Café Deutschland

Im Gespräch mit der ersten Kunstszene der BRD

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Götz Adriani

Götz Adriani

Götz  Adriani

Götz Adriani

Tübingen, 06. September 2016

Franziska Leuthäußer: Meine allererste Frage an Sie: Wie kamen Sie überhaupt zur Kunst? Wie kamen Sie zu der Entscheidung, in Deutschland nach dem Krieg Kunstgeschichte zu studieren? Und wie kamen Sie von da aus zur Gegenwartskunst?

Götz Adriani: Meine Mutter war kunstinteressiert und richtete meine Aufmerksamkeit schon in jungen Jahren auf Geschichte und Kunstgeschichte. Ich war ein schlechter Schüler, aber alles, was mit Geschichte und Kunstgeschichte zu tun hatte, interessierte mich. Für ein Medizin- oder Jurastudium wäre ich ungeeignet gewesen.

Wie hat Ihre Mutter Ihnen die Kunstgeschichte nahegebracht? Über Bücher?

Über Bücher, Museumsbesuche und Städtereisen. Ich erinnere mich, dass ich als Kind nach dem Krieg mit meiner Mutter in die Schweiz gereist bin, um in St. Gallen die Stiftsbibliothek aus dem 18. Jahrhundert zu besuchen. Ein Mönch, der uns durch die Klosteranlage führte, erwähnte mit tränenerstickter Stimme, dass im letzten Krieg natürlich sehr viel verloren gegangen und geraubt worden sei. Er sprach allerdings von den weit zurückliegenden Napoleonischen Kriegen Als „Napoleonische Kriege“ werden die von 1799 bis 1815 unter dem Befehl Napoleon Bonapartes geführten kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Frankreich und den weiteren europäischen Großmächten Österreich, Großbritannien, Preußen und Russland bezeichnet. . Glückliche Schweiz! Durch solche Unternehmungen bin ich an die Kunst, vor allem die des 17. und 18. Jahrhunderts, herangeführt worden.

Sie interessierten sich für die Geschichten?

Nein, für die Bauten, die Kirchen und deren Deckengemälde. Es war die Überwältigung durch das Gesamtkunstwerk, das eine barocke Kirche darstellte – mit ihren sämtliche Sinne ansprechenden Künsten: mit der Architektur, mit der Musik und Malerei bis hin zu einer auf das Hofzeremoniell der oströmischen Kaiser zurückgehenden katholischen Liturgie. Ein von Weihrauch umnebeltes „Theatrum sacrum“ „Theatrum sacrum“ wurden im Barock die religiösen Zeremonien genannt, die in ihrer Zusammenführung von überbordend gestalteter Sprache, Bewegung, Musik und Raum häufig die Qualität theatraler Inszenierungen hatten. Und auch in der barocken Kirchenarchitektur wurden häufig Elemente aus dem Theaterbau verwendet. beeindruckte mich zutiefst, obwohl ich Protestant bin. Erste diesbezügliche Einsichten erhielt ich in der prächtigen, von Johann Michael Fischer erbauten und mit Bergmüller-Fresken sowie wunderbaren Altarbildern Tiepolos und Pittonis ausgestatteten Stiftskirche in Dießen am Ammersee, wo unsere Familie ein Sommerhaus besaß.

Und Sie haben dann das Studium aufgenommen, weil Sie dort tiefer eintauchen wollten?

Ich wollte mich intensiver damit auseinandersetzen. Zur zeitgenössischen Kunst bin ich dann eher durch Zufall gekommen. Weil mich das Universitätsdasein in München, Wien und Tübingen nicht sonderlich reizte, beendete ich mein Studium bereits 23-jährig mit der Promotion, die damals in der Kunstgeschichte der einzig mögliche Abschluss war. Zunächst war ich anderthalb Jahre lang Volontär an der Staatsgalerie Stuttgart und ging anschließend als Kurator nach Darmstadt ans Hessische Landesmuseum. Es ist eines der ältesten Museen der Welt, ein Vierspartenmuseum, mit Zoologie, Geologie, Archäologie und Kunstgeschichte. Alles, was das Herz begehrt, insbesondere mit einer hochkarätigen mittelalterlichen Abteilung. Ich hatte das Glück, für die Malerei ab 1500 und für die Sammlung Ströher zuständig zu sein.

Karl Ströher war Eigentümer der Wella AG in Darmstadt und ließ im Alter von 78 Jahren seine Sammlung von den Galeristen Heiner Friedrich und Franz Dahlem völlig ummodeln. Franz Dahlem (* 1938 München), Heiner Friedrich (* 1938 Stettin, Pommern, heute Polen) und Six Friedrich (* 1938 Gelsenkirchen) eröffneten im Juli 1963 in München die Galerie Friedrich & Dahlem. Nach Uneinigkeiten in der gemeinsamen Galerie eröffnete Dahlem zum Jahreswechsel 1966/67 eine eigene Galerie in Darmstadt und pflegte engen Kontakt zu dem dort ansässigen Sammler Karl Ströher. Gemeinsam mit Heiner Friedrich vermittelte er diesem 1968 die Sammlung Kraushar sowie den „Block Beuys“, den größten zusammenhängenden Werkkomplex von Joseph Beuys, der in den Jahren 1967 bis 1969 in mehreren Ankäufen von Ströher erworben wurde. Anfangs, noch im Vogtland, hatte er begonnen, Romantiker-Zeichnungen zu erwerben. Nach dem Krieg übersiedelte er nach Westdeutschland, wurde in Darmstadt erfolgreicher Unternehmer und legte sich, beraten von Willi Baumeister Willi Baumeister (1889 Stuttgart – 1955 Stuttgart) war ein deutscher Künstler und Kunsttheoretiker. Von 1909 bis 1912 studierte er an der Kunstakademie Stuttgart bei Adolf Hölzel. 1927 bis 1933 war er Professor für Gebrauchsgrafik an der Kunstgewerbeschule in Frankfurt am Main, bevor er durch die Nationalsozialisten seines Amtes enthoben wurde. Fünf seiner Arbeiten wurden 1937 in der nationalsozialistischen Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Baumeister von 1946 bis 1955 Professor an der Kunstakademie Stuttgart und engagierte sich für den Wiederanschluss Deutschlands an die internationalen Kunstentwicklungen. , eine Sammlung überwiegend deutscher Kunst der klassischen Moderne zu. 1967/68 kamen dann Heiner Friedrich und Franz Dahlem aus München ins Spiel, die Ströher dazu brachten, nicht nur sämtliche wichtige Arbeiten von Joseph Beuys, sondern auch die plötzlich auf den Markt gelangte Sammlung Kraushar anzukaufen. Dabei handelte es sich um die Pop-Art-Sammlung eines New Yorker Versicherungsmaklers, die dieser in wenigen Jahren zusammengetragen hatte und die nach seinem Tod verkauft werden sollte. Sowohl den bedeutenden Beuys-Komplex als auch die Sammlung Kraushar – mit Hauptwerken von Oldenburg, Warhol und Lichtenstein, von Segal, Rosenquist und Wesselmann – wollte Ströher dem Hessischen Landesmuseum auf Dauer überlassen. Als der zuständige Kurator konnte ich miterleben, wie Darmstadt für kurze Zeit zu einem Zentrum für aktuelle Kunst wurde. Alles, was Rang und Namen hatte, war vor Ort, von Warhol und Beuys über Claes Oldenburg und Franz Erhard Walther bis zu Walter De Maria, Palermo und vielen anderen. Diese von Friedrich und Dahlem geschickt arrangierten Ankaufsinitiativen geschahen, kurz bevor Peter Ludwig Ab den späten 1950er-Jahren sammelten Peter (1925 Koblenz – 1996 Aachen) und Irene Ludwig (1927 Aachen – 2010 Aachen) Antiken und mittelalterliche Bildwerke. Ein Großteil ging 1977 als Schenkung an das Suermondt-Ludwig-Museum Aachen. 1967 kaufte Peter Ludwig in New York sein erstes Pop-Art-Werk, „Landscape No. 2“ (1964) von Tom Wesselmann, und baute ab 1969 eine der bedeutendsten Sammlungen im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst in Deutschland auf. Neben Werken der Pop-Art und der abstrakten Malerei befinden sich auch Arbeiten der Konzeptkunst, der russischen Avantgarde und des Expressionismus in der Sammlung. Durch Schenkungen und Leihgaben etablierte das Ehepaar Ludwig zahlreiche Kooperationen zwischen öffentlichen Trägern und seiner Privatsammlung. So erhielt die Stadt Köln 1976 einen umfangreichen Sammlungsbestand unter der Voraussetzung, einen eigenen Präsentationsort – das heutige Museum Ludwig – zu errichten. 1982 gründeten Peter und Irene Ludwig die Ludwig Stiftung für Kunst und internationale Verständigung, die nach dem Tod Peter Ludwigs 1996 in die Peter und Irene Ludwig Stiftung überging. Vgl. Heinz Bude, „Peter Ludwig. Im Glanz der Bilder“, Bergisch Gladbach 1993, insbesondere S. 95–133. sich in Köln ebenfalls um zeitgenössische Kunst bemühte.

Was ich an der Darmstädter Konstellation spannend fand, war die Polarität von Beuys auf der einen Seite und den wichtigen Konvoluten der New Yorker Pop-Art auf der anderen Seite. Ich bewunderte den Mut des bejahrten Karl Ströher, das Spannungsfeld zwischen den tiefgründigen Imaginationen eines Beuys’ und den populären Bravourstücken der Pop-Artisten aufzuzeigen und dem Publikum bewusst zu machen.

Hatten Sie – bevor Franz Dahlem und Heiner Friedrich ins Spiel kamen – schon Berührungen mit der Gegenwartskunst?

