Bin bereit, bin bereit, bin bereit. Sie fragen, ich antworte. Wir können loslegen.
Ich weiß auch nicht, warum ich bei Ihnen zugesagt habe. Höchstwahrscheinlich aufgrund Ihres Alters: Wenn ich mich richtig erinnere, sind Sie 32? Meine Tochter ist 35, und ich dachte: Wenn deine Tochter so ein Projekt machen würde, würdest du auch helfen.
Ihre Fragen, das fällt mir jetzt auf, gehen natürlich von heute aus. Als hätten wir damals Strategien entwickelt! Das haben wir nicht, zumindest ich habe keine Strategien entwickelt, sondern man machte die Dinge einfach. Man fand sich irgendwo zusammen und dachte: „Das muss jetzt gemacht werden, wir wollen das machen!“ Und dann wurde es umgesetzt.
Durch meine beiden Töchter und durch meine Enkel weiß ich, dass die historischen Gegebenheiten durcheinandergeraten können. Und auch, dass vieles heute nicht mehr vorstellbar ist.
Wenn man heute zurückblickt, ist das Verständnis für das, was damals war, schwierig. Denn man hat keine Vorstellung mehr davon, was wirklich war. Wenn ein Künstler heute sagt, wie ich das ja damals getan habe: „Man fängt noch mal von vorne an“, dann wäre das heute einfach eine etwas unverständliche Attitüde, eine Allüre sogar oder eine Macke. Aber damals musste man sich gar nicht bemühen, von vorne anzufangen: Man musste von vorne anfangen, weil nichts da war. Es war in Deutschland eine besonders eigene Situation. Es war ja nicht nur eine äußerliche Zerstörung geschehen, sondern es waren auch alle Lehrer weg, alle Helden waren weg, alle großkopferten Künstler waren weg. Nicht nur, dass sie nicht mehr physisch da waren, sie waren auch ausgelöscht in der Literatur.
Überall hieß es immer: der Krieg, 1945, die Stunde null. Und danach geht es voran. Wir hätten statt 1939 auch 37 beginnen können, das wäre das Datum der Ausstellung „Entartete Kunst“ Die Bezeichnung „Entartete Kunst“ steht für eine ideologische Strategie der Nationalsozialisten, die vorsah, alle Kunst in Deutschland, die den faschistischen, propagandistischen und politischen Zielen der NSDAP nicht diente, zu unterdrücken. Ab 1933 wurden Werke in Ausstellungen öffentlich denunziert. 1937 wurde Adolf Ziegler, Präsident der Reichskammer der Bildenden Künste, von Joseph Goebbels ermächtigt, Kunstwerke aus den Museen einzuziehen. Im gleichen Jahr fand in den Münchener Hofgartengebäuden die Ausstellung „Entartete Kunst“ statt, die im Anschluss bis 1941 durch weitere Städten tourte. Dort wurde die gesamte moderne Kunst verhöhnt. Insgesamt wurden etwa 16.000 Werke der Malerei, Skulptur und Grafik beschlagnahmt, zahlreiche wurden zerstört oder verkauft. Viele Künstler erhielten ein generelles Ausstellungs- und Malverbot. gewesen. Aber wir haben mit dem Kriegsbeginn 39 angesetzt, um zu zeigen, aus welcher Phase, aus welcher geschichtlichen Umwälzung die Nachkriegskunst kommt. Wir haben nicht nur die gezeigt, die damals jung und neu waren, sondern auch die Entwicklungen der schon älteren Künstler. Die wichtigen Künstler, auch Nicht-Deutsche, waren aus Deutschland geflohen oder als „entartet“ aus dem System entfernt worden.
Man lernte das normale Leben unter Gesichtspunkten zu betrachten, wie permanente Bürgerkriege, permanente Auseinandersetzungen im Kampf um die Ressourcen, Kampf um Vorherrschaften etc. Das heißt, der Frieden war nicht plötzlich der paradiesisch andere Zustand nach Zero, nach der Stunde null, sondern es war die Fortsetzung. Und da wurde man natürlich schon sehr skeptisch im Hinblick auf die große Vision: Nach 1945 ist alles anders. Oder nach 1949, nach der Grundgesetzverabschiedung, Das deutsche Grundgesetz wurde am 23. Mai 1949 erlassen und trat am darauffolgenden Tag in Kraft. Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus zeichnet sich die neue Verfassung vor allem durch eine Betonung und Sicherung von Grundrechten im demokratischen und rechtsstaatlichen Sinne aus. Siehe auch: Christian Bommarius, „Das Grundgesetz. Eine Biographie“, Berlin 2009. ist alles anders, da ist Deutschland plötzlich völlig anders, da gibt es ganz andere Menschen … das stimmte alles gar nicht.
