verinnerlicht.

Es gibt nicht wenige Menschen, die in Fabriken arbeiten.

Ja, schlimm genug. Wenn auch Künstler ohne Zwang sich zur Routinearbeit verpflichten, ist das für mich ein Grund zur Verachtung. Wo bleibt da die viel zitierte künstlerische Freiheit? Ich wiederhole mich lieber nicht und halte mich an mein Vorbild, Herman Melvilles Schreiber Bartleby: „Ich würde vorziehen, es nicht zu tun.“ Wenn Sie als Forscher, als Wissenschaftler, eine Versuchsanordnung aufbauen, muss die zwar so beschaffen sein, dass sie wiederholbar ist, damit sie im Wissenschaftsbetrieb überprüft, verifiziert und anerkannt werden kann, Sie müssen sie aber nicht selbst wiederholen; wenn Sie eine Erfindung oder ein Werkstück machen und ans Patentamt liefern wollen, reicht eine Werkzeichnung, ein Modell. Sie melden Ihre Forschungsergebnisse an, lassen sie schützen, und andere können sie (re)produzieren. Sie müssen das nicht alles selbst in Serie fertigen.

Das muss ja jeder für sich selbst entscheiden.

Nein, das muss man nicht. Diese angebliche Wahlfreiheit überlasse ich keinem Künstler, der etwas auf sich hält. Sie widerspricht fundamental meiner Definition des freien, freischaffenden Künstlers. Man erschafft Kunst, weil man sich von der Fron zur Reproduktion befreien will. In der Bibel steht zwar: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.“ Aber muss das heute noch gelten? Wir sind endlich so weit, dass wir uns der üblen Religionen entledigen könnten. Ob Christentum, Judentum oder Islam: Für mich sind das alles Instrumente der Herrschaft zur Unterdrückung und Entmündigung des Menschen, alle gleich furchtbar. Das geht schon los beim Rosenkranzbeten: Da wird ja immer dieselbe Tour gemacht, als Einübung in Gehorsam und Unterwürfigkeit. Und derartige Konditionierungen setzen sich in der Fabrikarbeit und leider auch in den Ateliers mancher Künstler fort. Dabei weiß ich durchaus: Es gibt lebensnotwendige Rhythmen und Wiederholungen. Das Herz schlägt pausenlos, auch das Atmen erfolgt unentwegt, aber das erfolgt unbewusst. Dass man aber bewusste, geistige Arbeit zur ständigen Repetition diszipliniert, verstößt total gegen den Gedanken des freien, selbstbestimmten Autors. Daher gefiel mir Dieter Roth so gut: Weil er sich nie sehr lange mit irgendwelchen Dingen aufgehalten hat, sondern sich immer wieder Neues vornahm. Aber die Waren produzierenden Sklavennaturen unter den Künstlern, die sich dem fordistischen Prinzip der Serienproduktion unterwerfen und von morgens bis abends immer das Gleiche tun, die kann und will ich nicht akzeptieren. Karl Marx’ antispezialistischer „totaler Mensch“ trifft hier auf meine Praxis totaler Kunst, die das Abenteuer sucht.

Sie stellen seit den 60er-Jahren öffentlich aus. In dieser Zeit hat es nicht nur verschiedene wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Krisen und Hochzeiten gegeben. Haben Sie feststellen können, dass sich das in irgendeiner Weise auf die Rezeption oder das Interesse an Ihren Arbeiten auswirkt?

Meine Ausstellungstätigkeit hat sich hauptsächlich in Kunstvereinen abgespielt, da diese keine kommerziellen Aspekte verfolgen, um etwas für ausstellungswürdig zu befinden. Auch habe ich an zahlreichen Gruppenausstellungen in Museen teilgenommen, weil ich mit meinen Arbeiten so viele Themen berührt habe, die eines Tages museal relevant wurden. Ich habe einigen Museumsleuten gesagt: „Wenn Sie ein Thema behandeln wollen, denken Sie an mich. Denn bis Sie als Kunsthistoriker auf ein Thema kommen, habe ich es doch schon längst einmal im Kopf bewegt.“ Leider sind meine vielen Ausstellungen allzu sehr auf Deutschland begrenzt geblieben.

Und es gab gar keine Sammler, die sich für Ihre Arbeit interessiert haben?