In Stuttgart gab es Hans-Jürgen Müller Hans-Jürgen Müller (1936 Ilmenau – 2009 Stuttgart) eröffnete 1958 die Galerie Müller in Stuttgart, die nach seinem Umzug 1969 nach Köln von Margret Müller weitergeführt wurde. 1967 gehörte Müller zu den Mitbegründern des ersten Kölner Kunstmarkts. Bis zur Schließung seiner Kölner Galerie 1973 zeigte er unter anderem Werke von Willi Baumeister, Peter Brüning, Arnulf Rainer, Dieter Roth und Günther Uecker. Zwischen 1976 und 1982 war Müller unter anderem am Aufbau der Privatsammlungen der Familien Grässlin, Krauss und Scharpff beteiligt. , einen Galeristen, der früh internationale Kunst in den Südwesten der Republik vermittelte. Zum Beispiel hatte Cy Twombly Cy Twombly (eigtl. Edwin Parker Twombly; 1928 Lexington, Virginia – 2011 Rom) wurde mit Gemälden bekannt, die Schrift, Zeichen und Malerei in einem eigenen, häufig als poetisch und wie beiläufig beschriebenen Stil verbinden. Die grafischen Elemente nehmen auf klassische Mythologie und Literatur, Graffiti und Kalligrafie Bezug, während die Malerei in der Tradition des Abstrakten Expressionismus steht. Twombly besuchte unter anderem das Black Mountain College in North Carolina. 1952/53 reiste er nach Europa und Nordafrika und lebte ab 1957 in Rom und dem italienischen Küstenort Gaeta. Seine erste Einzelausstellung hatte Twombly 1951 in der Kootz Gallery in New York. In Deutschland wurden seine Arbeiten erstmals 1959 in der Galerie Müller in Stuttgart gezeigt, 1961 und 1964 waren sie in der Galerie Friedrich & Dahlem in München zu sehen und 1962 in der Galerie Rudolf Zwirner in Essen. 1965 organisierte das Museum Haus Lange in Krefeld Twomblys erste Museumsausstellung. Er war 1981 in der Ausstellung „Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939“ in den Rheinhallen Köln vertreten sowie auf der documenta 6 (1977) und 7 (1982) und der 32. (1964), 43. (1988) und 49. Biennale (2001) von Venedig. 1959 in der Galerie Müller seine Deutschlandpremiere. Schon als Schüler frequentierte ich Müllers Ausstellungen. Das waren meine ersten Kontakte mit der Gegenwartskunst, die dann allerdings in Darmstadt durch meine Bearbeitung des Bestandskatalogs der Sammlung Ströher vertieft wurden. Ich gehöre nicht zu jenen Kunsthistorikern, die ein Leben lang auf bestimmte Zeitabschnitte oder Themen fixiert sind. Mich begeistert ein barockes Gemälde von Johann Heinrich Schönfeld genauso wie eine Zeichnung von Beuys, eine Dürer-Grafik ebenso wie eine Twombly-Skizze. Im Hinblick darauf, was mir im historischen Kontext maßgebend erscheint, hat für mich Adam Elsheimer einen vergleichbaren Stellenwert Anfang des 17. Jahrhunderts wie Caravaggio oder wie später Cézanne und Degas beziehungsweise nach ihnen Picasso. Ich denke, dass Gerhard Richter, Georg Baselitz, Sigmar Polke und Anselm Kiefer ähnliche Bahnbrecher sind, die mit einem Mal die deutsche Kunst in jenes Rampenlicht des internationalen Interesses gestellt haben, das zuvor in diesem Maße nicht oder nur sporadisch vorhanden war.

Haben Sie in der Ausstellung in Mönchengladbach erstmals Arbeiten von Beuys gesehen?

Einzelne Arbeiten und Aktionen von Beuys kannte ich bereits. Aber im größeren Umfang bot sich die Gelegenheit tatsächlich in der Ausstellung „Parallelprozeß 1“ „BEUYS“, Städtisches Museum Mönchengladbach, 13. September – 29. Oktober 1967. im September 1967. Beuys selbst hatte ich im März 1967 anlässlich der Aktion „Hauptstrom“ Am 20. März 1967 führte Joseph Beuys zusammen mit Henning Christiansen in Darmstadt anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung „Fettraum“ in der Galerie Franz Dahlem die zehnstündige Aktion „Hauptstrom“ durch. in der Galerie Franz Dahlem in Darmstadt kennengelernt.

Können Sie beschreiben, was Sie an Beuys damals so begeistert hat?

Ich kenne niemanden, der so gut zuhören konnte wie der bekanntlich eher extrovertierte Beuys. Er ging auf sein Gegenüber ungemein verständnisvoll und zuvorkommend ein. Das hat mich sofort für ihn eingenommen.

Am 12. September 1967 hatte mich Karl Ströher eingeladen, mit ihm ins Rheinland zu reisen. Ich wurde frühmorgens im großen Mercedes mit Chauffeur abgeholt, und nach dem Besuch verschiedener Galerien in Köln und Düsseldorf ging es abschließend nach Mönchengladbach zur Eröffnung der exzeptionellen Beuys-Ausstellung. Es war brechend voll und sehr heiß in dem engen kleinen Museum von Cladders Johannes Cladders (1924 Krefeld – 2009 Krefeld) leitete von 1967 bis 1985 die Städtischen Kunstmuseen (ab 1982 Museum Abteiberg) in Mönchengladbach. Für die „documenta 5“ (1972) arbeitete er im Team von Harald Szeemann. Cladders war 1982 und 1984 kommissarischer Leiter des Deutschen Pavillons der Biennale von Venedig. Er gilt als wichtiger Vermittler des künstlerischen Werks von Joseph Beuys, Robert Filliou und Jannis Kounellis. . Und plötzlich wurde ich ohnmächtig, nicht weil mich die Kunst von Beuys derart irritiert hätte, sondern weil ich den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Mein Gastgeber Ströher war von Hause aus eher sparsam veranlagt, und die einzige Verköstigung, die es während unserer Reise gab, war ein Apfel, den er mit dem Hinweis auspackte: „Junge Leute müssen ja nicht so viel essen und ich in meinem Alter auch nicht. Wir teilen uns den Apfel.“ Das war die Wegzehrung an diesem Tag, und deshalb trug ich abends während der Eröffnung zu einer gewissen Aufregung bei. Auf der Rückfahrt nach Darmstadt, noch in derselben Nacht, weil die Hotelkosten gespart werden sollten, befragte mich Ströher über die Arbeiten von Beuys und konfrontierte mich mit der Idee, Hauptteile der Ausstellung en bloc für Darmstadt zu erwerben.

Wie muss man sich so ein Gespräch zwischen Ihnen und Ströher vorstellen? Wie wurde das Werk damals rezipiert?

Die Beuys-Rezeption war damals schwierig, und sie ist es glücklicherweise bis heute geblieben. Ströher trug immer ein Notizbuch bei sich und erkundigte sich bei Personen, von denen er meinte, dass sie kompetent seien, was sie von dem und jenem Künstler hielten. Den betreffenden Künstlernamen versah er dann mit einem Plus- oder Minuszeichen, zählte pragmatisch wie ein Statistiker die Ergebnisse seiner Befragungen zusammen und entschied dann entsprechend. Er war nicht beratungsresistent, sondern er entwickelte eine eigene Qualitätsstatistik. Dass nicht nur Franz Dahlem und Heiner Friedrich, sondern auch Dieter Koepplin und Franz Meyer große Stücke auf Beuys hielten, Dieter Koepplin (* 1936 Basel) war von 1966 bis 1999 Konservator des Kupferstichkabinetts der öffentlichen Kunstsammlung Basel. In seiner Amtszeit erweiterte er mit Unterstützung des damaligen Direktors Franz Meyer (1919 Zürich – 2007 Zürich) insbesondere die Bestände der Gegenwartskunst und organisierte Ausstellungen unter anderem zu Joseph Beuys (1969, 1977, 1987, 1993), Georg Baselitz (1970, 1984, 1993), Claes Oldenburg (1974, 1992), Donald Judd (1976) und Bruce Nauman (1986). hatte für Ströher einen besonderen Stellenwert. Auch wenn ich als junger Mann mich ihm gegenüber begeistert zeigte von dem, was ich gesehen habe, und von dem Eindruck berichtete, den ich von Beuys hatte, dann war das für den alten Herrn in gewisser Weise mitentscheidend.

Wenn man sich die Objekte in Darmstadt anschaut: Die Vitrinen mit Lebensmitteln oder Tierresten, die Schränke, den um Fett verlängerten Spazierstock … Was haben Sie da gesehen? Wovon waren Sie angetan?

Zunächst faszinierte mich Beuys als singuläre Persönlichkeit. Und nachdem ich die Ausstellung in Mönchengladbach gesehen hatte, auch sein Gesamtwerk. Ich wurde Ende 1940 in Stuttgart geboren und habe die Kriegs- und Nachkriegszeit hautnah erlebt. Beuys hat diese Zeit in sein künstlerisches Handeln miteinbezogen bis zu seinen plastischen Überlegungen zu Auschwitz Joseph Beuys, „Auschwitz-Demonstration“, 1956–1964. . Er tat dies nicht illustrativ, sondern in hohem Maße evident. Auch die neuen Materialien Filz und Fett sowie deren besondere Ikonografie überzeugten mich. Ich hatte Beuys gegenüber nie irgendwelche Einwände und habe sie noch immer nicht. Eine gewisse Skepsis blieb nur hinsichtlich seiner Lehrmethoden, die auch Schüler heranzogen, die sich lediglich als Zuträger des Meisters erwiesen.

Obwohl, die Schüler der Klasse Beuys – Ulrike Rosenbach, Katharina Sieverding, Imi Giese und Imi Knoebel … Das sind eigentlich alles Künstler, die sich …

… von Beuys emanzipiert haben.

Ja, sehr. Immendorff …

Auch Polke und Kiefer schafften es, sich von seiner Dominanz loszusagen. Dagegen ist beispielsweise Stüttgen Johannes Stüttgen (* 1945 Freiwaldau, Sudetenland, heute Tschechische Republik) studierte ab 1964 Theologie bei Joseph Ratzinger in Münster und war 1966 bis 1971 Student in der Klasse von Joseph Beuys an der Kunstakademie Düsseldorf. 1971 war Stüttgen an der Gründung der Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung durch Beuys beteiligt und übernahm von 1980 bis 1986 den Posten des Geschäftsführers der 1973 von Beuys, Willi Bongard, Georg Meistermann und Klaus Staeck gegründeten Freie Internationale Universität (FIU). Stüttgen beruft sich in seiner Arbeit als Künstler auf den Kunstbegriff der Sozialen Plastik seines Lehrers Joseph Beuys. , der sich zwischen die Stühle von Joseph Ratzinger und Joseph Beuys setzte, bis zur Nachahmung der Diktion und Schreibweise des Lehrers einer der Epigonen geblieben.

Stüttgen würde ich da rausnehmen. Er hat ja auch sehr schnell auf ein Werk verzichtet. Sie sagen, nach Beuys gibt es noch Richter, Baselitz, Polke und Kiefer?

In der Tat stehen die Genannten heute mit an der Spitze der weltweiten Anerkennung. Wobei dieses Faktum keineswegs selbstverständlich war, denn seit Jahrhunderten stand die deutsche Kunst im mächtigen Schatten der niederländischen, der italienischen, der französischen oder US-amerikanischen Vorbilder. Lediglich Albrecht Dürer und Hans Holbein der Jüngere im 16. Jahrhundert sowie Adam Elsheimer Anfang des 17. Jahrhunderts vermochten aus diesem Schatten zu treten und schon zu Lebzeiten internationale Reputation zu gewinnen. Doch das Schattendasein, mit dem sich die deutsche Kunst jahrhundertelang abfinden musste, reichte noch weit in unsere Zeit. Als ich 1968 erstmals das Museum of Modern Art in New York, jene unumstrittene Instanz der Moderne, besuchte, hingen dort gerade einmal vier Gemälde deutscher Künstler, darunter als wichtigstes Beispiel Max Beckmanns epochales Triptychon „Departure“ Max Beckmann, „Abfahrt“, 1932–1935. , das allerdings verschämt im Treppenhaus über den Toilettentüren platziert war. Offensichtlich war die Kunst deutscher Provenienz für das MoMA und dessen Führungskräfte nach wie vor eine Quantité négligeable. Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass Joseph Beuys der erste Künstler aus Deutschland war, den 1979 ein US-amerikanisches Museum, nämlich das New Yorker Guggenheim Museum, einlud, eine Retrospektive auszurichten. „Joseph Beuys“, Solomon R. Guggenheim Museum, New York, 02. November 1979 – 02. Januar 1980. Dass sich ihr Erfolg in Grenzen hielt, gab leider jenen Kritikern recht, die Beuys für einen germanischen Exoten und einen politischen Schwarmgeist hielten.