Wir waren ja als „Nach-Beuys-Generation“, so nenne ich das jetzt mal, keine Täter, wir waren aber auch keine Opfer. Wir hatten etwas, wir waren vollständig unschuldig, zählten trotzdem zu den Tätern und konnten uns gar nicht verteidigen, weil wir gar nicht wussten, was man tun muss, um Täter zu sein. Wir hatten keine Ahnung, wie man Täter wird. Wir waren frei von jedem Gedanken daran, wir mussten das nicht entscheiden, denn wir waren einfach die Kinder.
Wenn ich an die 30er-Jahre, als ich geboren wurde, an die ersten Jahre meiner Kindheit denke, kann ich mich nur an Sonne erinnern. Meer, Sonne, Singen und Fröhlichkeit. Mit dem Krieg kamen Düsternis, Bomben und Fliegeralarm. Pausenlos waren wir im Keller, es gab Luftangriffe und tote Verwandte. Und – das ist der Bruch in der Kunstgeschichte – die Künstler, die in den Krieg mussten. Die sind anders als die, die nicht mehr mussten. Das ist manchmal nur ein Altersunterschied von fünf Jahren, aber es ist eine völlig andere Ausgangssituation. Joseph Beuys hat Flugzeuge geflogen und Bomben abgeworfen, Joseph Beuys (1921 Krefeld – 1986 Düsseldorf) wurde ab 1940 in Posen zum Bordfunker ausgebildet. Zwischen 1941 und 1943 folgte unter anderem eine Weiterbildung zum Fliegerschützen in Foggia. Ab Dezember 1943 diente Beuys auf der Krim im Süden Russlands, wo er dem Sturzkampfpiloten Hans Laurinck zugeteilt war. 1961 konstatierte Beuys: „[D]er allgemeine Ausdruck Sturzkampfflieger [ist] angebracht, da ich alle Sparten der Waffengattung durchgemacht habe; Funker ist falsch.“ Zit. n. Heiner Stachelhaus, „Joseph Beuys“, Düsseldorf 1988, S. 24. Zu den unterschiedlichen Darstellungen der Kriegseinsätze in der Beuys-Literatur siehe: Hans-Peter Riegel, „Beuys. Die Biographie“, Berlin 2013, S. 47 ff.; Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas, „Joseph Beuys. Leben und Werk“, Köln 1986 (3. Auflage), S. 22 f., und Stachelhaus 1988 (wie oben), S. 21 ff. Otto Piene war Flakhelfer, Otto Piene (1928 Laasphe – 2014 Berlin) war ein deutscher Künstler und Mitbegründer der ZERO-Bewegung. Von 1943 bis 1945 war er Flakhelfer der deutschen Wehrmacht. Vgl. Heinz-Norbert Jocks/Otto Piene, „Otto Piene. Das Gold namens Licht“, in: Heinz-Norbert Jocks (Hg.), „Das Ohr am Tatort. Heinz-Norbert Jocks im Gespräch mit Gotthard Graubner, Heinz Mack, Roman Opałka, Otto Piene, Günther Uecker“, Ostfildern 2009, S. 91–116, hier S. 92. Karlheinz Stockhausen hat Verwundete rausgetragen Karlheinz Stockhausen (1928 Mödrath – 2007 Kürten) war ein deutscher Komponist und Musiktheoretiker, der mit seiner seriellen Kompositionstechnik sowie dem Einbezug elektronisch erzeugter Klänge wesentlich zur Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert beitrug. Als künstlerischer Leiter arbeitete er von 1963 bis 1977 im Studio für Elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln und gab parallel Seminare bei den Darmstädter Ferienkursen. Stockhausens kompositorischer Ansatz zeichnete sich durch eine innovative Verbindung von Musik, Raum und Live-Elementen aus. Zu seinen wichtigsten Werken zählen „Kontra-Punkte“ (1953), „Gesang der Jünglinge“ (1956) sowie „Elektronische Studien I und II“ (1964). Von 1967 bis 1973 lebte Stockhausen mit Mary Bauermeister in einer Ehe, aus der zwei Kinder hervorgingen. Er war während des Zweiten Weltkriegs (ab Herbst 1944) Krankenträger im Notlazarett Schloss Bedburg. Vgl. Mary Bauermeister, „Ich hänge im Triolengitter. Mein Leben mit Karlheinz Stockhausen“, München 2011, S. 43. . Diese Schicksale, die die einzelnen Künstler, egal welcher Sparte, persönlich erlebten, prägten die Kunst in der Nachkriegszeit.