Einige meiner frühen Sammler sterben jetzt, und dann geraten manche Arbeiten wieder in Auktionen und auf den Markt – Kleinkram. Richtig kompetente und potente Sammler hatte ich nie. Ich möchte auch gar nicht an Privatleute verkaufen, weil ich dann nicht weiß, was mit meinen Werken geschieht. Die Großsammler kommen ohnehin nicht, da ich nicht in deren Kanon passe. Hubert Burda besaß mal ein „bildrückseitenbild“ Timm Ulrichs, „bildrückseitenbild“, 1961/68. Auflage: 50 nummerierte und signierte Exemplare (Originale in Serie), stolpeverlag, Berlin 1968. (für 88 D-Mark) von mir, das hat er aber wieder verscheuert. Die Tochter des vor ein paar Jahren verstorbenen Restaurators und Sammlers Siegfried Cremer habe ich gefragt: „Was ist denn aus meinem ‚rückseitenbild‘ geworden, das Ihr Vater besessen hat?“ – „Das hat er verkauft, um mir ein Paar Schuhe zu kaufen.“ Was ich damit sagen will: Meine Denkmodelle und Versuchsanordnungen sind für die Öffentlichkeit, also für die Museen bestimmt und nicht als Marktware konzipiert. Aber selbst mit Museen musste ich deprimierende Enttäuschungen erleben. Als Paul Wember gestorben war, kamen Gerhard Storck und Julian Heynen an die Krefelder Museen, und sie wollten natürlich alles anders und besser machen als ihr legendärer Vorgänger. Sie riefen mich damals an: „Hier stehen noch Sachen von Ihnen herum. Holen Sie die ab, sonst werden sie entsorgt.“ Es handelte sich um meine Bäume mit Tarnfarben-Anstrich Timm Ulrichs, „Natur-Teile (3 Baumstämme) mit Tarnfarben-Anstrich (1. und 2. Natur)“, 1968–70. , die sich mittlerweile in der Kunsthalle Mannheim befinden. In Krefeld wurden sie ausgemustert, obwohl sie jahrelang in der Schausammlung zu sehen waren. Offenbar hatte Paul Wember versäumt, sie ordentlich zu inventarisieren. Eine andere Arbeit von mir, die „Visualisierten Druckverhältnisse“ Timm Ulrichs, „Visualisierte Druckverhältnisse“, 1970. , haben die beiden Herren gar auf den Müll geworfen, ohne mich zu verständigen. Das also ist meine Lage: Qualifizierte, verantwortungsbewusste Sammler kenne ich nicht, und die Museen kaufen nichts von mir, auch Ihr Städel Museum hat kein einziges Stück. Selbst, wenn ich Ihnen etwas würde schenken wollen, würden Sie sich eine Annahme zehnmal überlegen.

Die Kunstszene hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten natürlich dahingehend verändert, dass die Museen wegen mangelnder Ankaufsetats nichts mehr kaufen können, und die Privatsammler sind keine Mäzene mehr, die die Museen unterstützen könnten, sondern machen lieber eigene Museen auf, die sie zu eigenem Ruhm und Preis mit ihren Namen verknüpfen. So macht es auch Harald Falckenberg, von dem die Hamburger Kunsthalle und die Deichtorhallen abhängen. Er kassiert, soweit ich weiß, jährlich 400.000 Euro dafür, dass er der Stadt seine Sammlung leihweise zur Verfügung stellt. Wohlgemerkt: Er tritt kein Werk endgültig ab, er verschenkt nichts. In einer Diskussion im NDR habe ich ihm das zum Vorwurf gemacht. Das Sammeln von Kunst und die Deutungshoheit haben sich von den Museen auf einige reiche Privatleute verlagert, siehe auch das Modell Würth. Sie kennen vielleicht noch den Wettlauf um Holbeins Schutzmantelmadonna Hans Holbein der Jüngere, „Madonna des Bürgermeisters Jakob Meyer zum Hasen“ (gen. Darmstädter Madonna), 1525/26. , um die sich die Staatsgalerie Stuttgart bemüht hatte. Würth, dieser nimmermüde, unersättliche Vielfraß, hat sie im letzten Augenblick weggeschnappt. Er kauft sowohl das, was man unbedingt kaufen sollte, als auch jenes, was alle kaufen. Ob er Intelligenz und Urteilsvermögen besitzt, kann ich nicht beurteilen, nur eines weiß ich sicher: Er verfügt über unendliche Geldmittel. Zu den Kunstmessen werden mittlerweile sammelnde Milliardäre und Millionäre eingeflogen, in den besten Hotels untergebracht – alles gratis - und durch die Galerien geschleust, damit sie sich dort alle mit demselben Zeugs der immer gleichen Namen eindecken. Man geht mit Listen herum, wie einst schon der Pralinen-Ludwig, der bekannte, er kaufe aus Willi Bongards „Capital“-Tabelle Willi Bongard (1931 Alendorf – 1985 Nürnbrecht) erfand 1970 den „Kunstkompass“, ein Ranking der zeitgenössischen Künstler, das bis heute jährlich veröffentlicht wird. nur die ersten zehn der angesagtesten Hot Hundred. So geht das Geschäft zwischen Großsammlern, Großgaleristen und Großkünstlern. Darüber hat Bazon Brock gestern auch gelästert. Wenn Sie zur Party am Maidan-Platz in Kiew eingeladen werden, treffen Sie Andreas Gursky und all die anderen.