War die Ausstellung kein Erfolg?

Nicht unbedingt. Es war zwar ein von Beuys großartig präsentiertes Vorhaben, doch das in einem beeindruckenden Parcours Gezeigte war und blieb vielen Amerikanern zutiefst fremd.

Inwiefern?

Beuys repräsentierte wohl zu viel Alte Welt in der Neuen Welt. Wahrscheinlich war er, der am Anfang seiner internationalen Karriere stand, zu radikal, zu idealistisch, zu utopisch, zu romantisch, kurz: zu deutsch, um auf Anhieb in den USA Erfolg zu haben. Tom Messer Thomas M. Messer (1920 Bratislava, Tschechoslowakei, heute Tschechische Republik – 2013 New York) wanderte 1939 zunächst nach Großbritannien aus und im selben Jahr weiter in die USA, wo er 1942 ein Studium der Modern Languages an der Boston University abschloss. Nach dem Kriegsdienst für die US-Army setzte Messer sein Studium an der Sorbonne in Paris und an der Harvard University fort. Von 1957 bis 1961 leitete er das Institute of Contemporary Art in Boston, von 1961 bis 1988 war er Direktor des Solomon R. Guggenheim Museum in New York. , der Direktor des Guggenheim Museum, musste sogar um seinen Job fürchten, es gab Überlegungen, ihm wegen des Beuys-Projekts zu kündigen.

Beuys hatte vorher schon verschiedene Auftritte in den USA. Er hat nicht nur bei René Block ausgestellt, sondern auch bei Ronald Feldman. 1974 eröffnete René Block seine New Yorker Galerie mit der Ausstellung „I Like America and America Likes Me“ von Joseph Beuys und zeigte dessen Arbeiten in der Gruppenausstellung „First Exhibition“ (1974) sowie in den Ausstellungen „What’s the Time“ (1974) und „Tenth Exhibition“ (1975). 1975 organisierte die René Block Gallery die Beuys-Ausstellung „Richtkräfte ’74“ in New York. Die Galerie Ronald Feldman Fine Arts, New York, zeigte vor der Guggenheim-Retrospektive 1979 die Ausstellungen „Joseph Beuys Drawings 1947–1972“, 13. Januar – 07. Februar 1973; „Joseph Beuys“, 12. Januar 1974, von 13–16 Uhr und „Joseph Beuys – Sculpture“, 05. April – 10. Mai 1975.

Das waren kleinere Geschichten mit geringer Öffentlichkeit. Aber um nochmals auf Tom Messer zurückzukommen: Er war der Inbegriff des europäisch geprägten Kosmopoliten – er stammte aus Preßburg, wuchs in Prag auf und musste 1939 über England in die USA emigrieren. Bereits 1970 hatte er Hans Haacke, dem deutschen Künstler, der in New York seinen Wohnsitz hatte und deshalb als Amerikaner galt, eine Ausstellung im Guggenheim Museum in Aussicht gestellt. Für eine geplante Einzelausstellung im Solomon R. Guggenheim Museum in New York entwickelte Hans Haacke 1971 die Arbeit „Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, A Real Time Social System, as of May 1, 1971“, die die Immobilienspekulation in Manhattan dokumentierte. Sechs Wochen vor der Eröffnung sagte der damalige Direktor Thomas M. Messer die Ausstellung mit der Begründung ab, dass es sich bei dem Werk nicht um Kunst, sondern um eine soziale Studie handle. Vgl. auch Benjamin H. D. Buchloh, „Hans Haacke. Von der faktografischen Skulptur zum Gegendenkmal“, in: „Hans Haacke – wirklich. Werke 1959–2006“, hg. von Robert Fleck und Matthias Flügge, Ausst.-Kat. u. a. Deichtorhallen, Hamburg, Düsseldorf 2006, S. 42–59, S. 42 ff. Haacke hatte jedoch ein Konzept vorgeschlagen, das für die Immobilienspekulanten New Yorks und für manche Sponsoren des Museums untragbar war. Die Ausstellung musste deshalb abgesagt werden, sie kam nie zustande. Knapp zehn Jahre später war dann Beuys an der Reihe, dessen Auftritt manche Geldgeber des Hauses ebenfalls recht kritisch beäugten. Erst weitere zehn Jahre danach gelang 1988/89 Anselm Kiefer ein wahrer Triumphzug durch die amerikanischen Museen, von Chicago und Philadelphia über Los Angeles bis nach New York. „Anselm Kiefer“, Art Institute of Chicago, 05. Dezember 1987 – 31. Januar 1988, Philadelphia Museum of Art, 06. März – 01. Mai 1988/Museum of Contemporary Art, Los Angeles, 14. Juni – 11. September 1988, The Museum of Modern Art, New York, 17. Oktober 1988 – 03. Januar 1989. Notabene war Kiefer der erste deutsche Künstler, dem das tonangebende Museum of Modern Art in New York mit dieser geradezu euphorisch rezipierten Retrospektive eine Einzelausstellung zugestand.

Womit würden Sie den Erfolg Kiefers 88 und den, wie Sie sagen, nicht so erfolgreichen Auftritt von Joseph Beuys zehn Jahre zuvor begründen? Was ist zwischendurch passiert? Warum ging das mit Kiefer? Warum ging es mit Beuys nicht?

Kiefers Arbeiten sind mit Deutschland und seiner Geschichte visuell eher zu identifizieren als die von Beuys. Vor allem die Thematik von Kiefers Frühwerk bezog sich auf die schwierige Vergangenheit, in die unsere Generation hineingeboren wurde. Kiefer hat die Nachkriegszeit als Kind erlebt, sie hat er, angefangen mit der Aktion „Besetzungen“ 1969 reiste Anselm Kiefer mit einer Uniform seines Vaters nach Frankreich, Italien und in die Schweiz, um in der Landschaft vor wichtigen Bauten und Denkmälern den Hitlergruß auszuführen. Die Aktionen nannte Kiefer „Besetzungen“. 1970 entstanden nach eigenen fotografischen Vorlagen acht Gemälde unter dem Titel „Heroische Sinnbilder“. Vgl. „Anselm Kiefer. Bücher 1969–1990“, hg. von Götz Adriani, Ausst.-Kat. Kunsthalle Tübingen, Ostfildern 1990, S. 8–19. sowie ersten Büchern Im Frühjahr 1969 entstanden die ersten Buchprojekte Anselm Kiefers. Zu den frühesten Beispielen zählen „Du bist Maler“ (1969) und „Heroische Sinnbilder“ (1969). Im Juli 1975 zeigte die Galerie Michael Werner in Köln erstmals eine Auswahl von Kiefers Büchern. thematisiert und anschaulich gemacht. Für einen amerikanischen Museumsbesucher waren die Intentionen von Beuys gewiss weniger nachvollziehbar. Vermutlich war es 1979 für Beuys noch zu früh, um in den USA Fuß zu fassen und erfolgreich bestehen zu können.

Hat die vermeintlich „arme“ Ästhetik im Werk von Beuys bei der Rezeption in Amerika auch eine Rolle gespielt?

Wahrscheinlich eine eher negative.

Im Gegensatz zu Kiefer, dessen Arbeiten schon damals eher monumental waren.

Kiefer war mit seinen fulminanten Malereien und den imposanten, einen hochtrabenden Patriotismus reklamierenden Holzschnitten als Künstler fassbarer als Beuys. Vornehmlich jüdische Emigranten haben etwas von ihrer deutschen Vergangenheit in Kiefers Werken gesucht und gefunden, wohingegen sie bei Beuys nur auf schwer zugänglichen Umwegen hätten fündig werden können.

Hat Kiefer grundsätzlich den Markt für die deutsche Kunst in den USA geöffnet?

Kiefers Werke waren in den USA sofort gefragt. Diese starke Nachfrage bedeutete freilich noch lange keine prinzipielle Öffnung des Markts für deutsche Kunst. Eine Arbeit von Beuys war damals nicht zu verkaufen. Noch heute hat man Schwierigkeiten, angemessene Preise für seine Zeichnungen oder die „Ölfarben“ auf Papier zu erzielen.

Kiefers Werke kommen offenbar bis heute sowohl in den USA als auch in Frankreich sehr viel besser an als in Deutschland. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ich meine, dass beide Betrachtungsweisen ihre Berechtigung haben, sowohl der Blick des Auslands, sprich der USA oder auch Frankreichs, auf ihn als deutschen Künstler, als auch die Sicht der Deutschen, die in ihm in erster Linie den internationalen Künstler sehen.

Die Deutschen sehen in ihm den internationalen Künstler?

Ja, den international renommierten Künstler, dem man in Deutschland immerhin 1984 bereits eine große Retrospektive in der Kunsthalle Düsseldorf ausgerichtet hatte.

Kiefer selbst sagt, dass die USA-Tournee für ihn der Durchbruch war. 22 „Anselm Kiefer“, Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 24. März – 05. Mai 1984/Musée d’Art moderne de la Ville de Paris, 11. Mai – 21. Juni 1984/The Israel Museum, Jerusalem, 31. Juli – 30. September 1984. Vgl. Anselm Kiefer.

Er war der Erste, dem dieser Durchbruch in den USA gelang, einige Jahre vor Richter, vor Polke und Baselitz. Übrigens ist Kiefer unter den Genannten der Einzige, der aus dem Westen stammt, die anderen sind aus dem Osten nach Düsseldorf und Berlin zugezogen. Kiefer wurde in Donaueschingen geboren, wo „Brigach und Breg die Donau zuweg“ bringen. Er kommt aus einem kleinen, badischen Zweistromland und richtete sein Augenmerk später auf das eigentliche Zweistromland von Euphrat und Tigris, das Weltkulturerbe und der Ursprung unserer Zivilisation schlechthin. Das Zweistromtal (Mesopotamien) mit den Flüssen Euphrat und Tigris bezeichnet eine Kulturlandschaft in Vorderasien, wo sich etwa ab dem 4. Jahrtausend vor Christus frühe Hochkulturen wie die der Sumerer und der Babylonier entwickelten. Im Zweistromland entstand im 3. Jahrtausend vor Christus das Gilgamesch-Epos, das als ältestes literarisches Zeugnis der Menschheit gilt, und es ist auch einer der Schauplätze des Alten Testaments.