Joseph hat nie darüber geredet – denn er war ja Täter. Er hat darüber geredet, dass die Tartaren ihn in Filz eingewickelt hatten, so was hat er erzählt. Aber dass er dahin geflogen ist und die Leute dort erst einmal totgeschossen hat, darüber hat er nie ein Wort verloren. Es gibt inzwischen eine ganze Menge Biografien, in denen nichts darüber steht, null. Und das ist doch verwunderlich. Bei meinem Vater war das anders. Wenn der auf Urlaub war, gab es die SA-Mütze, Pistolen: Er war Nazi.
Mein Vater war Offizier bei der Wehrmacht – erst in Kassel und dann bei der Organisation Todt Die Organisation Todt (OT) war eine paramilitärische Einheit im Zweiten Weltkrieg, die ab 1938 unter der Leitung des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition Baumaßnahmen in den von Deutschland besetzten Gebieten durchführte. Sie erweiterte unter anderem die Verteidigungsanlagen des Westwalls. Siehe auch: Franz W. Seidler, „Die Organisation Todt. Bauen für Staat und Wehrmacht 1938–1945“, Koblenz 1987. .
Mein Vater ist bereits 1939, sehr früh also, eingezogen worden und war dann entsprechend lange in Frankreich unterwegs. Meine Mutter blieb in Krefeld, um das kleine Haus zu unterhalten. Dort wurden auch Leute einquartiert, die ausgebombt waren.
1943, als die Bombardements immer bedrohlicher wurden, fuhren meine Mutter und ich ins Wartheland zu Verwandten väterlicherseits. Dort habe ich eine sehr intensive Kindheit gehabt. Im Sommer verbrachte ich Stunden am Wasser, um die eine oder andere Plötze zu angeln, ich rannte durch den Wald, und im Winter tobte ich auf dem Eis und fuhr Schlittschuh.
Dort verbrachten wir eineinhalb Jahre, dann gab es einen riesigen Bombenangriff auf Leipzig, Die im Herbst 1943 beginnenden Luftangriffe auf Leipzig richteten große Zerstörungen an. Der schwerste Angriff erfolgte am Morgen des 04. Dezember 1943. die ganze Stadt brannte, der Himmel war blutrot. Ich fand das sehr interessant, wusste nichts davon, wie tragisch das Ganze bei vielen endete, es gab ja Hunderte von Toten …
Nachdem die Bomber abgezogen waren – das Geräusch war so mächtig, dass man wusste, jetzt fliegen sie wieder nach Hause –, stand ich auf der Straße vor unserem kleinen Wohnhaus und habe diesen ganzen Lichterzirkus am Himmel beobachtet. Ich fand das faszinierend. Das war mein erstes großes Erlebnis mit Licht und Bewegung.
Manchmal gab es dreimal am Tag Bombenalarm. Wir sind nachts in den Bunker gegangen, da flogen die Bomben wie Erdbeben. Das war ein Lebens- und Todeslotto. Meine Großmutter hat dann immer gesagt: „Die Rinkes und die Hahns sterben nicht.“ Daran haben wir geglaubt und sind nicht gestorben.
Ich kann mich auch noch an die Bombennächte erinnern und daran, dass wir auf die Felder mussten, Korn säen. Kartoffeln haben wir auch gesät. Und wir haben als Kinder Kartoffelkäfer gesammelt, dafür haben wir Milch bekommen.
Die Lehrer waren im Krieg, und in der Schule unterrichteten unerfahrene, junge Mädchen. Meine Mutter erzählte uns oft die kleine Geschichte vom ersten Schultag: Als man mich fragte, was eins und eins sei, stellte ich mich auf den Tisch und rief laut in den Raum: „Scheißdreck“.
Die Frauen mussten auch Kleidung für die Soldaten im Osten nähen. Ich habe zum Beispiel geholfen, Handschuhe zu nähen. Mir hat das auch irgendwie Spaß gemacht. Herz auf Herz – solche Sachen habe ich gemacht. Und immer mit der Flak gespielt. Ich war ein richtiges Wehrmachtskind. Die Soldaten haben immer Schokolade versprochen, wenn … Ich weiß nicht, was dieses Wenn war, denn ich habe nie Schokolade gekriegt. Oder auf dem Schulweg, wenn man sich in den Straßengraben werfen musste, weil die Sturzbomber kamen – die Tommys.