Bei Victor Pinchuk Victor Pinchuk (* 1960 Kiew) ist ein Multimilliardär und Oligarch. Er gründete 2006 das Pinchuk Art Centre für zeitgenössische Kunst in Kiew. Seine Sammlung umfasst unter anderem Werke von Olafur Eliasson, Andreas Gursky, Damien Hirst, Jeff Koons und Ai Weiwei. .

Ja, bei Herrn Pinchuk. Mein früherer Freund Eckhard Schneider, mit dem ich 1980/81 in Nordhorn meine Aktion „Der Findling“ realisiert habe, erhielt, wie ich hörte, als Berater fast eine Million Euro im Jahr. Und er empfahl: „Kaufen Sie Damien Hirst! Kaufen Sie Jeff Koons!“

Für die Sammlung, die Victor Pinchuk aufbaut, braucht man eigentlich keinen Berater.

Allerdings. Es klingt sehr zugespitzt, was ich sage. Aber die Maßstäbe im Kunstbetrieb haben sich in der Tat sehr verschoben. Um deutlich zu machen, wie radikal sich die Lage verändert hat, möchte ich Ihnen noch ein weiteres Beispiel geben, eine sehr persönliche Beobachtung: Ich hatte 1970 bei Philomene Magers in Bonn eine Einzelausstellung, die sie in ihrem Privathaus veranstaltete. „Timm Ulrichs. Die Zeitungsannonce als Kunstwerk 1964/74“, Galerie Magers, Bonn, 29. März – 28. April 1974. Verkauft wurde nichts, wie zu erwarten war. Zum Abschied schenkte ich ihr eine kleine Arbeit. So weit, so gut. Die Tochter sieht aus wie die Mutter, sie ist ihr gleichsam aus dem Gesicht geschnitten. Aber zwischen Mutter und Tochter liegen Welten, da offenbaren sich mir ganz unterschiedliche Mentalitätsgeschichten. Die ältere Philomene Magers hat sich für Künstler eingesetzt, die noch nicht etabliert waren, etwa für Videoleute, die in den 60er- und 70er-Jahren Neues ausprobiert haben, oder für mich auf meinem verlorenen Posten. Das Verhältnis zwischen dieser liebenswürdigen Dame und ihren Schützlingen war stets sehr freundschaftlich und herzlich. Die jüngere Frau Magers kenne ich nicht persönlich. Sie agiert auf internationalem Parkett in Berlin, London und Los Angeles, und sie hat nur risikolose, marktgängige Künstler im Programm, die das große Geld versprechen: Sie macht damit Millionenumsätze. Diese Veräußerlichung und Veräußerung sind extrem und im Grunde kunstfeindlich. An diesem Generationswechsel lässt sich der Wandel demonstrieren: Hier die Kunstliebhaberin, dort die Kunsthändlerin. Leider wird meine Kritik nichts ändern, die Lage wird sich noch verschärfen.

Gibt es noch etwas, über das wir noch nicht gesprochen haben und das Sie in diesem Kontext unbedingt erwähnen möchten?