Kiefer erzählte mir einmal, dass ihn der Fürst zu Fürstenberg ins Donaueschinger Schloss eingeladen habe, um ihm jene originale Fassung des Nibelungenlieds Das Nibelungenlied ist eine alte germanische Heldensage. Die bekannteste Fassung ist das mittelhochdeutsche Nibelungenlied, das um 1200 im Raum Passau entstand. Die Sage selbst aber soll viel älter sein und bis ins heroische Zeitalter der germanischen Völkerwanderung zurückgehen. Der Text des Nibelungenlieds ist, größtenteils nur noch fragmentarisch, in 37 deutschen Handschriften erhalten. Die drei ältesten vollständigen handschriftlichen Texte, A, B und C genannt, gehören seit 2009 zum UNESCO Weltdokumentenerbe. zu zeigen, die damals noch in fürstlichem Besitz war. Derartige Erfahrungen, die eine direkte Sicht auf die Sternstunden der deutschen Geschichte erlaubten, waren für Kiefer ebenso entscheidend wie die Auseinandersetzungen mit der verdrängten und zunehmend vergessenen Vergangenheit des Dritten Reichs.

Kiefer hat die Kriegsjahre als Kind nicht erlebt und hat entsprechend auch keine Erinnerungen, wie etwa Heinz Mack, der von den Bombardements als Feuerwerk am Himmel berichtet. Vgl. Heinz Mack. Dennoch nimmt Kiefer sich dieses Erbes an. In der Kunst der Nachkriegszeit ist diese deutliche Formulierung eine Ausnahme.

Richter, Baselitz und Polke sind diesem bösen Erbe vom Alter her etwas näher als Kiefer. Gerhard Richter (* 1932 Dresden); Georg Baselitz (* 1938 Deutschbaselitz); Sigmar Polke (1941 Oels – 2010 Köln); Anselm Kiefer (* 1945 Donaueschingen). Meines Erachtens hat Richter ein Bildpanorama geschaffen, das sich noch kontinuierlicher als bei den anderen mit der eigenen Geschichte und der eigenen Zeit, das heißt mit den ihn betreffenden Zeiträumen, Zeitstilen, Zeitgeistern, Zeitmoden, Zeitpunkten, Zeitgenossen, Zeitungen und Zeitschriften befasst hat. Richters Zeitbilder reichen von der Reklame für einen Wäschetrockner über „Schloss Neuschwanstein“ bis zu Gudrun Ensslin und den RAF-Zyklus „18. Oktober 1977“. Gerhard Richter, „Faltbarer Trockner“, 1962; „Schloss Neuschwanstein“, 1963; „Gegenüberstellung 1–3“, 1988; „Erhängte“, 1988. Die Arbeit „18. Oktober 1977“ (1988), bestehend aus 15 Gemälden, ist nach Presse- und Polizeifotografien der linksradikalen Terrororganisation Rote-Armee-Fraktion (RAF) entstanden. Der Zyklus wurde 1995 geschlossen vom Museum of Modern Art in New York erworben. Sie reichen von Vico Torrianis „Party“ (1963), den „Stukas“ (1964), einer „Familie am Meer“ (1964) und „Herr Heyde“ (1965) bis zu „Schwarz Rot Gold“ (1998) im Reichstagsgebäude und der abstrakten Bildfolge „Birkenau“ (2014). Unbestritten hat Richter im Kunstkontext wichtige Stationen eines deutschen Bild- und Geschichtsgedächtnisses definiert. Bei Kiefer ist es anders. Er versuchte stets, die Geschichte seines Landes auch in Bezug zu anderen Kulturen zu setzen. Dagegen war Richter auf das fokussiert, was er erlebt hat. Denken Sie an „Tante Marianne“ und „Onkel Rudi“, Gerhard Richter, „Tante Marianne“, 1965; „Onkel Rudi“, 1965. wobei Letzterer der junge Leutnant war, der von der Familie bewundert wurde, während „Tante Marianne“ als geistesgestört galt und der sogenannten „Euthanasie“ zum Opfer fiel. Ähnlich schreckliche Extreme hatte damals nahezu jede Familiengeschichte zu verzeichnen. Vielleicht nicht derart zugespitzt, aber sie sind vorhanden. Da sollte keiner mahnend den Zeigefinger erheben, auch nicht die 68er, die sich für ihre Vergangenheit nicht mehr zuständig fühlten. Doch wir alle, auch die Nachgeborenen, waren und sind auf ähnliche Weise mitbetroffen von der Schuld an jenen unsagbaren Kriegs- und Vernichtungsverbrechen, die sich niemals mehr aus der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft der Deutschen tilgen lassen.

Ich glaube, im Zusammenhang mit Baselitz findet bei Ihnen Erwähnung, dass Künstler, die aus dem Osten kamen, wo Kunst und Künstler vor allem auch für die politische Propaganda eingesetzt wurden – Günther Uecker und Gerhard Richter haben als Plakatmaler begonnen –, aufgrund ihrer Herkunft versuchten, Kunst und Politik zu trennen. Kiefer kritisiert Beuys für seine Politik bei den Grünen. Vgl. Anselm Kiefer. Und auch Bazon Brock sagt, da wo Kunst und Politik eins werden, wird eine Grenze erreicht. Vgl. Bazon Brock. Einerseits scheint die politische Vergangenheit genauso wie die aktuelle gesellschaftspolitische Situation sehr brisant und sehr notwendig für die Kunst zu sein. Andererseits versucht man permanent, sich davon zu distanzieren und im Kunstkontext zu bleiben. Die Konsequenz war in den 60er-Jahren Pop-Art, Minimal Art, Konzeptkunst. Die Kunst um der Kunst willen. War das die Befreiung von Inhalten?

Die Befreiung fand in Deutschland nur bedingt statt. Denn Concept-Art, Minimal Art und Pop-Art waren Importe nach Deutschland, wobei die Pop-Art bei Richter und Polke zunächst auf Interesse stieß, bei Baselitz und Kiefer jedoch so gut wie nicht. Das Populäre passte einfach nicht in ihr inhaltliches Konzept, das Baselitz strikt auf die klassischen Medien Malerei, Skulptur, Zeichnung und Grafik bezog. Dass die Künstler, die aus dem Osten kamen, politisch vorbestimmt waren, wie Sie es andeuten, ist einerseits richtig, andererseits haben sie sich durch den Wechsel nach Düsseldorf, beziehungsweise im Falle von Baselitz nach Berlin, von jedem ideologischen Missbrauch der Kunst verabschiedet. Die Schulung in der DDR war für Richter und Baselitz dennoch wichtig als Reibungsfläche, um gerade nicht im Sinne von Propaganda und Agitation aktiv zu werden. Ohne jede ideologische Gängelung wollten sie allein als Zeitzeugen ihre grandiosen Bilderfindungen etablieren.

Wie beurteilen Sie die gesellschaftliche Rolle der Kunst damals? Und welche Rolle spielte der Zeitgeist?

Baudelaire und Daumier forderten im 19. Jahrhundert: „Il faut être de son temps“ – man muss aus, von oder mit seiner Zeit sein. Sie postulierten eine komplexe Zeitgenossenschaft, die auch das Politische miteinbezog. Die in unserem Zusammenhang infrage stehenden Künstler haben in den 1960er-Jahren ebenfalls ihre Zeit und ihre Zeitgenossenschaft reflektiert. Für die politisch engagierten 68er, die sendungsbewusst und teilweise naiv davon ausgingen, dass ihnen das, was der Elterngeneration passiert war, nicht passieren könne, war die Kunst freilich ohne jede Relevanz; sich mit Künstlern zusammenzutun, war nicht gerade opportun. Nach 50 Jahren laufen wir wieder Gefahr, auf Populisten reinzufallen, ob von links oder von rechts außen. Um nur ein Beispiel zu nennen, was die Gefühlsseligkeit vieler Deutscher für die politischen Extreme angeht: Der Mitbegründer der linksterroristischen Rote-Armee-Fraktion, der Rechtsanwalt Horst Mahler, ist heute als rechtsextremer Antisemit und Holocaustleugner unterwegs und mehrmals zu Haftstrafen verurteilt worden. Auch sollte man nie vergessen, dass Hitler auf demokratischem Weg zur Macht kam und mehrheitlich von einem Volk gewählt wurde, das bis zum bitteren Ende „Hosianna!“ jubelte.

Aktuell sind wir mit nationalen, internationalen und globalen Problemen konfrontiert, die es seit Kriegsende in diesem Ausmaß und in dieser Dimension nicht mehr gegeben hat. Die Welt ist auf eine äußerst gefahrvolle Weise aus den Fugen geraten. Die Krisen reichen von den USA und von Russland bis nach Nordkorea, von der Türkei und der Ukraine bis nach Syrien und zu den anderen Brandherden im Nahen Osten, von weiten Teilen Afrikas bis zu einem hilflos zerstrittenen und kläglich zerfallenden Europa. Angesichts dieser entsetzlichen Gegebenheiten gewinne ich zunehmend den Eindruck, dass sich die als Art-Designer und Kunst-Arrangeure gerierenden Künstler derzeit entweder unkritisch in ihre umsatzgarantierenden Elfenbeintürme zurückgezogen haben, oder sie gehen willig den fixen Ideen monomaner Kuratoren auf den Leim, die gerade einen vermeintlich politisch korrekten, dabei jedoch unerträglich banalen und peinlich epigonalen Ethnokitsch propagieren.

Hat sich die Nachkriegsgeneration grundsätzlich distanzieren wollen?

Eine Generation, die entweder ohne Väter aufwuchs oder sich mit den Verstrickungen der Väter befassen musste, versuchte sich natürlich zu distanzieren.

Sind das die Pole? Die einen, die den harten Bruch versucht haben, sich abgrenzen wollten, und dann die Künstler wie Richter, Polke, Baselitz und Kiefer, die auf sehr unterschiedliche Art und Weise versucht haben, das zu verarbeiten?

Um ihre Vergangenheit zu verarbeiten, begaben sie sich nicht wie die 68er auf die politische Ebene, sondern auf die künstlerische. Und allen vieren, so unterschiedlich sie sein mögen, ist das überzeugend gelungen. Die Genannten sind im baudelaireschen Sinne „Zeitgenossen“, die ihre jeweilige Lebenssituation mit den Zeitläufen assoziierten und dafür spezifische Kunstformen erdachten. Wie Künstler von ihrer Zeit Rechenschaft ablegen, ist für mich ein Qualitätskriterium ersten Ranges.

Das erste Mal, dass Sie von Richter etwas gesehen haben, war in der Galerie Friedrich & Dahlem in München?

Ja, im Mai 1967. „Gerhard Richter: Neue Bilder“, Galerie Friedrich & Dahlem, München, 02. Mai – 04. Juni 1967. In der Ausstellung waren unter anderem folgende Werke ausgestellt: „Spanische Akte“ (1967), „Badende“ (1967), „Große Pyramide“ (1966) und „4 Glasscheiben“ (1967).