Mein Vater kam aus dem Urlaub – das muss 1944 gewesen sein – und hat, das habe ich nicht vergessen, gesagt: „In vier Wochen dreht sich kein Rad mehr.“ Da habe ich schon etwas gemerkt. Vor allen Dingen, weil ja Tag und Nacht in Kassel die Bomben fielen. Tag und Nacht! Die Lichter, die dann am Himmel standen, waren wie Tannenbäume. Es war schon irgendwie apokalyptisch …
Ich war damals viereinhalb –, das ganze Dorf hatte Angst, dass die Bomberverbände aus Kassel zurückfliegen, noch Bomben an Bord haben und sich denken: „Was sollen wir mit den Bomben zu Hause? Wir werfen sie einfach mal ab.“ Sodass sich nachts um halb elf das gesamte Dorf, also eine Landstraße, nach außen wälzte und sich in irgendeinem Urstromtal versteckte.
Selbst die Leute, die vorher im Keller noch gezittert hatten, kamen auf allen Vieren nach oben und wollten sehen, was da noch an Leuchtraketen in die Luft ging. Die Flakscheinwerfer, das war ja alles noch bunter. Und die Bewegungen. Die ganze Stadt war hell, weil sie brannte.
Ich war dreieinhalb und wir waren auf der Flucht. Mit dem Pferdefuhrwerk über die Weichsel, über Usedom und Wollin nach Güstrow. Eine abbrennende Stadt. Von Kiel nach Flensburg sind wir mit dem Zug gefahren. In Flensburg lebte ein Bruder meiner Mutter, er war dort an der Walzenmühle beschäftigt. Es war die Angst vor den Russen, die uns in die Flucht schlug.
Die Ostfront rückte immer näher, und so sind wir Anfang Februar 45 zu den Großeltern nach Berlin geflohen. Inzwischen waren wir zu dritt, meine Schwester wurde im Dezember 1944 geboren. Gott sei Dank blieben wir nur drei Tage. In dieser Zeit erlebte ich eines der furchtbarsten Bombardements: Ich war mit meiner Großmutter spazieren, als die Bomben ohne Vorwarnung um uns herum fielen und explodierten. Es gelang uns gerade noch, in einem nahe liegenden Keller Schutz zu suchen, aber es war verdammt knapp.
Ich habe an Berlin so gut wie keine Erinnerungen. An Stuckdecken und einen Kinderwagen kann ich mich erinnern. Ich bin Jahrgang 40, da ist man noch sehr Kind und kann den Krieg überhaupt nicht beurteilen. Was ich zum ersten Mal gesehen habe und was mich sehr beeindruckt hat, das waren Tote.
Ich erinnere mich, dass meine Schwester und meine Großmutter auf der Flucht mit dabei waren und daran, dass ich die nach uns kommenden Pferde am Fressen des Heus, auf dem ich lag, hindern sollte. Eine traumatische Kindheitserfahrung, die prägend war. Heute ist das alles ferne Vergangenheit, aber so wie die Weltlage sich aktuell darstellt, tauchen die schrecklichen Erinnerungen gelegentlich wieder auf.
Ich habe gewisse Erinnerungen, auch akustische. Wenn zum Beispiel von Kassel aus die amerikanischen Panzer auf unsere Siedlung zufuhren, kam von unten das Rasseln der Ketten. Solche Sachen habe ich ganz genau mitgekriegt. Ich habe auch unsere Nachbarschaft verständigt. „Da wird ein Attentat verübt“, habe ich gesagt. Dabei wusste ich gar nicht, was das war – ich war etwa acht Jahre alt.
Und an einen Hund erinnere ich mich, der immerzu furchtbar hinter einem her war. Ich habe Todesangst vor Hunden. Das sind die einzigen Kindheitserinnerungen. Als Kind ist man damit beschäftigt, alles überhaupt erst zu kapieren.
Unsere Sinne, was wir sehen, was wir hören und wie wir etwas aufnehmen – das ist alles miteinander verbunden. Die Zeit, in der wir etwas erleben, gehört mit dazu. Und in unserem Fall eben auch die Kriegserfahrung, die wir alle auf irgendeine Art und Weise haben. Ich weiß noch, wie wir in Bad Hofgastein von der Schule kamen – ich war noch sehr klein, vielleicht sechs Jahre alt –, und dann die Tiefflieger kamen. Wir hatten beigebracht bekommen: Schmeißt euch in den Graben! Alle erinnern sich noch an irgendwelche Flak oder Bomben. Und daher war man, glaube ich, wahnsinnig offen für das, was nach dem Krieg passierte.
Meine Vergangenheit spielt in meinen Werken eine große Rolle, es finden sich immer Rückschlüsse darin. Aber als Kinder haben wir diese Gräuel gar nicht so gespürt.
Ich begreife jetzt wieder nicht, was in Aleppo passiert. Hunderttausende Menschen verhungern und werden bombardiert. Was ich als Vierjährige erlebt habe, muss traumatisierend gewesen sein, die Vergewaltigung unseres Kindermädchens … Das ist sehr relativ mit der Kindheit.