In meinem Ingolstädter Katalog gibt es eine Widmungsseite, auf der ich meinen Eltern meinen Dank abstatte und Kurt Sohns’, Max Benses und Elisabeth Walthers, Klaus Hoffmanns und Carl Vogels ehrend gedenke, und ich weise nachdrücklich auf die Begegnung mit Paul Wember hin. Daneben muss ich noch einen zweiten, lebensentscheidenden Glücksfall nennen: Nämlich dass es mir 1972 gelang, eine Professur an der Kunstakademie Münster zu erlangen: Ein wahrer Überraschungscoup! Die Konkurrenz war groß, und ich hatte außer der Krefelder Ausstellung noch nicht allzu viel vorzuweisen. Dieser Erfolg war meine Rettung; der gutachtende Amtsarzt hatte noch gewarnt: „Herr Ulrichs erschien in verwahrlostem Zustand und ohne Socken.“ Ohne diesen neuen Beruf als Hochschullehrer, ausgestattet mit festem Gehalt, wäre ich wohl im Laufe der Jahre umgekommen. Bis heute habe ich noch in keinem Jahr mit Kunst Geld verdienen können.

War die Professur primär eine Sicherung Ihres Lebensunterhalts oder betrachten Sie die Lehre auch als Teil Ihres Werks?

Wenn es heißt, etwa bei Adolf Hölzel: „… aber er war ein guter Lehrer“, ist damit gemeinhin ein Makel, ein Mangel an künstlerischer Potenz gemeint. Man kann natürlich, wie Bazon Brock, in der Hoffnung, damit durchzukommen, sagen, die Lehre sei das Werk. Ein anderes Beispiel: der Rattenfänger und Schwadroneur Joseph Beuys. Meine akademische Heimat, die Kunstakademie Münster – vormalig das Institut für Kunsterzieher Münster der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf – geht ja indirekt auf Beuys zurück. Gegründet wurde sie vom nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Johannes Rau, als die Düsseldorfer Akademie durch Beuys’ Verhalten, Hundertschaften ins Haus zu holen, nicht mehr arbeitsfähig war. Rau hat Beuys gefeuert, Nachdem 1972 ein neues Zulassungsverfahren an der Akademie eingeführt worden war, besetzte Beuys mit einigen seiner Studenten das Hochschulsekretariat. Der im Zuge dessen erteilten Entlassung durch den nordrhein-westfälischen Wissenschaftsminister Johannes Rau begegnete Beuys mit einer langjährigen Klage vor dem Bundesarbeitsgericht. In dem ihm gerichtlich auf Lebenszeit zugesprochenen Raum 3 der Düsseldorfer Kunstakademie initiierte Joseph Beuys 1973 gemeinsam mit Willi Bongard, Georg Meistermann und Klaus Staeck die Freie Internationale Universität (FIU), die als freie Hochschule das bestehende Bildungssystem ergänzen sollte. Die FIU bestand bis zwei Jahre nach dem Tod von Joseph Beuys im Jahr 1986. zu Recht, würde ich sagen. Von den Düsseldorfer Professoren haben nur Erwin Heerich und der Wahrnehmungspsychologe Walter Warnach dafür gestimmt, Beuys wieder einzusetzen, alle anderen waren dafür, dass er endlich verschwindet. Ich habe in unserem Ausweichlager Münster etliche Studenten aus der Konkursmasse von Beuys übernommen, denen er nie ein persönliches Korrekturgespräch gewährt hat. Sie merken schon: Joseph Beuys und sein irrational-mystizistisch-anthroposophisches Gehabe werden mir immer fremd und befremdlich bleiben. Als Hochschullehrer habe ich mich nie in den Vordergrund spielen wollen und mich stets nur als eine Art Spielertrainer verstanden. Immerhin war ich 33 Jahre in Münster, und ich war gern dort. In einem Buch mit dem Titel „Wer war das!“ „Wer war das! Ein Bestimmungsbuch der Klasse Timm Ulrichs an der Kunstakademie Münster 1972 bis 2005“, hg. von Timm Ulrichs und Ferdinand Ullrich anlässlich der Ausstellung „Mit offenem Ende“, Kunsthalle Recklinghausen, 24. Juli – 11. September 2005 und Kunstverein Ingolstadt, 08. Oktober – 27. November 2005. , veröffentlicht zum Ende meiner Lehrtätigkeit, sind alle verzeichnet, die sich je in meiner Klasse eingeschrieben haben. Wer will, kann sich anhand dieser Anthologie ein Bild machen über die Qualität meiner Forschung und meiner Lehre.