Da waren Sie, glaube ich, alles andere als hellauf begeistert und überwältigt. Wann verändert sich das und wodurch?

Die Ausstellung bei Heiner Friedrich hat mich zwar interessiert, aber ich war etwas hilflos. Ich erinnere mich an eine Vielzahl von Aktbildern, an die „Große Pyramide“ sowie an „4 Glasscheiben“ und daran, dass ich mich fragte, was die pornografischen Akte bedeuten, die im Rückblick auf Ingres und Cézannes „Badende“ ebenfalls als „Badende“ kompiliert waren. Die Harmonie von Mensch und Natur, die Giorgione und Tizian so unvergleichlich in die Kunstgeschichte eingeführt hatten und die Cézanne noch einen letzten Versuch wert war, suchte ich in Richters unnatürlichen, schwarz-weißen Aktbildern vergebens. Die „4 Glasscheiben“ ließen mich an Duchamp denken, jedoch wusste ich nichts damit anzufangen.

Wenige Wochen später besuchte ich mit Franz Dahlem Georg Baselitz in Osthofen bei Worms. Da ging es mir ähnlich. Mit großer Geduld führte er mir sein Frühwerk bis zur „Großen Nacht im Eimer“ Georg Baselitz, „Die große Nacht im Eimer“, 1962/63. und seine neuesten Frakturbilder, die 1967 in Osthofen entstanden waren, vor. Zunächst war ich perplex über die Kraft der Malerei, die mir nicht geheuer, ja ungeheuer vorkam. Mir wurde allerdings rasch bewusst, dass jene eindringliche Polarität, die ich zwischen Beuys und Warhol konstatiert hatte, auch zwischen den grundsätzlich anders gelagerten Positionen von Baselitz und Richter existiert. Das war gewiss das Faszinosum, das mich bei beiden von Anfang an bewog, mich intensiver mit ihren polaren Intentionen zu beschäftigen.

Franz Dahlem, so erzählen die Leute, konnte in seiner Art der Vermittlung sehr intensiv sein?

Man kann über die Methoden von Dahlem und Friedrich denken, was man will; dass sie es vermochten, den betagten Karl Ströher für ihre Ideen einzunehmen, war eine kunsthistorische Großtat.

Ich glaube, das bestreitet auch niemand. Interessant sind aber gerade die Methoden. Wie wichtig waren Friedrich und Dahlem als Vermittler?

Wir Kunsthistoriker spielten ja bei der Beurteilung der zeitgenössischen Kunst kaum eine Rolle. Es sind tatsächlich die Händler und die wenigen mutigen Sammler gewesen, die es damals gab. Und dazu zähle ich Ströher mit seinen 78 Jahren, der anfangs Romantiker-Zeichnungen und dann klassische Moderne gesammelt hat und der schließlich durch Friedrich und Dahlem, die beiden „Überzeugungstäter“, umgepolt wurde.

Inwiefern war das anders als wenn man zu Alfred Schmela oder Rudolf Zwirner gegangen ist?

Während Schmela sein untrügliches Qualitätsgespür im Bauch hatte, war Zwirner erfolgreicher Berater des Sammlerehepaars Peter und Irene Ludwig. Friedrich war von Haus aus vermögend und ehelichte zudem eine betuchte De-Menil-Schlumberger-Erbin aus Houston, wohingegen Dahlem als ein mit allen Wassern gewaschener Bierbrauerlehrling aus Weihenstephan antrat.

War Dahlem dadurch authentischer?

Sie waren alle authentisch, jeder auf seine Art. Ich habe einiges bei Friedrich und Dahlem gekauft. Etwa Konvolute früher Zeichnungen von Walter De Maria und Fred Sandback beziehungsweise Einzelblätter von Dan Flavin oder eine Tuschearbeit, die Baselitz 1959 gezeichnet hatte.

Friedrich und Dahlem haben auch konzeptionell Weichen gestellt, das heißt, durch den Aufwand, den sie betrieben haben, um so etwas wie den „Earth Room“ „Walter De Maria: Dirt Show/The Land Show: Pure Dirt, Pure Earth, Pure Land“, Galerie Heiner Friedrich, München, 28. September – 10. Oktober 1968. Für die Ausstellung füllte Walter De Maria die Räume der Galerie mit 50 Kubikmeter Erde an. Seit 1977 zeigt die Dia Art Foundation die Arbeit unter dem Titel „Earth Room“ in New York, 141 Wooster Street. realisieren zu können. In diesem Zusammenhang sollte auch der Berliner Galerist René Block erwähnt werden. Er hat in Berlin 1964 erste Aktionen von Beuys und Vostell und im Mai 1966 die erste Einzelausstellung von Sigmar Polke realisiert.

Sie kamen im Sommer 1966 an das Hessische Landesmuseum in Darmstadt. In Frankfurt gab es damals den Galeristen Rochus Kowallek und auch einige Künstler des ZERO-Umfelds, darunter zum Beispiel Hermann Goepfert. Das haben Sie gar nicht verfolgt?

In der Tat.

Wie haben Sie sich informiert? Sind Sie viel in Berlin und im Rheinland gewesen?

Für mich waren die Erfahrungen, die ich mit Karl Ströher und seiner Sammeltätigkeit machen konnte, aber auch Kontakte zu den Künstlern, die nach Darmstadt kamen oder die ich 1968 in New York aufgesucht habe, entscheidend. Dank der Vermittlung von Leo Castelli und Sidney Janis lernte ich in New York Jasper Johns, Warhol, Lichtenstein, Segal und Oldenburg sowie Stella, Rosenquist und Wesselmann kennen.

Franz Erhard Walther Franz Erhard Walther (* 1939 Fulda) studierte ab 1957 zunächst an der Werkkunstschule in Offenbach sowie an der Städelschule in Frankfurt am Main, bevor er 1962 für zwei Jahre in die Klasse von K.O. Götz an die Kunstakademie Düsseldorf wechselte. Von 1967 bis 1973 lebte Walther in New York, wo er 1969 seinen „1. Werksatz“ im Museum of Modern Art zeigte. 1971 übernahm er eine Professur an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, die er bis 2005 innehatte. Mit seinem Werk war Walther an der documenta 5 (1972), 6 (1977), 7 (1982) und 8 (1987) beteiligt und wurde 2017 mit dem Goldenen Löwen auf der Biennale von Venedig ausgezeichnet. haben Sie auch über Ströher kennengelernt?

Ja, außer Palermo, Gerhard Richter und Walter De Maria habe ich in Darmstadt auch Franz Erhard Walther getroffen. Es war ein Glücksfall, dass ich den Kontakt zu den erwähnten Künstlern auch nach meinem Weggang aus Darmstadt halten konnte. Nachdem ich 1971 Gründungsdirektor der Kunsthalle Tübingen geworden war, stellte Franz Erhard Walther 1972 in Tübingen erstmals sein Frühwerk zusammen mit dem „1. Werksatz“ vor, hat George Segal eine große Retrospektive inszeniert, hatte 1973 Joseph Kosuth seine Deutschlandpremiere, verwirklichte 1975 Oldenburg die erste umfassende Ausstellung seines zeichnerischen Œuvres und eröffnete Beuys seine Tübinger Ausstellungsvorhaben.

Minimal Art und Concept-Art waren in Deutschland sozusagen Importe. Franz Erhard Walther ist bereits 1967 nach New York gegangen …

Ich habe ihn dort besucht. Er hatte eine Konditorlehre gemacht und mir zum Empfang eine wunderbare Buttercremetorte gebacken.

Er hat aber auch seinen „1. Werksatz“ dort gemacht. Haben Sie das Werk von Franz Erhard Walther damals im Kontext der deutschen Kunst gesehen?

Eigentlich nicht, vielmehr als grundlegenden Neuansatz. Dass jemand eine ganz andere Idee hat, sich völlig abwendet von klassischen Medien und Gattungen und von Kopf bis Fuß anderes beabsichtigt, das fand ich großartig.

Sehen Sie das heute immer noch so?

Ich denke schon, trotz gewisser Relativierungen, was das Arrangement seiner farbigen Objekte angeht, die mir zu tonangebend erscheinen.

Wenn man dem „1. Werksatz“ heute im Museum begegnet, ist er entweder in der Lagerform oder als fotografisches Dokument ausgestellt. Das ist alles sehr ästhetisch, sehr präzise, wunderschön! Das Konzept, die Theorie, die dahintersteht, sind überbordend, und die Sprache dazu ist ein eigenes Kunstwerk. Das „Werk als Handlung“ bleibt aber Theorie oder wird als Vorführung mit der Benutzung von eigens angefertigten Exhibition Copies anschaulich gemacht. Aus restauratorischer Sicht ist diese Handhabung mehr als nachvollziehbar, aus künstlerischer Sicht sehe ich da eine gewisse Inkonsequenz. Die „Benutzung“, einer der zentralen Aspekte des Werkkonzepts, bleibt gewissermaßen theoretisch. Das sind einmalige Handlungen, die der Künstler mit Freunden und Bekannten ausführt und dokumentiert. Aber gehört zum Konzept der Arbeit nicht auch, dass es wirklich etwas mit dem Leben zu tun hat? Mit der physischen Erfahrung in Raum und Zeit als Kunsterfahrung?

Diese Erfahrungen boten die Aktionen mit dem Publikum 1972 in der Kunsthalle Tübingen. „Franz Erhard Walther. Arbeiten 1955–1969“, Kunsthalle Tübingen, 11. Mai – 09. Juli 1972. Anlässlich der Ausstellung erschien: Götz Adriani (Hg.), „Franz Erhard Walther. Werkmonographie. Arbeiten 1955–1963. Material zum 1. Werksatz 1963–1969“, Köln 1972. Walthers „1. Werksatz“ ist in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ein Solitär. Da gibt es nichts Vergleichbares. Mich hat damals die Frage beschäftigt, wie es dazu gekommen ist. Was war vor dem „1. Werksatz“? Kasper König hat vor meiner „Werkmonographie“ die Publikation „Objekte, benutzen“ Kasper König (Hg.), „Franz Erhard Walther. Objekte, benutzen“, Köln/New York 1968. herausgegeben. Die beiden Veröffentlichungen verhalfen Walther zum Durchbruch.