Woran ich mich nicht wirklich erinnere, aber im Traum manchmal sehe, ist der Zug von Danzig in den Westen. Er wurde beschossen. Wir mussten raus dem Zug und meine Mutter warf sich über mich. Irgendetwas Furchtbares hat sich da ereignet, meine Mutter hat aber nie darüber gesprochen. So etwas gab es in Fulda alles nicht. Fulda war eine stille katholische Naziwelt.
Onkel Paul war der Jüngste. Er war dann ganz glücklich, endlich – wie die anderen – an die Front gehen zu können. Nach einer Woche, meine Großmutter bügelte gerade auf dem Küchentisch, schellte es an der Haustür und der Postbote überbrachte die Nachricht, dass Onkel Paul gefallen war. Er hat nur eine Woche überlebt. Meine Großmutter hatte vergessen, das Bügeleisen vom Tisch zu nehmen, sodass es tief in den Tisch eingebrannt ist. Wenn wir in den 50er-Jahren bei ihr Kaffee trinken waren, war es das eingebrannte Bügeleisen, das uns in Erinnerung blieb. Als ich größer wurde, habe ich die Klamotten von Onkel Paul anziehen müssen und damit war Onkel Paul auch ein Stück von mir. Joseph Beuys hat mir einmal gesagt: „Klaus, als ich jung war, war es Avantgarde vor dem Feind zu sein.“ Er war die Generation von Onkel Paul und das war die Stimmung: SA, Bombenangriffe, Scheinwerfer und russische Kriegsgefangene.
Du kannst Beuys’ Werk nur verstehen, wenn du den Hintergrund kennst: Wenn er in einer riesen Ausstellung eine Kammer zeigt, wo nur Einmachgläser stehen, Holz und Düsternis und Einmachgläser, dann ist das die Atmosphäre der Nachkriegszeit. Da hast du Pilze gesammelt, hast sie getrocknet, dann hast du irgendwelche Pflaumen eingemacht … braunes Gemüse war die Rettung über den Winter. Das kann ein Mensch, der jung ist und nie Hunger gehabt hat, nicht verstehen. Unabhängig davon, ob nun die Fetteckengeschichte mit den russischen Tataren, die ihn retteten, wahr oder nicht wahr ist, Zu den widersprüchlichen Angaben in der Beuys-Biografie, die seinen Flugzeugabsturz während des Zweiten Weltkriegs betreffen, siehe auch Götz Adriani/Winfried Konnertz/Karin Thomas, „Joseph Beuys. Leben und Werk“, Köln 1986 (3. Auflage), S. 22 f., sowie Hans-Peter Riegel, „Beuys. Die Biographie“, Berlin 2013, S. 60 ff. die Erfindung der Geschichte gehört zu der Erfahrung.
Ich gehöre zu den Leuten, die nach dem Krieg anfingen, mit Licht zu arbeiten. Heute finden überall auf der Welt Ausstellungen mit Licht statt. Das sind alles Folgeerscheinungen, die gar nicht so zufällig sind. Aus dem Weltall kann man die erleuchteten Städte sehen. Allein wenn man mit dem Flugzeug bei Nacht einen Flughafen anfliegt und aus dem Fenster schaut, diese Kostbarkeit, diese abstrakten Lichtstrukturen, die da in die Nacht fallen und sich ausbreiten. Das ist unglaublich spektakulär. Von einer unglaublichen Schönheit und Faszination. Das gehört zu meinem Leben: Mein Interesse an Licht in der Kunst und an der Bewegung, die noch dazukommt – die vierte Dimension, die Zeit spielt da auch eine große Rolle. Das hat mit dem Wunsch zu tun, die Materie zu entmaterialisieren. Das ist das eigentliche Thema meines Lebens.
Ich kenne Essen noch aus der Zeit vor der Bombardierung. Meine Großmutter hat mich nach Essen zum Einkaufen mitgenommen und ich habe die Bilder noch heute im Kopf. Auch das Bild unserer Rückkehr, der Ankunft in Essen mit dem Zug: Essen gab es nicht mehr. Es standen nur noch die Kamine der Gebäude, alles andere war flach.
1946 kehrten wir nach Berlin zurück und lebten bei den Großeltern. Erst da ging ich wieder zur Schule, in die dritte Klasse. Berlin war ein Trümmermeer, die Winter waren sehr kalt, Schuhe waren kaum zu kriegen, die Zehen erfroren, und es gab wenig zu essen. Um die Familie zu ernähren, begann meine Mutter eine Ausbildung als Lehrerin. Tagsüber arbeitete sie in der Schule, und abends bereitete sie sich auf das Staatsexamen vor.