So gern und intensiv ich mit meinen Studenten diskutiert haben mag, die Herstellung eigener Werke wurde dadurch natürlich eingeschränkt. Gestern, bei der Tagung über Künstlernachlässe, hat jemand über die Rolle der Galerie Möller im Dritten Reich referiert und darüber, was die Nazis von Ernst Ludwig Kirchner alles konfisziert haben. Kirchner hat schon als junger Mann, mit 30, 40 Jahren, Hunderte von Bildern in den Museen unterbringen können. Wenn die Nazis wiederkämen, um die Museumsdepots zu filzen, würden sie von mir fast nichts finden. Zwar könnte ich ein „entarteter“ Künstler sein, es gäbe aber kaum „entartete Kunst“ von mir. Daran muss sich, muss ich, noch etwas ändern. Ich könnte ja beispielsweise meine Sachen verschenken. Aber wer nimmt sie? Was keinen Preis hat, kann auch keinen Wert haben. Schon Oscar Wilde hat in seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ festgestellt, dass die Leute von allen Dingen den Preis kennen, aber nicht den Wert. Und das trifft sich mit den eingangs erwähnten Thesen von Bazon Brock. Das hat zur Folge, dass sich in unseren Museen nur teure Kunst findet, woraus wiederum folgt, dass alle sich gleichen, überall dieselben Angebote, wie in den Aldi- und Lidl-Märkten. Sie können sich ja mal die Frage stellen, warum am heutigen Tag meines Wissens in keinem deutschen Museum auch nur eine Arbeit von mir gezeigt wird. In Ihrem Haus habe ich noch niemals ausgestellt. Also was tun? Verschenke ich meine Werke – vorausgesetzt, jemand nimmt sie –, versteuert das Finanzamt sie als unzulässige „Einnahme aus Betriebsvermögen“. Ich zahle also noch drauf. Und verkaufe ich nicht und nichts, bedrängt das Finanzamt mich wegen der „nichterkennbaren Gewinnabsicht“, stuft mich als „Hobbykünstler“ und meine Kunst als „Liebhaberei“ ein, sodass ich steuerlich nichts absetzen kann. Was man macht und wie mans macht: Es ist immer verkehrt. Jetzt versucht die Berliner Galerie Wentrup wieder einmal unser Glück und nimmt meine Skulptur „von null bis unendlich“ Timm Ulrichs, „von null bis unendlich (from here to eternity)“, 1986. mit auf eine Messe in den USA, eine, wie ich denke, raffinierte Arbeit, auf die man erst mal kommen muss. Nicht einmal Olafur Eliasson fällt so etwas ein, es sei denn, er hätte vorher bei mir nachgeschlagen, er ist ja ohnehin ein großer Kompilator.

Ich habe dem Chef der Nationalgalerie, Udo Kittelmann, vor zwei Jahren meinen Ingolstädter Katalog mit dem schönen Tarnmustereinband überreicht, und zwar bei der Eröffnung seiner Ausstellung „Erweiterung der Kunstzone“ oder wie die hieß.

„Ausweitung der Kampfzone“ „Ausweitung der Kampfzone. 1968–2000. Die Sammlung Teil 3“, Neue Nationalgalerie, Berlin, 08. November 2013 – 31. Dezember 2014. .

Das ist doch ein Titel von Houellebecq. Wie hieß die Ausstellung?

Genauso!

Da hing im ersten Raum ein großes Tarnstoffbild Andy Warhol, „Camouflage“, 1986. von Andy Warhol aus der Sammlung Marx. Dass ich 23 Jahre früher mit dem Tarnmuster begonnen und damit viele unterschiedliche Werke geschaffen habe, interessiert aber leider nicht. Kittelmann sagte nur: „Bedauerlicherweise haben wir nichts von Ihnen.“ Dem Manne könnte so leicht geholfen werden: Er müsste nur mal in seine Portokasse greifen. Vielleicht können Sie mir ein paar gute Ratschläge und Tipps geben, was zu tun ist. Und ich gebe Ihnen im Gegenzug gern Interviews. Aber ich nehme an, das wird alles nichts bringen.

Was heißt „nichts bringen“? Vielleicht bringt es den nachfolgenden Generationen etwas.

Hoffentlich habe ich auch noch etwas davon.

Noch ein Keks gefällig?

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Timm Ulrichs