Franz Erhard Walther war mit Polke, Lueg und Richter an der Kunstakademie Düsseldorf in einer Klasse. Und offenbar hat er es mit seinen konzeptuellen Klebearbeiten und Stapelungen neben seinen Kommilitonen nicht immer leicht gehabt. Vgl. Franz Erhard Walther. Er blieb gewissermaßen ein Einzelgänger, während sich in Düsseldorf an der Akademie, aber auch in Berlin Gruppierungen bildeten. Das waren die Künstler in Großgörschen Unter dem Namen „Großgörschen 35“ schlossen sich 1964 in Berlin-Schöneberg 14 Maler, darunter Markus Lüpertz, K.H. Hödicke, Lambert Maria Wintersberger und Arnulf Spengler zu einer Ausstellungsgemeinschaft zusammen. In einer leer stehenden Fabriketage in der Großgörschenstraße 35 mieteten sie Räumlichkeiten an, um regelmäßige Einzel- und Gruppenausstellungen zu realisieren. Die Künstlergemeinschaft bestand in wechselnden Zusammensetzungen bis 1968. oder Polke, Lueg und Richter mit selbst organisierten Ausstellungen, das Netzwerk der ZERO-Künstler oder die Schüler der Beuys-Klasse. War es damals notwendig, sich zu gruppieren, um überhaupt eine Position zu bilden? Michael Werner hat es dann in seiner Galerie mit den Künstlern Baselitz, Lüpertz, Penck, Immendorff und Kirkeby weitergeführt.

Was die Gruppenbildung angeht, war der Berliner und später Kölner Galerist Michael Werner einsame Spitze. Als kluger Stratege bestimmte er, wer Künstler ist, wer über die Künstler schreibt, wer die Künstler ausstellt und wer mit ihren Werken beliefert wird.

Das hätten sich andere zum Vorbild machen können. Werner war, wie er selbst sagt, mit seinem Programm im Rheinland nicht gerade beliebt.

Vielleicht weil er Georg Baselitz, einer radikalen, zum Äußersten entschlossenen Künstlerpersönlichkeit, schon 1963 zu jener ersten Einzelausstellung verholfen hat, die mit Gemälden wie „Der nackte Mann“ oder „Die große Nacht im Eimer“ in West-Berlin einen ausgewachsenen Skandal verursacht hat. Im Oktober 1963 eröffnete die Galerie Werner & Katz in Berlin mit einer Baselitz-Ausstellung. Die Schau umfasste 52 Bilder, darunter die Werke „A. A.“, „P. D. Stengel“, „Erste Semmel“, „Nackter Mann“ und „Die große Nacht im Eimer“. Am 09. Oktober 1963 wurden die beiden letztgenannten Bilder wegen des Vorwurfs der „Unsittlichkeit“ von der Berliner Staatsanwaltschaft beschlagnahmt. Vgl. o. A., „Baselitz-Prozess – Klage und Qual“, in: „Der Spiegel“, Nr. 26, 24.06.1964, S. 82–84.

Mit dem ersten Kunstmarkt 1967 Auf Bestreben der Galeristen Hein Stünke und Rudolf Zwirner fand der erste Kölner Kunstmarkt mit 18 teilnehmenden Galerien vom 13. bis 17. September 1967 in den Räumen der historischen Festhalle Gürzenich statt. wuchs auch die Galeriendichte im Rheinland.

Köln war im Bereich der Musik und des Films bereits in den 1950er-Jahren führend und hatte das Glück, in Kurt Hackenberg Kurt Hackenberg (1914 Barmen – 1981 Köln) war von 1955 bis 1979 Kulturdezernent der Stadt Köln und setzte sich unter anderem für den Bau des Römisch-Germanischen Nationalmuseums, den Bau der Stadtbibliothek mit Heinrich-Böll-Archiv, die Gründung des ersten Kunstmarkts für zeitgenössische Kunst (später Art Cologne) sowie Planung und Bau des Komplexes Museum Ludwig/Philharmonie ein. Während seiner Amtszeit wurde 1968 die Pop-Art-Sammlung von Peter und Irene Ludwig an das Wallraf-Richartz-Museum in Köln übergeben. einen Kulturdezernenten von Rang zu haben. Als Politiker war Hackenberg ein geschickter Förderer der bildenden Künste, der in Köln 1967 den ersten Kunstmarkt ins Leben rief, der 1968 das Galeriehaus Auf Bestreben der Brüder Christoph und Andreas Vowinckel wurde das Galeriehaus Köln 1968 in der Lindenstraße 18–22 eröffnet. Zur ersten Generation der dort ansässigen Galerien zählen: Galerie Heiner Friedrich, Galerie Hans-Jürgen Müller, Galerie Neuendorf, Onnasch Galerie, Galerie Rolf Ricke, Galerie M. E. Thelen, und Galerie Dieter Wilbrand. etablierte und im gleichen Jahr Peter Ludwig überzeugte, seine Sammlung dem Wallraf-Richartz-Museum zu übergeben. Ludwig, der als Kunsthistoriker über Picasso promoviert wurde, war ein erfolgreicher Unternehmer und ein grandioser Sammler. Er war ein allumfassender Gourmet und Gourmand in Sachen Kunst und achtete auf Qualität und Fülle. Ein profundes Wissen und Interessen von der Antike über mittelalterliche Handschriften, außereuropäische Kulturen und barockes Kunstgewerbe bis zur Pop-Art und anderen aktuellen Tendenzen in der Kunst zeichneten ihn aus. Im Gegensatz zu Karl Ströher, der ein eher pietistisch nachrechnender Typ war, hatte Peter Ludwig ein geradezu barockes Naturell. Ich konnte gut mit ihm. Jedes Mal, wenn ich bei ihm zu Hause in Aachen zu Gast war, kam er nach dem Mittag- oder Abendessen mit einer großen Tüte Trumpf-Schokolade aus der eigenen Produktion, die er mir überreichte, weil er wusste, dass ich jede Art von Süßigkeiten goutiere.

Galerist wurde man damals nicht mit der Idee, das große Geld zu verdienen.

Sagen wir es so, es ging nicht nur ums Geld, es schwang auch etwas Sendungsbewusstsein mit.

Wann veränderte sich das? Wann wurde es zum Wettbewerb?

Mit dem Anwachsen der Galerienszene in Köln und Düsseldorf entstand auch ein gewisses Konkurrenzdenken. So hatte etwa Heiner Friedrich das Pech, dass er beim ersten Kölner Kunstmarkt nicht zugelassen wurde. Er machte dann im DuMont-Haus seine eigene Ausstellung mit Richter, Palermo, Polke, Twombly und anderen. „Demonstrative 1967“, 12.–19. September 1967, Breite Str. 70 (DuMont-Haus) in Köln. Die beteiligten Künstler waren John Hoyland, Konrad Lueg, Blinky Palermo, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Reiner Ruthenbeck und Cy Twombly. Es wird nirgends so viel über Umsätze, Preise, Summen, Bilanzen, Werte, Coups und Volltreffer gelogen wie auf Kunstmärkten und Messen.

Die amerikanische Kunst wurde von den deutschen Händlern importiert, umgekehrt ist relativ wenig in die USA exportiert worden.

Zunächst so gut wie nichts.

Woran lag das?

Das lag daran, dass Alfred Barr Alfred H. Barr (1902 Detroit – 1981 Salisburg, Connecticut) war der Gründungsdirektor des Museum of Modern Art, New York, das er 1929 mit der Ausstellung „Cézanne, Gauguin, Seurat, van Gogh“ eröffnete. Von 1929 bis 1940 leitete der an der Harvard University ausgebildete Kunsthistoriker das Museum und organisierte unter anderem die Ausstellungen „Cubism and Abstract Art“ (1936), „Fantastic Art, Dada, Surrealism“ (1936/37) und „Bauhaus. 1919–1928“ (1938/39). Zu seinen Publikationen zählen das Überblickswerk „Cubism and Abstract Art. Painting, Sculpture, Constructions, Photography, Architecture, Industrial Art, Theatre, Films, Posters, Typography“(1936) und „Picasso. Fifty Years of His Art“ (1946). , der Gründungsdirektor des Museum of Modern Art in New York, frankophil war, dass er sich vornehmlich an französischer Kunst interessiert zeigte und dass sich die amerikanische Kunst- und Sammlerszene vom Kanon des MoMA beeinflussen ließ. Barrs MoMA war die geschmackbildende Instanz in den USA schlechthin.

Zur Prägung dieser einflussreichsten Museumskapazität eine Episode am Rande: Im Hinblick auf die MoMA-Gründung 1929 besuchte Barr auch deutsche Museen. In Stuttgart wohnte er in einer preisgünstigen Pension in der Reinsburgstraße und fand im Frühstücksraum über dem Sofa ein merkwürdiges Stillleben mit Totenkopf und Kerze. Er erkundigte sich bei der Pensionswirtin nach dem Künstler, und sie sagte ihm, dass es ein früher Cézanne sei. Außerdem erfuhr er von der Eigentümerin, dass ihr Vater Heinrich Morstatt ein Apothekersohn aus Cannstatt war, der eigentlich Musiker werden wollte, aber zunächst von 1864 bis Ende 1866 eine Kaufmannslehre in Marseille absolvieren musste. Bei dieser Gelegenheit freundete sich Morstatt im nahe gelegenen Aix-en-Provence mit dem jungen Cézanne, mit Zola und deren Weggefährten an. In Aix war Morstatt auch deshalb ein gern gesehener Gast, weil er die Freunde über die Literatur- und Musikszene in Deutschland, insbesondere über Richard Wagner, informieren konnte. Als er dann nach Cannstatt zurückgekehrt war, schickte ihm Cézanne als Abschiedsgeschenk das mächtige Vanitas-Stillleben. Barr war von der Geschichte derart beeindruckt, dass er den Briefwechsel zwischen den Aixer Freunden und dem Cannstatter Apothekersohn, der von August 1865 bis Herbst 1868 aufschlussreiche Einblicke in die Frühzeit Cézannes gibt und später in meinen Besitz gelangte, 1937 in der „Gazette des beaux-arts“ veröffentlichte.

Trotz seiner ausgiebigen Deutschlandtour konnte sich Alfred Barr mit der deutschen Moderne, die bald darauf als entartet verfolgt wurde, nie anfreunden.

Wobei in den USA ja gerade auch die privaten Sammler und Mäzene eine wichtige Rolle spielen.

Ja, aber damals noch nicht in dem Maße wie heute. Es gab kaum zeitgenössische Sammlungen. Was wir heute als selbstverständlich erachten, gab es nicht.

In einem Gespräch, das Sie mit Herrn Froehlich geführt haben, sagt er, Sie hätten ihm von den Wilden abgeraten. Ich gehe davon aus, gemeint sind die 80er-Jahre-Maler, die Mülheimer Freiheit zum Beispiel?

Die nicht mehr ganz so Jungen Wilden reichten für mich bei Weitem nicht an die malerischen Qualitäten des „alten Wilden“ Georg Baselitz heran.

Sie haben einen einzigen Künstler aus dieser Zeit ausgestellt: Martin Kippenberger. „Martin Kippenberger. Das zeichnerische Werk“, 15. April – 22. Juni 2003, Kunsthalle Tübingen.

Kippenberger steht eher Polke nahe, das hat mich für ihn eingenommen.

Die sogenannten „Jungen Wilden“ werden immer wieder als Marktphänomen beschrieben. War das eine Zeit, in der Bilder gebraucht wurden?

Wahrscheinlich war es der Drang weg von der Kopflastigkeit der Concept-Art und Minimal Art hin zur Malerei.

In den 70er-Jahren gewann die Medienkunst in Deutschland an Bedeutung. War das ein neuer Einschnitt in die Kunst?