Nach dem Krieg kam mein Vater aus der Gefangenschaft zurück, halbtot, aber er hat überlebt. Er war Lehrer und wir waren sechs Kinder. Wir sind damals in ein Dorf in der Nähe von Neuss gezogen, dort war er in einer Gemeinschaftsschule, in die Kinder aus drei Dörfern zur Schule gingen. Meine Schwester hatte einen Freund, den sie später auch geheiratet hat – einen Architekten –, und mit ihm habe ich gezeichnet. Das war vielleicht der wirkliche Anfang.
Als Vierjährige konnte ich zeichnen, aber noch nicht schreiben. Wenn ich während der Flucht Nachdem der Vater Bettina von Arnims 1945 von sowjetischen Soldaten verhaftet worden war, floh ihre Mutter Anfang 1946 mit sechs Kindern zunächst nach Berlin und im Sommer des gleichen Jahrs nach Tommelhardt in Baden-Württemberg. einen Zettel oder ein Bilderbuch hatte, war alles nicht so schlimm. Wenn ich mit meinem kleinen Bruder zusammen auf dem Stroh lag, sah ich in den bräunlichen Flecken der Zimmerdecke, wie mein Vater als Reiter durch die Wolken daherkam. In ihrem Buch „Der grüne Baum des Lebens“ Clara von Arnim, „Der grüne Baum des Lebens. Erinnerungen einer märkischen Gutsfrau“, Bern 1989. schreibt meine Mutter etwas abschätzig: „Bettina driftete in die Fantasie ab.“ Kunst gehörte einfach dazu, vor allem durch meine Tante. Sie hat mich nach dem Krieg zum Aquarellieren mitgenommen und mir am Beispiel von Holunderblüten gezeigt, wie man Weiß ausspart.
Ich hatte einen guten Kunsterzieher in der Schule, der die Nazizeit heil überstanden hatte. Und ich komme aus einer musischen Familie. Daher lag das Musische, besonders die bildende Kunst, nahe. Ich hatte nicht unbedingt vor, Künstler zu werden, obwohl es mich manchmal gereizt hätte. Mein Vater ist im Zweiten Weltkrieg gefallen. Er war Lehrer und ich hatte mir als kleiner Junge vorgenommen, ihn zu ersetzen.
Kunst wollte ich aus ganz bestimmten Gründen nicht studieren: Ich komme aus einer relativ kleinbürgerlichen Familie. Ich hatte eine starke Mutter, die 1946 ein Geschäft aufgemacht hat, um die Familie zu ernähren. Ich gehöre zu einer Generation, die praktisch ohne Väter groß geworden ist. Erst war er im Krieg. Dann war er in Gefangenschaft. Und dann ging er in den Westen. Die Mutter hat damals alle Probleme der Familie mit den Kindern besprochen. Das hat einen mit acht, neun, zehn Jahren völlig überfordert.
Als Kind war ich total symbiotisch mit meiner Mutter und meinem Großvater, der sehr wichtig für mich war. Mein Vater kam als Nazi aus dem verlorenen Krieg zurück und hat ständig geprügelt, so wie auch unsere Lehrer. Alle sind von den Vätern geprügelt worden. Sie ließen ihren Frust darüber, dass sie den Krieg verloren hatten, an uns aus.
Einmal saßen wir zu dritt am Esstisch, meine Schwester, meine Mutter und ich, als ihr plötzlich die Tränen in den Augen standen. Ich oder meine Schwester Liselotte fragten: „Mami, warum weinst du?“ Da sagte sie ganz leise vor sich hin: „Weil ich euch nicht satt bekomme.“
Als ich in der Schule war, gab es nichts zu essen. Bis 48 gab es gar nichts zu essen, die Eisenbahner haben sowieso nicht viel verdient. Wir waren mager und aßen nichts. Bis 48 klauten wir alles in den Schrebergärten: Möhren, halbreife Äpfel, auch Kaps (Weißkohl) und Wirsing haben wir gegessen. Alles roh, wie Tiere. Die Eltern waren damit beschäftigt zu hamstern – wir waren alleine und uns überlassen.
Wir Kinder hätten natürlich gerne Schokolade gehabt, die bekam man aber nur im Tausch mit Eiern. Die amerikanischen Soldaten nahmen nichts außer Eiern, denn sie hatten Angst, vergiftet zu werden. Also haben wir versucht, Eier zu klauen, um Schokolade zu bekommen.