Ich würde eher von neuen Aspekten sprechen, die Film und Video in die bildnerischen Bereiche miteinbezogen. Da wäre Gerry Schum Gerry Schum (eigtl. Gerhard Alexander Schum; 1938 Köln – 1973 Düsseldorf) war ein Filmemacher und Galerist, der ab 1964 Kunstdokumentationen für den Westdeutschen Rundfunk produzierte. 1967 initiierte er das Fernsehformat „Fernsehgalerie“, für das er die international beachteten Beiträge „Land Art“ (1969) und „Identifications“ (1970) produzierte. 1971 eröffnete er die Videogalerie Schum in Düsseldorf. Es war die erste Galerie, die sich auf die Produktion und Distribution künstlerischer Videoeditionen konzentrierte. Schum arbeitete unter anderen mit Joseph Beuys, Daniel Buren, Jan Dibbets, Klaus Rinke, Ulrike Rosenbach und Lawrence Weiner. zu nennen, der als Galerist und als Produzent einer der Pioniere auf diesem Gebiet war. Zuerst beeindruckten mich die Videos von Richard Serra, die mit seiner radikalen künstlerischen Haltung zu tun hatten und nicht so aufgesetzt und illustrativ wirkten wie manche anderen Produkte der angehenden Medienkünstler, die mich mitunter ziemlich langweilten.

Sie haben 1972 Klaus Rinke ausgestellt. „Klaus Rinke. Der Versuch meine Arbeiten zu erklären“, Kunsthalle Tübingen, 11. November – 10. Dezember 1972.

Und 1973 Ulrich Rückriem „Ulrich Rückriem. Skulpturen“, Kunsthalle Tübingen, 09. Juni – 01. Juli 1973. sowie 1974 Richard Hamilton „Richard Hamilton“, Kunsthalle Tübingen, 11. Mai – 30. Juni 1974. , dessen epochale Pop-Collage „Just what is it that makes today’s homes so different, so appealing?“ (1956) ich im selben Jahr für die der Kunsthalle zugeordnete Sammlung Georg Zundel erwerben konnte.

Warum haben Sie zum Beispiel Ulrike Rosenbach nie ausgestellt?

Es fand sich keine Gelegenheit.

Ich habe unter Ihren Ausstellungen auch sonst keine Frau gefunden. Kann das sein? Doch, Frau Becher haben Sie zusammen mit ihrem Mann gezeigt. „Bernd und Hilla Becher. Fotografien 1957–1975“, Kunsthalle Tübingen, 09. Januar – 08. Februar 1976.

Von Agnes Martin hatten wir 1974 eine Grafikausstellung mit Zeichnungen. „Agnes Martin“, Kunsthalle Tübingen, 12. Januar – 24. Februar 1974. Und 1980 verwirklichte ich eine große Retrospektive zu Hannah Höch. „Hannah Höch. Fotomontagen, Gemälde, Aquarelle 1907–1970“, Kunsthalle Tübingen, 23. Februar – 04. Mai 1980. Schließlich fanden unter meiner Ägide Einzelausstellungen zu Cornelia Schleime, zu Karin Kneffel und Birgit Brenner statt. „Cornelia Schleime. Blind Date“, Kunsthalle Tübingen, 07. Juni – 07. September 2008; „Karin Kneffel. 1990–2010“, Kunsthalle Tübingen, 01. Mai – 11. Juli 2010; „Birgit Brenner. Für immer und ewig“, Kunsthalle Tübingen, 29. Juni – 25. August 2013. Dass ich Ihrer Meinung nach zu wenige Künstlerinnen ausstellte, hat jedoch nichts mit einer Künstlerinnen-Aversion zu tun.

Womit hat es zu tun?

Das sind Zufälle. Manchmal ergeben sich Kontakte zu jemandem, und dann entsteht etwas daraus, oder es kommt nicht dazu.

Sie waren von 1971 bis 2005 Direktor der Kunsthalle Tübingen und sind bis heute Vorstandsvorsitzender der Stiftung. Hat nie jemand nachgefragt? Wenn Sie sagen, das sind Zufälle, heißt das, …

… dass ich Prioritäten setzte, die manche der Künstlerinnen, denen Sie den Vorzug gegeben hätten, nicht berücksichtigten. Ein geschlechtergerechtes Ausstellungsprogramm war nie mein Ziel.

Es geht weder um Geschlechtergerechitgkeit noch um die Quote, sondern um die Frage, wie es zu solchen „Zufällen“, wie Sie es nennen, kommt. Denn dadurch wird das gesamte Geschichtsbild geprägt. In den USA beispielsweise war die Situation damals eine ganz andere.

Ich habe in Tübingen nur Projekte verwirklichen können, denen andere keine oder noch keine Beachtung schenkten, und Künstlerinnen wurden gerade in den 1970er-Jahren allerorten durch Ausstellungen gefördert. Ich musste mich quasi auf die Seitenwege des Vernachlässigten und Übersehenen begeben, um weitab von den Metropolen überhaupt reüssieren zu können. Nachdem ich mich von 1972 bis 1977 für Walther, Segal, Rinke und Rückriem, für Kosuth, Hamilton, Oldenburg, Polke und Roehr entschieden hatte, und Richard Serra 1978 seine erste, retrospektive Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen inszeniert hatte, wurde mir bewusst, dass es in Deutschland noch nie eine Ingres- oder Delacroix-Ausstellung, noch nie eine Degas-, eine Renoir- oder eine Henri-Rousseau-Ausstellung gegeben hat. Auch gab es bislang keinen Ausstellungszyklus, der sich ausführlich mit den Zeichnungen, mit den Aquarellen und den Gemälden Cézannes befasste. Da sich offensichtlich keiner meiner Kolleginnen und Kollegen an den großen Häusern dafür erwärmen konnte, nutze ich diese Freiräume.

Gerhard Richter haben Sie nie gezeigt?

Bis auf eine Ausstellung seiner Editionen. Im Hinblick auf Richter- oder Baselitz-Retrospektiven waren andere längst vor mir dran, das wäre nicht gegangen.

Kiefer haben Sie erst spät gezeigt?

Im Gegenteil, relativ früh habe ich 1990 die erste umfassende Ausstellung seiner Bücher durchgeführt und deren Werkverzeichnis herausgegeben. „Anselm Kiefer. Bücher 1969–1990“, Kunsthalle Tübingen, 29. September – 18. November 1990. Anlässlich der Ausstellung erschien die Publikation „Anselm Kiefer. Bücher 1969–1990“, hg. von Götz Adriani, Ausst.-Kat. u. a. Kunsthalle Tübingen, Stuttgart 1990, S. 8–19. Und in Bezug auf Polke war die von mir initiierte Tübinger Präsentation 1976 seine erste Retrospektive überhaupt. „Sigmar Polke. Bilder, Tücher, Objekte. Werkauswahl 1962–1971“, Kunsthalle Tübingen, 14. Februar – 14. März 1976/Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 02. April – 16. Mai 1976/Stedelijk Van Abbemuseum, Eindhoven, 25. Juni – 25. Juli 1976.

Ab wann haben Sie Polke wahrgenommen?

Das war in den späten 1960er-Jahren. Polke hatte 1973 zusammen mit Achim Duchow in Münster seine erste Museumsausstellung „Original und Fälschung“ „Original und Fälschung“, Westfälischer Kunstverein, Münster, 1973. , die der Sammler Hans Grothe dann en bloc gekauft hat. Beeindruckt von dieser Präsentation der neuesten Arbeiten schlug ich Polke vor, in der Kunsthalle Tübingen eine Retrospektive mit Werken des vergangenen Jahrzehnts einzurichten. Angetan von meiner Idee sagte er umgehend zu und lud mich zu sich ein in jenes ehemalige Bauerngehöft auf dem Lande bei Willich, das er seit 1972 mit seiner Entourage bewohnte.

Der Gaspelshof Zwischen 1972 und 1978 lebte und arbeitete Sigmar Polke (1941 Oels – 2010 Köln) gemeinsam mit Freunden und Bekannten, darunter seine damalige Lebensgefährtin Katharina Steffen und seinen Studenten Achim Duchow und Astrid Heibach, auf dem Gaspelshof in Willich am Niederrhein. Neben der künstlerischen Arbeit experimentierten die Hofbewohner auch mit Drogen. Während der Zeit auf dem Gaspelshof entstanden unter anderem die Werke „Die Fahrt auf der Unendlichkeitsacht, I–IV“ (1969–1971), „Wir Kleinbürger! Zeitgenossen und Zeitgenossinnen“ (1972–1976) und „Can you always believe your eyes“ (1976). .

Richtig. Bei verschiedenen, meist nächtlichen Treffen im Gaspelshof vereinbarten wir den Umfang des Tübinger Projekts, die Folgestationen und den Zeitpunkt des Ausstellungsbeginns. Auf Empfehlung von Rudolf Zwirner traf ich mich in Köln mit dessen ehemaligem Mitarbeiter Benjamin Buchloh Benjamin H. D. Buchloh (* 1941 Köln) ist ein Kunsttheoretiker und seit 1990 Mitherausgeber des kunstkritischen Fachmagazins „October“. Anfang der 70er-Jahre war er Assistent in der Galerie Rudolf Zwirner in Köln und gab die Kunstzeitschrift „Interfunktionen“ heraus. Buchloh lehrte von 1989 bis 1994 als außerordentlicher Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge und war Direktor des Programms für kritische und kuratorische Studien (Whitney Independent Study Programme) des Whitney Museum of American Art in New York (1991–1994). 2005 wurde er an die Harvard University, Cambridge, berufen. Buchloh ist Mitherausgeber des kunsttheoretischen Überblickswerks „Art Since 1900. Modernism, Antimodernism, Postmodernism“ und veröffentlichte unter anderem „Formalism and Historicity. Essays on Models and Methods in Twentieth Century Art“ (1999) und „Neo-Avantgarde and Culture Industry. Collected Essays on European and American Art 1945–1975“ (2002). 2007 erhielt er den erstmals für ein herausragendes kunsthistorisches Werk vergebenen Goldenen Löwen der Biennale von Venedig. Buchloh gilt als enger Weggefährte Gerhard Richters. und bat ihn um die Erstellung des Katalogs für die geplante Tournee. Richtigstellen möchte ich allerdings, dass Polke und ich Buchloh zwar mit dem Katalog betrauten, nicht jedoch mit der Bildauswahl und Präsentation der Ausstellung. Diesbezüglich berichtetet Polke am 26. Februar 1976 an die Folgestation nach Eindhoven, dass er sich in Tübingen etwas zurückgehalten habe und sowohl bei der Konzeption der Ausstellung als auch bei deren Durchführung meine Erfahrung respektiert habe. Nicht unerwähnt soll auch der Eklat bleiben, zu dem es nach der Eröffnung der Ausstellung in Tübingen kam. Sinnigerweise waren Polke und seine Entourage im Christlichen Hospiz untergebracht, einem Hotel in der Innenstadt, das dem berühmten Tübinger Stift benachbart ist, wo die evangelischen Theologen ausgebildet werden und wo einst Hegel, Hölderlin und Schelling als Studenten in einer Stube zusammenwohnten und revolutionäre Pläne schmiedeten. Just an diesem löblichen Ort ließ Polke des nachts aus den geöffneten Hotelfenstern mit Lautsprechern Nazilieder über die Stadt erschallen, um der ehrbaren Bürgerschaft den Schlaf zu rauben.