Die Briten im Ruhrgebiet mochten uns. Wenn wir am Ruhrschnellweg spielten, kamen die britischen Panzer und die Soldaten haben uns zugewunken. Sonst waren die Engländer zu den deutschen Erwachsenen unheimlich hart. Wir übernahmen auch alle Werke: Stahlwerke und Ziegeleien gehörten uns, den ehemaligen Hitlerjungen und uns. Wir waren Gangs. Wir waren Wattenscheid und haben ganz schlimme Kriege mit Gelsenkirchen geführt. Wir waren auf der Grenze. Als ich nach Los Angeles kam und die Gangs mitkriegte, haben alle immer Angst gehabt, aber ich habe gesagt: „Ich habe keine Angst. Ich war ja selber mal in einer Gang.“
Wir sprechen von einer Zeit, in der Deutschland ein zerstörtes Land war. Und zwar in vielfacher Hinsicht. Viele Soldaten kamen nicht aus dem Krieg zurück. Wir mussten drei Jahre lang warten, bis die Nachricht kam, dass mein Vater nicht überlebt hatte. Man war ganz auf sich alleine gestellt. Und man lebte in einer Welt, in der die materiellen Bedingungen denkbar bescheiden waren. Es gab nicht nur Probleme mit Lebensmittelkarten oder die Frage: „Wo bekomme ich ein paar Kohlen her? Wo bekomme ich ein Stück Holz her, damit ich meinen Ofen heizen kann?“ Sondern es gab auch – und das habe ich als junger Mensch natürlich sehr deutlich empfunden – ein spirituelles, ein geistiges Vakuum. Ein kulturelles Vakuum. Deutschland war ein Friedhof.
Ich bin im Dritten Reich groß geworden. Da war der Umfang der Literatur, der Kunstliteratur, begrenzt. Es war nicht so, wie man es heutzutage kennt, wo jeder alle Bücher hat und alles zugänglich ist und sich alles von selbst versteht. Aber es waren einige Bände im Bücherschatz meiner Eltern, die mich sehr stark beeindruckt haben. Zwei waren Monografien von Paula Modersohn-Becker Paula Modersohn-Becker (geb. Minna Hermine Paula Becker; 1876 Dresden – 1907 Worpswede) entwickelte als Malerin im norddeutschen Künstlerdorf Worpswede einen an den Ausdrucksformen der französischen Avantgarde orientierten Stil und gilt mit ihren ländlichen Porträt- und Landschaftsgemälden als eine der Wegbereiterinnen der Malerei der Moderne. 1896 bis 1898 besuchte sie eine private Malschule in Berlin, ab 1898 hielt sie sich in der Künstlerkolonie Worpswede auf und erhielt Unterricht bei Fritz Mackensen. 1901 heiratete Paula Becker den Maler Otto Modersohn. Zwischen 1900 und 1907 reiste Modersohn-Becker mehrmals nach Paris, wo sie sich unter anderem mit dem Werk Paul Gauguins und Paul Cézannes beschäftigte. plus eine Kunstgeschichte von Max Deri Max Deri (eigtl. Max Deutsch; 1878 Bratislava, Tschechoslowakei, heute Tschechische Republik – 1938 Los Angeles) war ein Kunsthistoriker und Kritiker, der bei Adolph Goldschmidt promovierte und unter anderem für „Das junge Deutschland“, „Schaubühne“ und den „Sturm“ schrieb. 1931 erschien das kunsthistorische Überblickswerk „Die Stilarten der bildenden Kunst im Wandel von zwei Jahrtausenden“. . Damals, während der ersten Jahre nach dem Krieg, war „der Deri“ die Kunstgeschichte der „modernen Kunst“, eines der wichtigen Überblicksbücher. Darin habe ich zum ersten Mal Munch- und Picasso-Abbildungen gesehen und mich darüber mit meiner Mutter unterhalten, die sehr schöngeistig war und wunderbar Klavier spielte, während mein Vater ein fabelhafter Lehrer war und ein fabelhafter Oberstudiendirektor, wie es damals im Dritten Reich hieß.
Ich habe nach dem Zusammenbruch keinem Erwachsenen mehr irgendetwas geglaubt. Der Feind schmiss Bonbons! Das heißt, das ganze Bild von Heldensagen, Siegfried, Treue, Heldentum, was weiß ich, mit dem man als Kind aufgewachsen ist und was ja auch schöne Ideale sind, brach zusammen. Nicht weil der Krieg verloren war, sondern weil wir Fotos der Konzentrationslager sahen und begriffen: Das war ja gar kein Krieg, wo Volk gegen Volk kämpfte, das wäre grausam genug, sondern das war eine Extragrausamkeit.