Und das fanden Sie damals witzig?

Ich fand diese verstörende Demonstration richtig, weil Tübingen partout nicht an seine dunkelbraune Vergangenheit erinnert werden wollte.

Diese Geschichten des Ausharrens vor Polkes Atelier, die schwierige Persönlichkeit …

Das habe ich nie erlebt.

Zum Bruch mit Buchloh kam es nach der Ausstellung in Düsseldorf …

Das Verhältnis zwischen Polke und Buchloh war nie sehr eng. Polke bestand darauf, die drei Ausstellungsstationen in Tübingen, Düsseldorf und Eindhoven verschieden auszurichten. Während er in Tübingen alles aufbot, was an Bildern, Tüchern und Objekten erreichbar war und in geradezu barocker Manier an die Wände brachte, hat er sich in Düsseldorf auf drastische Weise dem Publikum entzogen und seine Kunst verweigert.

„Kunst macht frei“ Für die Station in Düsseldorf entschied Polke, den großen Ausstellungsraum mit einem Gatter zu versperren, das die Aufschrift „Kunst macht frei“ trug, und die großformatigen Gemälde als Transportgut verpackt an die Wände zu stellen oder auf dem Boden zu stapeln. Vgl. „Um 1976. Ein Interview mit Benjamin H. D. Buchloh“, in: „Alibis: Sigmar Polke 1963–2010“, hg. von Kathy Halbreich u. a., Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln/The Museum of Modern Art, New York, München 2015, S. 202–211, hier S. 210 f. … Offenbar war Polke eine sehr komplexe Persönlichkeit?

Er war gewiss launisch, aber er konnte genauso hilfsbereit und entgegenkommend sein. Als ich das erste Mal zu seinem Kölner Atelier gefahren bin, hatte ich Schwierigkeiten, es zu finden, und bin ewig herumgekarrt. Da stand er gleich mit einer Gouache parat, die mit dem Vermerk versehen war „zur Erinnerung an den Weierstrasser Weg“. Auch konnte er enorm witzig, humorvoll und bis zum Sarkasmus ironisch sein, was sich deutlich auch in seiner Kunst niederschlägt.

Sehen Sie den unmittelbaren Einfluss des Experimentierens mit Drogen oder anderen bewusstseinsverändernden Mitteln auf die Kunst?

Nicht zu übersehen ist dieser Einfluss zuerst in den vier monumentalen Wandarbeiten „Die Fahrt auf der Unendlichkeitsacht, I–IV“, die 1969 bis 1971 entstanden sind und von denen Polke als Dank für meine Initiative der Kunsthalle Tübingen die beiden schönsten zu einem Freundschaftspreis überließ. Anfang der 1970er-Jahre tentierten er und sein Team in diese psychedelische Richtung. Im Gaspelshof, seinem skurrilen Treffpunkt, lebte Polke alles aus, was mit dieser psychedelischen Seite zu tun hatte. Damals hat sich in seiner Kunst, in seiner Lebensweise und in seinem Umfeld auch einiges geändert, was Gerhard Richter veranlasste, die freundschaftlichen Kontakte zu Polke abzubrechen.

Wer bei Ihnen auch kaum auftaucht, sind die ZERO-Künstler.

Eine gewiss wichtige Bewegung mit internationaler Orientierung, zu der ich jedoch keinen Zugang fand. ZERO blieb mir ähnlich fremd wie die Op-Art.

Wobei das durchaus eine europäische Kunstbewegung war, die international rezipiert worden ist. Das, was die ZERO-Künstler, vor allen Dingen Mack und Piene, in ihren ersten Texten beschreiben, ist doch eine theoretische Überlegung zur Kunst, die nach 1945 durchaus Bedeutung hat. Konnte man das einfach ausblenden?

Ich habe es für mich ausgeblendet, mit Ausnahme von Piero Manzoni, der ZERO nahestand und dessen früheste deutsche Präsentation 1974 in München und Tübingen stattfand. „Piero Manzoni 1933–1963“, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 17. Oktober – 18. November 1973/Kunsthalle Tübingen, 12. Januar – 24. Februar 1974. Die Theorie der ZERO-Künstler ist durchaus stimmig, aber die Umsetzung war mir mitunter zu dekorativ.

Wen gab es neben Beuys? Und nach Beuys?

Neben und nach Beuys gab es in Düsseldorf Richter und Polke, in Berlin und Osthofen Baselitz und später Kiefer in Karlsruhe. Das heißt, es gab jene Künstlerpersönlichkeiten, die in den 1960er-Jahren die Voraussetzungen schufen für das weltweite Renommee, das die deutsche Kunst durch ihre Erfolge erlangen sollte.

Sie sagen, Sie wollten sich mit Ihren Zeitgenossen beschäftigen, mit der Gegenwartskunst. Das haben Sie auch gemacht. Wenn wir uns heute retrospektiv mit diesen Dingen beschäftigen, ist die Person, vielleicht auch die Sympathie, nicht so entscheidend. War man damals so nah an der Kunstszene und an den Leuten, dass die Biografie entschieden mit dem Werk zusammenhing?

Wenn man sich mit seinen Zeitgenossen befasst, steht nicht nur die distanzierte Analyse des Kunsthistorikers im Vordergrund, sondern auch ein gewichtiger emotionaler Aspekt. Schaue ich heute auf die künstlerischen Erzeugnisse, die gerade en vogue sind, dann ist mein Eindruck auch deshalb weniger emotional, weil es nicht mehr die von mir erlebten Künstler betrifft. Mich irritieren Kollegen und Kolleginnen, die immer jung und am Ball bleiben möchten und stets auf das Neueste erpicht sind. Letztendlich kann man nur die eigene Generation mit allen Emotionen, aber auch mit aller Distanz und allem historischen Wissen gerecht beurteilen. Ihre Sicht auf die Künstler meiner Generation ist zwangsläufig eine andere als meine Sicht auf die Künstler Ihrer Generation, deren Forderungen und Ziele ich durchaus nachvollziehen kann, die ich jedoch emotional gesehen nur eingeschränkt zu meinen eigenen machen möchte. Beeindruckt von dem einen oder anderen Künstler, mit dem ich befreundet war, bewertete ich gewiss manches falsch, aber es gab stets diesen starken emotionalen Gesichtspunkt, der mir bei der Beurteilung von junger Kunst heute fehlt.

Tübingen ist – wie auch Darmstadt – nicht gerade Weltmetropole. Sie haben dennoch das Weltkunstpublikum zu Gast gehabt. Für wen haben Sie die Arbeit in Tübingen gemacht? In der Kunst und Kultur arbeitet man nicht nur für sich, sondern hat eine – dieser Begriff ist abgenutzt, aber zutreffend – Zielgruppe vor Augen.

Da würde ich widersprechen. Zumindest was mich angeht. Ich habe mich deshalb für Tübingen entschieden, weil mir völlige Freiheit zugesagt worden war. Und diese Zusage wurde auch in der langen Zeit, in der ich hier war, eingehalten. Die Freiheit der subjektiven Entscheidung ist das höchste Gut, das man – nicht nur im Berufsleben – erreichen kann. Sie ist aber auch die äußerste Verpflichtung, der man sich zu stellen hat. Ich erhielt Angebote für Direktorenposten in Essen, Köln, Frankfurt, Stuttgart und München, ich bevorzugte jedoch Tübingen, weil mir dieser Freiraum wichtig war und weil ich mich nicht mit Verwaltungsaufgaben, Personalführung und Sponsorenakquise belasten wollte. Ich verwirklichte vorwiegend Projekte, die mich inspiriert und animiert haben und fragte weniger danach, wen ich damit ansprechen will. Ich wollte etwas machen, das noch nicht gemacht worden war und ich wollte, zusammen mit einer engagierten Mitarbeiterin und einem Hausmeister, etwas machen, das in einer kleinen Stadt wie Tübingen, die keinerlei Tradition auf diesem Gebiet hatte, die Besucher veranlasste, in die Kunsthalle zu kommen.

Vor allen Dingen Ihre Ausstellungen der Moderne waren sehr erfolgreich.

Vielleicht hat das mit dem Anspruch zu tun, den ich an mich und meine beiden Mitarbeiter stellte. Beispielsweise hatten wir, um das schwierige Œuvre Cézannes dem Publikum nahezubringen, drei Ausstellungen in Tübingen vorgesehen. Es begann 1978 mit 197 Exponaten, die Cézanne zum ersten Mal ausschließlich als Zeichner vorstellten. 1982 folgte dann eine international bestückte Präsentation mit 124 Aquarellen des Künstlers. Und schließlich fanden 97 Gemälde aus aller Welt 1993 den Weg in die Kunsthalle Tübingen. Die Besucherzahlen der Tübinger Cézanne-Trilogie stiegen von zunächst 20.000 bei den Zeichnungen auf 140.000 bei den Aquarellen und bei den Gemälden auf über 430.000. Mit knapp 250.000 verkauften Katalogen während einer Laufzeit von 3 Monaten erzielte die Cézanne-Gemälde-Ausstellung die höchste Katalogauflage, die weltweit jemals erreicht worden ist. Weder New York noch London, Paris oder Berlin konnten diesbezüglich Tübingen das Wasser reichen. Dagegen waren es bei der Polke-Premiere 1976 gerade mal 600 Besucher, die die Kunsthalle in 8 Wochen frequentierten.

Mir kam es hauptsächlich darauf an, ob mir ein Vorhaben zusagt, ob ich dafür geradestehen kann und ob ich das Ausstellungsergebnis gut finde.

Das heißt, Sie sind von sich ausgegangen?

Ja natürlich, von wem denn sonst?

Versucht man an einem Ort wie Tübingen nicht auch lokal zu arbeiten?

Nein, das geht gar nicht, beziehungsweise wollte ich das nie. Eine Institution, die allzu sehr die lokalen Belange berücksichtigt, hat keine Chance, überregionale, ja internationale Geltung zu erlangen. Meine restriktive Haltung in dieser Hinsicht war bekannt und wurde von der Stadt im Wesentlichen akzeptiert. Damit ist Tübingen jahrzehntelang recht gut gefahren. Möge, trotz gegenläufiger Bestrebungen, der Freiraum für die Kunsthalle erhalten bleiben, und möge sie unbehelligt von jeglichen Einflussversuchen ihrem nach wie vor vorhandenen überregionalen Ruf auch weiterhin durch eine stringente Programmgestaltung gerecht werden.

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Götz Adriani