Wir haben die Soldaten, die SS und auch die Züge in Essen erlebt. Wenn die Züge kamen und die Schranken am Bahnübergang runtergingen, machte es ting-ting und mein Großvater wusste immer, wie spät es war. Man brauchte keine Uhr, weil die Züge im Dritten Reich immer pünktlich waren. Das war nicht wie heute. Das war pünktlich. Disziplin. Die Wehrmachtszüge fuhren von der West- an die Ostfront oder umgekehrt. Wie viele da in den Viehwagen standen und langsam vorbeifuhren …! Das haben wir alles gesehen, aber uns war nicht bewusst, dass sie in die Todeslager kamen.
Meine Mutter hat nie darüber gesprochen. Ich war Einzelkind, mein Vater war tot, und ich hatte das Gefühl: „Rühr lieber nicht daran. Frag nicht!“ Als ich es doch mal tat, sagte sie: „Darüber redet man mit Kindern nicht.“ Wahrscheinlich hatte sie auch eine Scham, dass sie überlebt hatte. Ich weiß es nicht. Im Nachhinein bereue ich sehr, dass ich nicht stärker nachgehakt habe.
Und dann gab es Tante Marielies, eine der jüngeren Schwestern meines Vaters, eine ganz Liebe, die uns Kinder gut versorgte. Ich war Indianer, ich konnte gut schleichen und lauschen. Manchmal rief die Tante: „Ihr macht ja einen Krach wie in der Judenschule.“ Abends, hinter der Tür hieß es dann: „Fräulein Marielies, so etwas darf man nicht sagen.“ – „Ach, das sagten wir früher immer.“ – „Ja, wissen Sie denn nicht?“ Oder: „Die ließen sich doch abschlachten wie die Lämmer.“ – „Haben Sie denn nie etwas vom Aufstand im Warschauer Ghetto gehört?“
Später, als wir schon eine eigene Wohnung hatten, wurde ich sonntagmittags öfter bei einem Schulfreund zum Essen eingeladen, und dort fingen dann die Eltern mit diesem Nazikram an. „Das war doch alles gar nicht so schlecht …“ und „Jeder hatte Arbeit …“ – auf diese Art. Plötzlich saß ich also sonntagmittags in so einer Nazifamilie. Daran erinnere ich mich sehr genau: Ich war völlig entsetzt, bin aufgestanden und ohne ein Wort gegangen. Das hat mir natürlich nicht viele Freunde gebracht.
Alle Welt passte sich an, das war fantastisch. Wir zogen um, andere zogen auch um. Die Flüchtlinge kamen. Dann wurde gemault – ein bisschen wie heute. Es beruhigte sich aber erstaunlich schnell wieder und die Anpassung war enorm. Alles ging ruckzuck. Es traten plötzlich Baulöwen auf, also Leute, die den Boden aufkauften und so weiter … Andererseits war aber alles noch beim Alten und man durfte im Hofgarten in Düsseldorf den Rasen nicht betreten. Da ging sogar ein Mann mit zwei Schäferhunden umher und achtete darauf, dass keiner Blumen pflückte. Darum ging es natürlich gar nicht, wenn ich den Rasen betrat. Es gab also noch strikte Regeln aus der Vergangenheit. Das kreuzte und verband sich mit der Gegenwart. Irgendwie klappte das alles nicht.
Mein Vater ist mit mir ins Französische Institut am Siegestor in München gegangen, da hatten sie eine harmlose Druckgrafikausstellung mit Raoul Dufy, ein bisschen Chagall und solche Sachen. Alles blau, rot, weiß, französische Folklore. Damals war ich elf Jahre alt. Mein Vater war ja Kunst- und Antiquitätenhändler, und er hat der Frau vom Institut dort etwas liefern müssen. Als er mich sah, wie ich mit offenem Mund vor den Bildern stand, stellte er sich vor mich, schaute mich ganz traurig an und sagte: „Gefällt dir das?“ – „Ja, Papa.“ Da habe ich sofort a Watschen von ihm gekriegt. Er war entsetzt, er war wirklich 100-prozentig entsetzt. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Aber diese Generation hatte über 30 Jahre lang null Informationen. Für meinen Vater war das entartete Kunst, im wahrsten Sinne des Wortes.
Natürlich habe ich gesehen und gehört, was meine Mitschüler studieren wollten: Medizin, Jura und so weiter. Da war für mich klar: Das kommt nicht in Frage. Obwohl ich als junger Mensch mit 15, 16, 17, 18 Jahren kaum gezeichnet oder gemalt habe, aber wenn, hatte ich sehr viel Freude daran, und ich hatte auch das Gefühl, dass es mir etwas bedeutet. Also war es einen Versuch wert. Irgendwie musste ich ja einen Anfang machen.